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Corona verstehen. Im Fokus: Kinder und Jugendliche

Prof. Dr. David Klemperer hat als Ergänzung zu seinem 2020 in 4. Auflage erschienenen Lehrbuch „Sozialmedizin - Public Health – Gesundheitswissenschaften“ ein kostenloses Sonderkapitel veröffentlicht, das als „Living Book“ laufend aktualisiert wird. Wir beleuchten hier einige Aspekte bezüglich der Impfung und der aktuellen Entwicklung zur Lage von Kindern und Jugendlichen.
Für ausführliche Informationen, Quellen und weiterführenden Hinweise bitte die PDF Corona verstehen aufrufen.

 

Virus und Krankheit

Erkranken Kinder und Jugendliche seltener an COVID-19 als Erwachsene?
Die Prävalenz akuter SARS-CoV-2-Infektionen ist in den meisten Studien niedriger als in der Erwachsenenbevölkerung. Der Anteil durchgemachter Infektionen ist in Antikörperstudien ähnlich wie bei Erwachsenen. Eine in Bayern durchgeführte Studie zeigte in der zweiten Infektionswelle bei 5,6 % der Vorschulkinder und bei 8,4 % der Schulkinder Antikörper gegen das SARS-CoV-2. Die Rate ist damit Anfang 2021 etwa 8-fach höher als am Ende der ersten Welle im Juli 2020 und etwa 3-bis 4-fach höher im Vergleich zu den durch PCR-Test erfassten Fällen. Der Anteil asymptomatischer Fälle stieg von der ersten zur zweiten Welle etwas an, bei den 1-bis 5-Jährigen von 59 % auf 68 %, bei den 6-bis 10-Jährigen von 38 % auf 51 %. Die Empfänglichkeit für die Infektion ist bei Schulkindern niedriger als bei Erwachsenen und bei Kindern im Kindergartenalter niedriger als bei Schulkindern.

Warum wurden bisher die Impfstoffe nur für Personen ab 16 bzw. ab 18 Jahren zugelassen? Liegt es daran, dass Kinder und Jugendliche weniger infektiös sind?
Die Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe wurden bisher nur an Personen ab 16 Jahren bzw. ab 18 Jahren getestet, daher konnten sie nur für dieses Altersgruppe zugelassen werden. BioNTech/Pfizer führen seit einiger Zeit Studien mit 12- bis 15-Jährigen und auch an noch jüngeren Kindern durch, nachdem sich ihr Impfstoff bei Erwachsenen als wirksam und sicher erwiesen hat. Am 30.4.2021 haben die Firmen die Ausweitung der bedingten Zulassung für ihren Impfstoff auf die Altersgruppe der 12- bis 15-Jährigen beantragt. Kinder und Jugendliche unterscheiden sich im Infektionsrisiko nicht grundlegend von Erwachsenen. Die Infektion verläuft jedoch häufiger ohne Symptome. Das liegt möglicherweise daran, dass sie durch Infekte mit Corona-Erkältungsviren einen gewissen Schutz vor dem SARS-CoV-2 entwickelt haben. In Einzelfällen gibt es aber auch bei Kindern und Jugendlichen schwere Verläufe. 12 Mio. von insgesamt 83 Mio. Menschen in Deutschland sind jünger als 16 Jahre. Auch für den Herdenschutz macht es daher Sinn, die unter 16-Jährigen zu impfen.

Studien aus Großbritannien und Italien zeigen offenbar eine hohe Prozentzahl von postviralen Symptomen bei Kindern. Wie sind Spätfolgen wie Long-Covid oder das PIMS-Syndrom (Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome) bei Kindern und Jugendlichen zu bewerten?
Beim Multisystemisches Entzündungssyndrom handelt es sich um eine überschießende Immunreaktion, die zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Herz- und Lungenfunktion führen kann. Es handelt sich um ein seltenes Ereignis, das einige Wochen nach zumeist symptomlos abgelaufener SARS-CoV-2-Infektion auftritt. Der Großteil der Kinder muss intensivmedizinisch versorgt werden. Das Krankheitsbild ist in der Regel gut behandelbar, für Kinder mit komplizierteren Verläufen (z.B. bei Entwicklung von koronaren Aneurysmen) ist die Langzeitprognose unklar.
Erste Studien weisen darauf hin, dass es auch bei Kindern zu Long-Covid kommt, aber hier fehlt noch ein differenziertes Bild.

 

Nutzen und Schäden der Infektionsschutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche

Inwieweit sind Kinder und Jugendliche von psychischen und gesundheitlichen Schäden durch die Maßnahmen betroffen?
Im Mai/Juni 2020 (1. Welle) und im Dezember 2020/Januar 2021 wurden mehr als 1500 Familien im Rahmen der COPSY-Studie (www.copsy-studie.de) nach dem psychischen Wohlbefinden ihrer 7-bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen online befragt. Daten zur der Zeit vor der Pandemie stammen aus der BELLA-Studie (BEfragung zum seeLischen WohLbefinden und VerhAlten). Von den 11-bis 17-Jährigen fühlten sich die meisten von der SARS-CoV-2-Pandemie belastet (1. Welle 70,7 %; 2. Welle 82,6 %) und hatten weniger soziale Kontakte (1. Welle 82,8 %; 2. Welle 76,1 %). Ein Teil gab an, dass die Beziehungen zu Freunden erschwert seien (1. Welle 39,3 %; 2. Welle 39,4 %) und dass Streit in der Familie zugenommen habe (1. Welle 27,6 %; 2. Welle 23,8 %). Etwas mehr als die Hälfte bezeichnet in der 2. Welle die Lebensqualität aber immer noch als normal bis hoch. Kinder aus sozial benachteiligten Familien und insbesondere Kinder mit psychisch kranken Eltern leiden deutlich mehr unter der Pandemie als ihre Peers; ihre Lebensqualität ist deutlich niedriger, psychische Probleme und generalisierte Angst doppelt so häufig und depressive Symptome drei Mal so häufig.
Die Gesundheitsämter haben während der ersten SARS-CoV-2-Welle viel ihrer originären, präventiv ausgerichteten Aufgaben nur eingeschränkt oder gar nicht wahrnehmen können, wie eine Befragung von 11 nordrhein-westfälischen Kommunen ergab. Dazu zählen Schuleingangsuntersuchungen, zielgruppen- und bedarfsorientierte Untersuchungen, Kooperationen im Bereich Kinderschutz und Frühe Hilfen und Maßnahmen zum Schließen von Impflücken.

Welche Auswirkungen lassen sich im Bereich der Bildung bereits erkennen?
Für 1,5 Mrd. Schüler*innen in 188 Ländern waren im Jahr 2020 die Schulen zumindest zweitweise geschlossen. Einige von ihnen konnten mit Unterstützung von Eltern und Lehrern und mitdigitalen Ressourcen trotzdem lernen. Viele Kinder hatten nicht die erforderliche unterstützende Umgebung und blieben im Lernen zurück. Nachteile sind insbesondere für Kinder aus ressourcenschwachen Haushalten zu befürchten. Eine Befragung von mehr als 2000 Eltern von Schulkindern im Februar und März 2021 ergab, dass die Schulkinder im Durchschnitt 4,3 Stunden pro Tag mit schulischen Tätigkeiten verbracht haben, eine Dreiviertelstunde mehr als im Frühjahr 2020 bei den ersten Schulschließungen. 23 % der Kinder haben sich nicht mehr als zwei Stunden am Tag mit Schule beschäftigt. 56 % der Eltern denken, dass ihr Kind weniger und 22 % denken, dass es mehr lernt als im regulären Unterricht. Die Lernzeit unterscheidet sich kaum nach schulischen Leistungen und Familienhintergrund, leistungsschwächere Schüler*innen und Nicht-Akademikerkinder lernen zu Hause jedoch deutlich weniger effektiv und konzentriert.

 

 

Portrait von David Klemperer.

Prof. Dr. med. David Klemperer

Prof. Dr. med. David Klemperer ist  Internist, Facharzt für öffentliches Gesundheitswesen, Sozialmediziner und Umweltmediziner. Er ist Past President des Deutschen  Netzwerks Evidenzbasierte Medizin, 2. Vorsitzender des Deutschen Netzwerks Gesundheitskompetenz und ehemaliges Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention.Von 2001 bis 2019 lehrte er Sozialmedizin, Public Health und Gesundheitswissenschaften an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg.

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