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ADHS sicher diagnostizieren

Mit dem neuartigen psychometrischen Testverfahren kann die Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei 6- bis 12-jährigen Kindern abgesichert werden. Das diagnostische Verfahren kombiniert subjektive Urteile von Eltern und Lehrkräften mit computerbasierten Maßen der Aufmerksamkeit zu einem normierten Gesamtergebnis. Anhand des Gesamtergebnisses wird die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer ADHS ermittelt. Wir haben mit den Autoren Alexandra Lenhard und Wolfgang Lenhard über den ADHS-Test 6-12 gesprochen.

Aufmerksamkeit testen Junge vor Bildschirm ADHS-Test

Was macht die Diagnosestellung einer ADHS so schwierig und auf welche Weise wurden diese Schwierigkeiten bei der Konzeption des neuartigen Testverfahrens berücksichtigt?

ADHS ist ein sehr umfassendes Störungsbild, das Probleme der Kognition, der Motivation und des Verhaltens beinhaltet. Die Problematik muss zudem situationsübergreifend auftreten und hat teilweise auch noch unterschiedliche Erscheinungsbilder bei den betroffenen Kindern. Diese Heterogenität stellt eine Herausforderung für die Diagnostik dar, zumal Eltern und Lehrkräfte die Ausprägung der Symptomatik oft sehr unterschiedlich einschätzen.

Das Verfahren begegnet diesen Schwierigkeiten, indem Informationen aus verschiedenen Informationsquellen zusammengeführt werden. Zudem verlassen wir uns nicht nur auf subjektive Einschätzungen von Eltern und Lehrkräften, sondern beziehen auch am Computer erhobene, objektive Maße der Aufmerksamkeit und Hyperaktivität mit ein.

Der ADHS-Test 6-12 verfügt über eine besondere Auswertungs- und Interpretationsmethode: Anhand eines normierten Gesamtergebnisses wird computergestützt ermittelt, mit welcher Wahrscheinlichkeit beim untersuchten Kind ADHS vorliegt. Worin liegt die Stärke dieser Methode, die ein Alleinstellungsmerkmal des Tests darstellt?

Wie bereits erwähnt, unterscheiden sich die Urteile von Eltern und Lehrkräften hinsichtlich der Symptomatik eines Kindes häufig sehr stark voneinander. Auch die Ergebnisse der computerbasierten Aufmerksamkeitsmaße können von den anderen beiden Urteilen natürlich abweichen. Zwar erheben viele Diagnostikerinnen und Diagnostiker auch bislang schon Daten aus unterschiedlichen Informationsquellen, allerdings haben sie häufig große Schwierigkeiten damit, die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen von ADHS angesichts der großen Heterogenität der Informationsquellen realistisch einzuschätzen. Im ADHS-Test 6-12 nutzen wir diese Heterogenität hingegen mithilfe von Statistik sogar gezielt aus: Dort wo Eltern, Lehrkräfte und der Computertest übereinstimmend Auffälligkeiten zeigen, wird das Gesamturteil nämlich umso belastbarer und aussagekräftiger. Wir verwenden also im Prinzip die diagnostische Voraussetzung der situationsübergreifenden Verhaltensauffälligkeit, um das Risiko präziser einschätzen zu können. Somit können wir die Rate an Fehldiagnosen bedeutsam reduzieren.

Der ADHS-Test 6-12 beinhaltet einen Computertest, mit dem verschiedene Maße der Aufmerksamkeit ermittelt werden. Für das Ergebnis spielen dabei Parameter der Reaktionszeit eine besonders wichtige Rolle. Inwiefern sind Reaktionszeitparameter im Vergleich zu anderen Maßen (bspw. Fehlermaßen) für die ADHS-Diagnostik besonders aussagekräftig?

Die Aufgaben, die Kinder bei Aufmerksamkeitstests absolvieren müssen, sind in der Regel ziemlich einfach – auch bei unserem Test. Da Fehler bei solchen Aufgaben relativ selten vorkommen, sind sie weder reliabel noch spezifisch genug. Wir verwenden die Fehlerraten deshalb im Wesentlichen nur, um komplette Fehlmessungen auszuschließen.
Auch für Reaktionszeitparameter gilt allerdings, dass ein einzelner Parameter wie beispielsweise die mittlere Reaktionszeit allein nicht unbedingt aussagekräftig genug ist. In der Grundlagenforschung hat sich nämlich gezeigt, dass sich Kinder mit ADHS vor allem durch große Schwankungen in der Aufmerksamkeitsleistung auszeichnen. Ihre Reaktionszeiten sind also wesentlich variabler und verteilen sich erheblich asymmetrischer als bei Kindern ohne ADHS. Wir modellieren deshalb die individuellen Reaktionszeitverteilungen mit speziellen mathematischen Funktionen und leiten daraus gleich mehrere Reaktionszeitparameter ab, die für ADHS besonders charakteristisch sind. Diese Parameter werden anschließend so miteinander verrechnet, dass eine möglichst gute Unterscheidung zwischen Kindern mit und ohne ADHS erreicht wird. Mithilfe dieses Vorgehens erreichen wir eine hohe Sensitivität bei gleichzeitig sehr niedrigen Falsch-Positiv-Raten.

Können mithilfe des ADHS-Tests 6-12 Problemschwerpunkte bzw. Erscheinungsbilder oder Subtypen der ADHS diagnostiziert werden?

Generell können Subtypen bei ADHS psychometrisch nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden. Laut WHO unterscheidet man deshalb gar keine Subtypen mehr, sondern spricht abgeschwächt nur noch von verschiedenen Erscheinungsbildern, also vom unaufmerksamen, vom hyperaktiv-impulsiven oder vom kombinierten Erscheinungsbild. Wir tragen dem Rechnung, indem im Ergebnisreport des ADHS-Tests 6-12 auf große Unterschiede zwischen der Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität eines Kindes hingewiesen wird. Wir überlassen es jedoch den Anwenderinnen und Anwendern, ob sie in diesem Fall ein spezifisches Erscheinungsbild diagnostizieren möchten.

Der Test verfügt über kontinuierliche Normen, die auf der Basis einer repräsentativen Stichprobe aus ganz Deutschland berechnet wurden. Warum ist diese Art der Normierung bei der Diagnostik von ADHS besonders wichtig?

Aufmerksamkeitsleistungen unterliegen einer sehr raschen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter. Wählt man die Altersabstufung bei den Normen zu grob, wie das leider bei vielen anderen Aufmerksamkeitstests der Fall ist, so kommt es leicht zu Fehldiagnosen. Um die notwendige Feinabstufung zu erreichen, ist es quasi unumgänglich, die Altersentwicklung mit geeigneten mathematischen Verfahren kontinuierlich zu modellieren. Solche Verfahren haben aber auch noch andere Vorteile. Durch die mathematische Modellierung werden nämlich beispielsweise auch altersspezifische Stichprobenfehler weitgehend ausgeglichen. So konnten wir in verschiedenen Publikationen zeigen, dass das von uns entwickelte und beim ADHS-Test 6-12 angewandte kontinuierliche Verfahren wesentlich präzisere Normen liefert als andere traditionelle Normierungsverfahren.

Der Test kann im Altersbereich zwischen 6;0 und 12;11 Jahren angewandt werden. Warum haben Sie sich bei der Testkonstruktion für genau diesen Bereich entschieden und bspw. keine jüngeren oder noch ältere Kinder einbezogen?

Es gibt zwei diagnostische Merkmale bei ADHS, die den Altersbereich, innerhalb dessen die Erkrankung normalerweise diagnostiziert wird, relativ stark eingrenzen. Das erste Merkmal besagt, dass sich die Erkrankung negativ auf die Schulleistungen auswirkt. Dies bedeutet, dass ADHS in der Regel erst mit Schuleintritt diagnostiziert wird. Das zweite Merkmal besagt, dass die Symptome vor dem 12. Lebensjahr aufgetreten sein müssen. Die Diagnose ADHS erfolgt deshalb normalerweise in der Grundschule oder zu Beginn der Sekundarstufe. Der Bereich von 6 bis 12 Jahren deckt also den wesentlichen Altersbereich ab, innerhalb dessen die meisten ADHS-Diagnosen gestellt werden. Spätere Diagnosen sind zwar möglich, stellen aber eher eine Ausnahme dar.

Der im ADHS-Test 6-12 enthaltene Computertest wird bei Jungen und Mädchen mit einer unterschiedlichen Anzahl von Subtests durchgeführt. Warum? Inwiefern ist es notwendig, bei der Diagnose von ADHS das Geschlecht zu berücksichtigen?

Generell sind die Probleme hinsichtlich Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität bei Jungen und Mädchen zumindest teilweise unterschiedlich gelagert. Dies zeigt sich schon allein darin, dass Jungen etwa dreimal so häufig von ADHS betroffen sind wie Mädchen. Auch bei den von uns verwendeten Aufgaben zeigten sich in den Untersuchungsdaten deutliche Unterschiede. So hatten Mädchen und Jungen mit ADHS zwar gleichgroße Probleme beim Ausblenden irrelevanter Reize. Die Unterdrückung eines unerwünschten Handlungsimpulses stellte für die Mädchen mit ADHS aber keine gleichermaßen große Schwierigkeit dar. Die Hinzunahme einer solchen Aufgabe verbesserte deshalb die diagnostische Güte nur bei den Jungen, aber nicht bei den Mädchen. Im Sinne der Ökonomie entschieden wir uns deshalb dafür, diese Aufgabe nur bei den Jungen einzusetzen.

Der ADHS-Test 6–12 kann auf handelsüblichen Büro-Rechnern oder Laptops durchgeführt werden, auf denen ein Windows-Betriebssystem installiert ist. Warum wird davon abgeraten, den Test auf Tablet durchzuführen?

Wenn man einen computergestützten Test durchführt, dann sollten die Normdaten immer spezifisch für das verwendete technische Gerät erhoben werden, da sonst systematische Fehler entstehen können. Wir mussten uns also für eine bestimmte technische Option entscheiden. In unserem Fall wollten wir für die Aufgaben Reaktionstasten verwenden, da die Kinder die Finger, mit denen sie reagieren müssen, während der gesamten Aufgabendarbietung auf diesen Tasten liegen lassen können. Bei Tablets ist dies nicht gleichermaßen möglich. Es gibt auch noch ein paar andere technische Probleme in Bezug auf Tablets, die wir gerne vermeiden wollten. Deshalb fiel die Entscheidung für den Desktop-Rechner.

Ist es empfehlenswert, den ADHS-Test 6-12 mit weiteren diagnostischen Verfahren zu kombinieren?

ADHS ist ein so umfassendes Störungsbild, dass ein sehr gründlicher Blick auf die Gesamtsituation des Kindes erfolgen sollte. Weitere diagnostische Verfahren sind hierbei in der Regel nicht nur empfehlenswert, sondern sogar notwendig. So kann ADHS nicht nur leicht mit anderen Störungen verwechselt werden, sondern geht auch häufig mit anderen Störungen einher, z. B. mit Schulleistungsstörungen. Im Rahmen einer ADHS-Diagnostik sollte man auch immer einen aktuellen Intelligenztest durchführen. Zum einen ist dies notwendig, um eine allgemeine Intelligenzminderung ausschließen zu können, und zum anderen um weitere Aspekte der kognitiven Leistungsfähigkeit zu erfassen, die bei ADHS häufig ebenfalls beeinträchtigt sind, z. B. das Arbeitsgedächtnis. Schließlich kann es in manchen Fällen auch sinnvoll sein, emotionale und motivationale Faktoren mit standardisierten Verfahren abzuklären, also z. B. Angst, Depression, Leistungsmotivation oder Selbstkonzept.

Sie sind vielen Praktikern und Praktikerinnen bereits als Autoren verschiedener Testverfahren und Förderprogramme zu schulischen Fähigkeiten bekannt, wie bspw. dem Leseverständnistest ELFE II und dem Leseförderprogramm Lesespiele mit Elfe und Mathis. Wie kam es dazu, dass Sie sich dem Thema Diagnostik von ADHS gewidmet haben?

Diese Idee liegt uns im Grunde schon lange auf der Seele, sogar bereits zu der Zeit als wir ELFE 1-6 konstruierten. Tatsächlich weisen ADHS und Lesestörung auch eine relativ hohe Komorbidität auf. Die Testkonstruktion und -implementation und die hierfür erforderlichen Datenerhebungen erwiesen sich bei ADHS aber als außergewöhnlich aufwendig und anspruchsvoll. Auch hat sich seit der Jahrtausendwende die Grundlagenforschung und die statistische Methodik sehr weiterentwickelt. Erst diese Fortschritte ermöglichten es, Reaktionszeitdaten so zu analysieren, dass diese einen wirklichen Beitrag zur Diagnose leisten können. Wir selbst haben neben dem inhaltlichen Interesse auch ein sehr großes Interesse an der generellen Entwicklung von psychometrischen Methoden. Beim ADHS-Test 6-12 konnten wir sowohl inhaltlich als auch psychometrisch sehr viel dazu lernen, da sich immer wieder neue Herausforderungen ergaben, die gelöst werden mussten. Wir sind glücklich, dass wir das Projekt nun erfolgreich zum Abschluss bringen konnten und wir danken dem Hogrefe-Verlag und unserer Lektorin, Frau Dr. Hensel, für die Unterstützung bei der Publikation.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Dr. Alexandra Lenhard

Dr. Alexandra Lenhard studierte an der Universität Würzburg Psychologie und Physik. Sie promovierte auf dem Gebiet der Kognitiven Psychologie. Frau Dr. Lenhard arbeitet als selbstständige Unternehmerin auf dem Gebiet der Psychodiagnostik und -intervention im Kinder- und Jugendbereich. Sie ist (Co-)Autorin zahlreicher Testverfahren, Testauswertungs- und Förderprogramme. Außerdem entwickelte sie ein mathematisches Verfahren zur Erzeugung kontinuierlicher Testnormen, das bereits international in zahlreichen Testentwicklungsprojekten angewandt wurde.

Prof. Dr. Wolfgang Lenhard

Prof. Dr. Wolfgang Lenhard studierte Psychologie und Sonderpädagogik an der Universität Würzburg. Sein Hauptinteresse gilt der Diagnostik und Förderung (schrift-)sprachlicher Leistungen und kognitiver Fähigkeiten. Zu diesen Themen publizierte er bisher zahlreiche Fachartikel, Monografien, Testverfahren und Förderprogramme. Prof. Dr. Lenhard lehrt an der Universität Würzburg im Fach Pädagogische Psychologie. Dort liegt sein Schwerpunkt auf Lern- und Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen.

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