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Den Pflegealltag im akutpsychiatrischen Setting bewältigen

Aus der Praxis für die Praxis, dies ist das Ansinnen von Prof. Dr. Markus Witzmann und Christoph Müller, die in diesen Tagen das Buch „Akutpsychiatrische Pflege“ veröffentlicht haben. So haben die beiden psychiatrischen Pflege-Experten erfahrene Kolleg*innen um sich geschart, um den State of the Art in der akutpsychiatrischen Pflege zu beschreiben. Der Pflegewissenschaftler Stefan Rogge hat Markus Witzmann und Christoph Müller interviewt.

Akutpsychiatrische Pflege intensives Gespräch und Hilfe zwischen zwei Frauen Bild: Shutterstock / fizkes

Mit dem von ihnen herausgegebenen Buch «Akutpsychiatrische Pflege» erscheint ein Sammelwerk auf dem Markt, das von sich aus den Anspruch erhebt, den Pflegealltag im akutpsychiatrischen Setting bewältigen zu helfen. Wie kam es zu diesem Buch?

Die Frage ist eigentlich einfach zu beantworten. Die Themen „Krise“ und „Bewältigung von Krisen“, Professionalisierung der Pflege und Entwicklungen in der Akutpsychiatrischen Pflege waren immer Gesprächsthemen zwischen uns. Dies haben wir in Gesprächskontakten mit Jürgen Georg, dem Lektor und Programmleiter Pflege des Hogrefe Verlags, häufig kommuniziert. Irgendwann kam dann der Punkt, dass die Idee zu dem Buch geboren wurde. Die akutpsychiatrische Versorgung kennen wir aus unseren beruflichen Wegen, der Praxiserfahrung in den verschiedensten Fachbereichen der klinischen Versorgung und auch aus unserer Tätigkeit in Fachverbänden und über die psychiatrische Gremienlandschaft. Für uns ist die akutpsychiatrische Pflege ein herausfordernder, aber auch besonders sinnstiftender Pflegebereich. Sie ist bekanntlich ein Schmelztiegel, für den es eine besondere Sensibilität braucht. In dem Buch wollten wir dies mit den unterschiedlichen Autor*innen abbilden und ihnen sowohl aktualisiertes Wissen als auch Praxiserfahrungen aus den verschiedenen Perspektiven vermitteln. Wir wollen sie einladen, mit uns die akutpsychiatrische Pflege zu erkunden und uns als Pflegende in diesem Feld zu reflektieren. Dies ist uns sicher an der einen oder anderen Stelle besser oder schlechter gelungen, aber wir sind überzeugt, dass das Buch eine gute Basis bietet, sich mit der akutpsychiatrischen Pflege auseinanderzusetzen. Heute sind wir froh, dass das Buch erschienen ist. Der Erstellungsprozess wurde erschwert durch die Corona-Pandemie, aber auch viele andere Hürden. Aber wir haben es geschafft und die Herausforderungen gemeinsam als Autorenteam mit dem Verlag bewältigt. 

Sie widmen der Selbstvernachlässigung ein eigenes Kapitel. Was macht das Thema für Sie so bedeutsam?

Für viele Betroffene geht mit einer seelischen Erkrankung Selbstvernachlässigung einher. Wer längere Jahre in der Akutpsychiatrie pflegerisch arbeitet, weiß darum. Die Selbstvernachlässigung hat viele Gesichter und kann im Einzelfall sehr ausgeprägt sein. Fatal ist allerdings aus unserer Sicht, dass die psychiatrisch Pflegenden dazu neigen, die Selbstvernachlässigung lediglich in der Verantwortung der Betroffenen zu belassen. Dies wird dem Phänomen und den betroffenen Menschen nicht gerecht. Deshalb war es uns ein Anliegen, das Phänomen der Selbstvernachlässigung in den Fokus zu rücken. In diesem Zusammenhang kristallisiert sich auch heraus, was psychiatrische Pflege an sich bei der Begleitung psychisch erkrankter Menschen leisten kann. Sie können den leidenden Menschen im Alltagsgeschehen ‚unter die Arme greifen‘, z.B. als Wegbegleiter in einer akuten Lebensphase oder als wohlwollender Berater. Und während psychiatrisch Pflegende und Betroffene gemeinsam an einem Phänomen arbeiten, entsteht ein Wir. Es gibt eine Annäherung an die viel beschworene Augenhöhe und damit vor allem eine mitmenschliche Unterstützung; die mitunter den Kern der pflegerischen Beziehung ausmacht.

Auch das Thema «Sexualität» wird von Ihnen platziert. Warum tun sich die psychiatrisch Tätige bis dahin so schwer mit diesem Thema?

Sexualität ist ja bekanntlich ein vitales Thema des Lebens. Dies betrifft alle Menschen, ganz egal, ob sie erkrankt oder gesund sind. Da sollte man eigentlich davon ausgehen, dass Hilfebedürftige und helfende Menschen zügig dazu ins Gespräch kommen. Ganz im Gegenteil – Sexualität bleibt tabuisiert, ist sogar im psychiatrischen Versorgungsalltag der Klinik mit Scham und ab und an auch mit Ekel verbunden. Deshalb gehört die Sexualität in den Diskurs zwischen unterstützenden und erkrankten Menschen. Es braucht gerade aufseiten der psychiatrisch Pflegenden eine Sensibilität und Offenheit, auch über Sexualität zu sprechen. 

Wir sind der Ansicht, dass die pflegerische Begleitung von Menschen die ganzheitliche Sorge um das Wohlbefinden dieser umfasst und dazu gehört auch das sexuelle Wohlbefinden als wichtigen Aspekt unserer Gesundheit, als Beitrag zur Lebensqualität.

Seelisch erkrankte Menschen, vor allem in krisenhaften Momenten, erleben sich plötzlich nicht mehr als vital. Dies hat Folgen für das Selbstbild und die Selbstwirksamkeit. Die Partnerschaft ist oft durch die psychische Erkrankung bzw. die aktuelle Krisensituation belastet. Viele Betroffene erleben sich in einer Weise, dass sie für Menschen nicht mehr liebenswert erscheinen. So beschränkt sich die eigene gelebte Sexualität auf Solosexualität. Gleichzeitig ist eine Konsequenz der Einnahme von Psychopharmaka, dass die eigene sexuelle Vitalität als reduziert oder möglicherweise ausgelöscht wahrgenommen wird. Dies sind alles Momente, die einschneidend für die Betroffenen sind. Manche Betroffene sind traumatisiert, weil sie sexuelle Gewalt erlebten. Wir möchten die psychiatrisch Pflegenden ermutigen, dass sie mit den erkrankten Menschen dazu ins Gespräch kommen, um ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, eine andere Perspektive auf erlebte und gelebte Sexualität zu gewinnen. Dafür braucht es eine professionelle Nähe, bei der sich Pflegende auch öffnen müssten, ohne sich preiszugeben. Vielleicht profitieren sie von den Gesprächen dann auch.

Sie benennen bereits in Titel und Vorwort Pflegefachpersonen als Zielgruppe. Wäre nicht der interdisziplinäre Fokus angebrachter?

Der interdisziplinäre Fokus steht bei uns natürlich hoch im Kurs. Akutpsychiatrische Versorgung ist ein interdisziplinäres/professionelles und im Wesentlichen ein teambasiertes Versorgungsangebot. Die psychisch erkrankten Menschen profitieren sicher davon, dass die unterschiedlichen Akteur*innen im Behandlungs- und Begleitungsprozess ihren ureigenen Beitrag leisten und ihre jeweilige Kompetenz bei Bedarf in den Diagnose-/Behandlungs- und Pflegeprozess einbringen. Sie haben die Gelegenheit, das für sie passende Angebot zu wählen, mit dem sie glauben, zu einer Gesundung zu kommen. Bevor die interdisziplinäre Brille aufgezogen werden kann, müssen sich die einzelnen Berufsgruppen vergegenwärtigen, was ihr Beitrag dabei sein kann.
Konkret: In vielen Alltagssituationen müssen sich psychiatrisch Pflegende vergegenwärtigen, dass ihr Verhalten und Handeln einen direkten Einfluss auf den Genesungsprozess hat

Es gilt auch in einem interdisziplinären/-professionellen Setting für das eigene Handeln die Verantwortung zu übernehmen und das der Pflege eigene aktiv in den Diagnose-, Behandlungs- und Pflegeprozess einzubringen. Manche Berufskolleg*innen neigen dazu, Interventionen in Richtung anderer Berufsgruppen zu verschieben. Dabei ist es doch dasjenige, was die Arbeit als Pflegende oder Pflegender ausmacht und Selbstwirksamkeit erfahren lässt. In der Gegenwart erleben wir viele Diskussionen um die pflegerischen Vorbehaltsaufgaben (nach § 4 Pflegeberufegesetz). Wir haben es selbst in der Hand, unserem Berufsbild, unserer Profession ein Profil zu geben. 

Als psychiatrisch Pflegender habe ich ein ganz individuelles Selbstverständnis. Wenn uns im beruflichen Alltag Phänomene begegnen, liegt es an uns, mit den uns anvertrauten Menschen Lösungswege zu erarbeiten; ihnen Wege zu eröffnen, die z.B. helfen, die akute Krise zu bewältigen. Wir tun dies aufgrund unserer persönlichen, sozialen und fachlichen wie methodischen Kompetenzen, die wir auch in der Ausbildung oder im Studium vertieft erwerben konnte. Aber auch durch unsere eigene Lebenserfahrung und -wege, unsere Praxiserfahrung und unseren Überzeugungen und Werten. Oder um es in einem Bild zu sagen: Erst wenn wir die eigenen Instrumente gelernt und gestimmt haben, dann können wir auch im interprofessionellen Orchester mitspielen.

Sie befassen sich in Ihrer Arbeit mit einem weiten Spektrum zu Fragen aus dem Bereich der Psychiatrie und verfügen über einen großen Erfahrungsschatz auf diesem Feld. Was möchten Sie Berufsanfänger*innen in diesem Bereich, die ihre Berufswege häufig in akutpsychiatrischen Settings starten, mitgeben?

Wir als die Herausgeber sind älter und grauer werdende Herren. Wir können stolz davon berichten, dass wir große Veränderungen in der psychiatrischen Versorgung miterlebt haben. Inhaltlich sind wir sicher sozialpsychiatrisch geprägt und betrachten den Menschen in seiner Vielfalt unterschiedlicher Lebenskonzepte in seinem sozialen Umfeld. Wir haben die Bemühungen der Psychiatrie-Enquete erlebt und vielfältigste Entwicklungen der psychiatrischen Versorgung in Deutschland begleiten dürfen. In den 1990er Jahren gehörte es dazu, das Buch „Irren ist menschlich“ verinnerlicht zu haben. Später kamen Bücher wie „Praktische Psychiatrische Pflege“ und „Der gute Arzt“ dazu. Es waren Bücher, die uns als psychiatrisch Pflegende geprägt haben. Sie haben informiert und vor allem einen spezifischen Blick auf die psychiatrische Versorgung ermöglicht. Das Allerwichtigste: Sie haben die Haltung entwickelt, mit denen wir heute noch auf Menschen und insbesondere seelisch erkrankte Menschen zugehen. Eine zutiefst respektvolle und wohlwollende Haltung, die Begegnung ermöglicht und offen ist für die Vielfalt menschlichen Lebens. 

Im Autor*innenteam haben wir Autor*innen in verschiedenen Lebensphasen (also nicht nur ‚graue Herren‘) mit ganz unterschiedlichen Perspektiven und professionellen Hintergründen und Erfahrungen gewinnen können. Sie eröffnen uns ihre jeweilige Sicht auf das akutpsychiatrische pflegerische Setting. Dies ermöglicht Berufsanfänger*innen vielfältige Zugänge auf dieses wertvolle Praxisfeld. Wir möchten sie ermutigen, sich auf die akutpsychiatrischen Pflege einzulassen, die Besonderheiten dieser zu entdecken und sie für die psychiatrische Pflege an sich begeistern. Wir möchten ihnen Wissen vermitteln und sie an unseren Erfahrungen und Überzeugungen teilhaben lassen. 

Und wir möchten Berufsanfänger*innen in der Gegenwart ermuntern, sich von Büchern und noch mehr von engagierten Kolleg*innen um sie herum für die psychiatrische Pflege begeistern lassen, von ihnen zu lernen und mitzuwirken, das ganz eigene Profil der psychiatrischen Pflege weiterzuentwickeln: „Schaut den erfahrenen Kolleg*innen auf die Finger, ahmt nach, was gelungen erscheint; seid kritisch gegenüber manchem Verhalten und Handeln im Besonderen, wenn dies fachlich und menschlich nicht angemessen erscheint. Menschen brauchen Menschen, wenn es ihnen schlecht geht. Menschen brauchen Menschen, wenn wir eine Psychiatrie gestalten wollen, in der Humanität Leitmotiv sein soll.

Sollten Sie dereinst einmal selbst auf Pflege angewiesen sein, wie würden Sie sich eine adäquate Pflege für sich vorstellen?

Wir sind sicher Menschen, die im persönlichen Umfeld als eigenwillige Persönlichkeiten wahrgenommen werden. Es ist zu hoffen, dass unser Eigensinn akzeptiert wird. Wir haben unterschiedliche Lebenswege und Lebenskonzepte, viele gemeinsamen Interessen und auch unser gemeinsames Berufsfeld, das wir als ‚Sinn stiften‘ erleben. Aber wir legen Wert auf unsere Individualität und hoffen, dass diese von den Pflegefachpersonen wahrgenommen und in ihrer Begleitung und Unterstützung berücksichtigt wird. Biographiearbeit sollte sich also sehr konkret zeigen. Wir legen sehr viel Wert auf eine professionelle Pflege, die auf Wissen und Erfahrung gründet; einer kompetenzorientierten Pflege, die sich öffnet für neue Erkenntnisse und diese einbringt. Wir legen Wert auf Perspektivenvielfalt und eine zutiefst menschliche Pflege, wie wohlwollend und wertebasiert einem die Hand reicht und fürsorglich begleitet. Eine Pflege, die trotz des angewiesen seins auf Hilfe uns unterstützt beim Erhalt oder des Wiedererlangens unserer Selbstpflege und Selbstbestimmung. Eine Pflege, die uns ermöglicht, am Leben teilzuhaben und dieses als Lebenswert zu erfahren. Wir wünschen uns Pflegende, die in ihrer Profession aufgehen und in einem Arbeitsfeld tätig sein können, das ihnen das bietet, was ihnen als besondere Gesundheitsprofession zusteht, wie Respekt, Wertschätzung, gute Arbeitsbedingungen, einen sicheren und erfüllenden Beruf, ein gutes Einkommen und gute Entwicklungschancen. Also, eine rundum gute Pflege!

 

 

Prof. Dr. (phil.) Markus Witzmann

Prof. Dr. (phil.) Markus Witzmann, M. A., M. S. M., M. A. ist (Forschungs-)Professor an der staatlichen Hochschule München und dort als Studiengangsleiter des Master Mental Health und Mitglied der Ethikkommission tätig. Er war viele Jahre bei einem Leistungsträger als Qualitätssicherungsbeauftragter für die psychiatrische Versorgung sowie als Geschäftsführer von Angeboten der außerklinischen sozialpsychiatrischen Versorgung und ambulant psychiatrischen Pflege aktiv.

Christoph Müller

Christoph Müller, Qualitätsmanagement-Beauftragter in einer Klinik der Maximalversorgung, Krankenpfleger, langjährige Erfahrungen in der Geronto-, der Allgemein-und der forensischen Psychiatrie, Fachautor, Dozent.

Stefan Rogge

Stefan Rogge, M.A. Health Administration, B.A. Psychiatrische Pflege, Fachgesundheits- und Krankenpfleger für Psychiatrie) ist pflegerischer Leiter der Klinik für Forensik an den Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel (Schweiz) und Präsident der Schweizer Fachgesellschaft der psychiatrisch Tätigen in der forensischen Psychiatrie (FPFP), Mitherausgeber der Zeitschrift „Pflegerecht“ (Stämpfli Verlag), Adherencetrainer und 2. Vorsitzender des DV Adherence, seit 2010 mit Themen des Massregelvollzugs beschäftigt.

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Akutpsychiatrische Pflege Praxishandbuch für Pflegefachpersonen, Fachpflegende und ANPs herausgegeben von Markus Witzmann, Christoph Müller
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Die Zeitschrifterscheint 6 Mal jährlich.