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Den Kita-Eintritt erleichtern
Ein Kind außerfamiliär betreuen zu lassen, ist eine Entscheidung, die Eltern oft verunsichert. Das neue Bilderbuch „Mika und Asa gehen in die Kita“ soll die ganze Familie unterstützen, die Eltern-Kind-Bindung stärken und den Übergang in Kita oder Kindergarten erleichtern. Wir haben mit Autorin und Illustratorin Fabienne Hesse über das Buch gesprochen.
„Bindung ist wie ein unsichtbares, emotionales Band zwischen zwei Menschen, das sie unabhängig von Zeit und Raum miteinander verbindet“, heißt es zu Beginn des Buches. Welche Rolle spielt diese Bindung bei der außerfamiliären Betreuung, also z.B. dem Eintritt in die Kita?
Eine sichere Bindung zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen trägt maßgeblich dazu bei, dass das Kind sich sicher und geborgen fühlt. Dadurch ist es in der Lage, neue Umgebungen zu erkunden und die eigene Autonomie zu stärken. Zudem ist eine sichere Bindung eng mit einer gesunden sozialen und emotionalen Entwicklung des Kindes verbunden. Kinder mit einer sicheren Bindung können Emotionen in der Regel besser regulieren, bauen einfacher tragfähige Beziehungen zu Gleichaltrigen und Erwachsenen auf, können ihre Umgebung neugieriger erkunden und weisen ein besseres Selbstwertgefühl auf.
Im Sinne des Zitats kann eine sichere Bindung als emotionales Band verstanden werden, das die Sicherheit und Verbundenheit zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen auch beim Eintritt in eine außerfamiliäre Betreuung aufrechterhält.
Viele Eltern machen sich vermutlich Sorgen, dass die Bindung zu ihrem Kind leiden könnte, wenn es außerfamiliär betreut wird. Bestehen diese Sorgen zu Recht?
Der Eintritt in eine außerfamiliäre Betreuungsform bringt sowohl für das Kind als auch für seine Bezugspersonen Veränderungen und häufig Verunsicherung mit sich. Es ist verständlich, dass Eltern sich fragen, ob ihr Kind in der Kita gut aufgehoben ist, und sich Sorgen machen, dass die Bindung zwischen ihnen und dem Kind leidet.
Aus wissenschaftlichen Studien ist bekannt, dass das Zuhause auch nach dem Eintritt in die außerfamiliäre Betreuung das wichtigste Erziehungs- und Entwicklungsumfeld eines Kleinkindes bleibt. Die Eltern können die Bindung zum Kind aufrechterhalten, indem sie weiterhin liebevoll und feinfühlig auf dessen Bedürfnisse eingehen und das Kind insbesondere nach dem Kita-Tag gut auffangen. Eine qualitativ hochwertige außerfamiliäre Betreuung mit einfühlsamen, engagierten und verlässlich verfügbaren Betreuungspersonen kann dazu beitragen, dass das Kind wertvolle soziale Lernerfahrungen sammeln und neue Beziehungen zu anderen Kindern und Erwachsenen aufbauen kann. Die verschiedenen Bezugspersonen (z. B. Kita-Personal und Eltern) stehen dabei nicht in Konkurrenz zueinander, sondern können sich bei guter Kooperation und Kommunikation ergänzen und dem Kind ein erweitertes Umfeld für wichtige Lernerfahrungen bieten. Dabei ist es wichtig, dass die primären Bezugspersonen darauf vertrauen können, dass ihr Kind während der außerfamiliären Betreuung gut aufgehoben ist und emotionale Sicherheit erfährt.
Für den Aufbau einer sicheren Bindung ist, wie Sie schreiben, Sensitivität Voraussetzung. Woher weiß ich, ob ich genügend Feinfühligkeit besitze? Was ist, wenn ich denke, dass mir hier etwas fehlt?
Elterliche Sensitivität (oder auch Feinfühligkeit) ist entscheidend für den Aufbau einer sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind. Es ist ein wichtiger Schritt, wenn Eltern sich ihrer eigenen Sensitivität bewusst sind und sich bemühen, die Bedürfnisse ihres Kindes einfühlsam wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und prompt und angemessen darauf zu reagieren. Gemeinsames Zeitverbringen, aktives Zuhören und bewusstes Wahrnehmen können dabei helfen, das Kind und seine Bedürfnisse besser kennenzulernen und dadurch auch die Sensitivität zu stärken. Wenn Eltern merken, dass sie sich damit überfordert fühlen, häufig nicht deuten können, was ihr Kind braucht, oder nicht angemessen auf die Bedürfnisse und Signale ihres Kindes reagieren, können sie sich an Fachpersonen und Beratungsstellen wenden.
An dieser Stelle ist wichtig anzumerken, dass Eltern häufig hohe Anforderungen an sich selbst und das eigene Fürsorge- und Erziehungsverhalten stellen. Neben der Kindererziehung sollen Eltern auch ihren eigenen Bedürfnissen, Verpflichtungen und Anforderungen außerhalb der Elternschaft nachkommen. Alles miteinander zu vereinbaren, kann im Alltag eine sehr große Herausforderung darstellen. Die perfekte Sensitivität gibt es nicht und sie ist auch nicht erstrebenswert. Donald Winnicott, ein britischer Kinderarzt und Psychoanalytiker, hat das Konzept der "perfekten Mutter" (hier erweitert auf weitere Bezugspersonen) daher abgelehnt und stattdessen das Konzept der "good enough" (hinreichend guten) Eltern eingeführt. Damit soll verdeutlicht werden, dass hinreichend gutes Fürsorgeverhalten für eine gesunde kindliche Bindungsentwicklung ausreicht. Es geht also auch um die elterliche Selbstfürsorge, weil es nicht zum Wohle des Kindes ist, wenn die Eltern erschöpft und ausgebrannt sind.
„Helikopter-Eltern“ war in den letzten Jahren ein viel benutzter Begriff. Wie schafft man die Balance zwischen Bindung und Loslassen?
Die Balance zwischen Binden und Loslassen ist für Eltern eine anspruchsvolle Aufgabe. Einerseits brauchen Kinder eine sichere Bindung, um sich geborgen und behütet zu fühlen, andererseits auch ein anregendes Spiel- und Förderumfeld, um Erfahrungen zu sammeln und sich autonom zu entwickeln. Um die Balance zu finden, sollten Eltern sowohl das Bindungs- als auch das Erkundungsbedürfnis ihres Kindes erfüllen.
Jedes Kind hat dabei individuelle Bedürfnisse und Fähigkeiten, die es zu berücksichtigen gilt. Es ist die Aufgabe der Eltern, ihre Kinder behutsam und schrittweise an ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben heranzuführen. Während jüngere Kinder beispielsweise mehr Unterstützung zur Regulierung ihrer Emotionen benötigen, lernen ältere Kinder, auf ihre eigenen Strategien zu vertrauen und das Loslassen gewinnt an Bedeutung. Um die Bindung zu erhalten und gleichzeitig die Autonomie zu stärken, ist es wichtig, dass Eltern ihre Kinder in verschiedenen Entwicklungsbereichen nur so viel wie nötig (im Sinne des „good enough“-Gedankens) unterstützen. Die Balance zwischen Binden und Loslassen muss dabei immer wieder neu gefunden werden
Besonders das Bringen des Kindes in die Kita und Abschiednehmen und das Abholen aus der Kita können sehr herausfordernd sein. Wie kann man diese Übergänge möglichst stressarm gestalten?
Übergänge können für Kinder und ihre Bezugspersonen eine besondere Herausforderung darstellen, da sie mit Veränderungen und Unsicherheiten verbunden sind. Eltern sollten sich, wenn möglich, ausreichend Zeit für die Übergänge nehmen, geduldig mit sich selbst und mit dem Kind umgehen und eine gute Kommunikation mit dem Kita-Personal pflegen, um gemeinsame Lösungen zu finden. Eine regelmäßige Routine kann dabei helfen, dem Kind Sicherheit zu vermitteln. Es ist wichtig, eine positive Atmosphäre zu schaffen und dem Kind zu signalisieren, dass es in der Kita gut aufgehoben ist. Durch das Ausstrahlen von Sicherheit und das Anerkennen und Aushalten von Emotionen können Eltern dazu beitragen, dass die Übergänge beim Bringen und Abholen erleichtert werden. Abschiede beim Bringen sollten kurz und liebevoll sein. Manchmal können auch Übergangsobjekte, wie zum Beispiel ein Schal oder Stofftier von zuhause, zum Gelingen des Übergangs beitragen. Auch beim Abholen sollten die Bedürfnisse des Kindes berücksichtigt werden. Wenn es beispielsweise gerade noch mit einem Spiel beschäftigt ist, kann es sich lohnen, dem Kind den anstehenden Wechsel anzukündigen und noch ein paar Minuten mit dem Kitapersonal über das Tagesgeschehen und aktuelle Beobachtungen zu sprechen. Bei der Begrüßung soll das Kind spüren, dass die Eltern sich über das Wiedersehen freuen.
Wenn das Kind wieder zuhause ist, muss es alle Eindrücke des Tages verarbeiten, denn an einem Tag in der Kita erlebt es vieles. Die Eltern sollen dem Kind genug Zeit für das Ankommen geben. Manche Kinder fordern besonders viel Aufmerksamkeit oder reagieren emotional ungewöhnlich stark. In diesen Phasen sollen Eltern versuchen, mit dem Kind bewusst Zeit zu verbringen und besonders einfühlsam auf es einzugehen. Wir müssen uns bewusst sein, dass man von Kindern durch den Kita-Aufenthalt eine große Anpassungsleistung abverlangt, die feinfühlig und achtsam begleitet werden soll.
Im Buch gibt es eine Geschichte, die sich direkt an Kinder wendet. Die Hauptpersonen sind dabei Mika und Asa, ein Mädchen und sein „Bindungstier“. Was hat es mit der Idee eines Bindungstieres auf sich?
Oftmals sind psychologische Konzepte, Bedürfnisse und Emotionen abstrakt und wenig greifbar, da sie sich auf unsichtbare, innere Prozesse beziehen. Um das Konzept der „Bindung“ zugänglicher zu machen, sollte es visuell dargestellt werden. Das Bindungstierchen repräsentiert daher, in der Form eines magischen Begleiters, die Bindung. Jede*r von uns hat ein solches Bindungstierchen an der Seite. Es soll Eltern und andere Bezugspersonen dabei unterstützen, die Bedürfnisse des Kindes sichtbar zu machen, die Sensitivität zu fördern und dadurch die Bindung zu stärken. Durch die Externalisierung können Kinder leichter über Bindungsbedürfnisse sprechen und herausfinden, was ihr Bindungstierchen braucht, um mutig in die Kita zu gehen. Weiterhin sollte das eigene Bindungstierchen den Kindern Sicherheit vermitteln und das Gefühl geben, immer jemanden an seiner Seite zu haben.
Dies wird auch in der Kindergeschichte im Buch aufgegriffen. Asa der Affe ist Mikas Bindungstierchen, das sie überallhin begleitet. Mika kennt Asa gut und weiß, dass Asa in vielen Situationen mutig und abenteuerlich ist. Sie staunt, als Asa beim Kita-Eintritt plötzlich ängstlich reagiert. Gemeinsam mit ihrer Familie bereiten sich die beiden auf den bevorstehenden Übergang vor und begeben sich auf die spannende Reise in die Kita. Sie lernen, dass Veränderungen, die zu Beginn Unsicherheit auslösen, bei guter Vorbereitung etwas Wunderbares sein können.
Zum Buch gibt es praktische Übungen und Zusatzmaterialien, was kann damit geübt werden?
Die Übungen dienen dazu, die Themen der elterlichen Sensitivität, der Eltern-Kind-Bindung und des Kita-Eintritts zu beleuchten und praktische Fähigkeiten und Strategien zu erlernen, um die Hinweise im Buch im Alltag umzusetzen. Da jedes Kind und jede Familie individuelle Bedürfnisse haben, können die Übungen an die persönliche Lebenssituation angepasst werden. Das Vertrauen von den Eltern in die eigenen Fähigkeiten soll gestärkt werden. So wollen wir der Tatsache gerecht werden, dass die primären Bezugspersonen Expert*innen für ihre Kinder sind und am besten wissen, was diese zum Erleben einer sicheren Bindung und eines gelingenden Kita-Eintritts brauchen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Fabienne Hesse
Fabienne Hesse ist Fachpsychologin für Kinder und Jugendliche, die sich auf die Förderung einer gesunden Entwicklung junger Menschen spezialisiert hat. Sie begleitet und berät Familien, Schulbeteiligte und weitere Fachpersonen bei verschiedenen Anliegen rund um das Wohl von Kindern und Jugendlichen. Schon immer hegte sie eine Leidenschaft für das Zeichnen und Illustrieren und erkannte bald, dass sie diese Leidenschaft mit ihrem Interesse an Psychologie verbinden wollte. Durch die Kombination beider Felder möchte sie psychologische Konzepte erklären und praktische Werkzeuge zur Bewältigung von Herausforderungen bereitstellen.
Prof. Dr. Martina Zemp
Prof. Dr. Martina Zemp ist Professorin für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters am Institut für Klinische und Gesundheitspsychologie der Universität Wien. Sie forscht und lehrt zu der Rolle der Familie bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter und ist spezialisiert im Bereich der Wechselwirkungen zwischen der elterlichen Partnerschaft und dem kindlichen Befinden. Sie publizierte wissenschaftliche Artikel und Bücher zu den Themenbereichen familiäre Beziehungen, Eltern-Kind-Bindung und außerfamiliäre Kinderbetreuung. Sie ist außerdem Psychotherapeutin mit systemischem Schwerpunkt.