DeutschSchule und Entwicklung

Frühkindliche Bildungsprozesse begleiten – der Ansatz der Menschenrechtspädagogik

Von HS-Prof. Dr. Doris Lindner und Dr. Johanna Bruckner

Elementarpädagog*innen erfüllen einen grundlegenden Beitrag zu Fragen der Bildung und Erziehung von Kindern vom Eintritt in eine elementare Bildungseinrichtung bis hin zum Übertritt in die Schule. Dabei sind sie gefordert, die gesellschaftlichen Entwicklungen, Rahmenbedingungen vor Ort und die individuellen Bedürfnisse der Kinder professionell auszubalancieren. Eine professionell gestaltete, elementarpädagogische Praxis ermöglicht Begegnung mit Verschiedenheit und inklusive Lernsettings, die Kinder befähigen, mit den gegenwärtigen Herausforderungen umzugehen. Solche Lernergebnisse legen die Basis für eine gesellschaftskritische und menschenrechtlich orientierte Pädagogik, die Vorurteile reflektiert und auf ein Leben in globaler Verantwortung vorbereitet. Eine systematische Beobachtung der pädagogischen Praxis ist dabei Grundvoraussetzung.

Pädagogische Beobachtung als zentrales Element

Die systematische Beobachtung von Kindern weist in der pädagogischen Praxis einen hohen Stellenwert auf. Auch in Kontexten früher Bildung ist damit ein Erkenntnisinteresse verbunden. Beobachtungen dienen dazu, dass pädagogische Fachkräfte die kindliche Entwicklung im Auge behalten und die individuellen Lernfortschritte ermitteln, um daraus den Bedarfen und Bedürfnissen des Kindes entsprechende Entwicklungs- und Lernaufgaben abzuleiten. Auch können mittels Selbstbeobachtung die eigenen Arbeits- und Verhaltensweisen angemessen eingeschätzt werden. Durch die Praktiken des Beobachtens konstituieren sich Kinder erst zu lernfähigen, sich bildenden und veränderbaren Subjekten.

Bild vom Kind, Kindheitsbilder

So, wie durch die Beobachtungspraxis ein bestimmtes Kind an Form gewinnt, liegt auch ein bestimmtes Bild von Kindern und dem Kindsein dem pädagogischen Handeln zugrunde. Das hat Konsequenzen für die pädagogische Praxis. Systematisches Beobachten bedeutet nicht nur, kindliches Verhalten ‚neutral‘ zu registrieren und zu dokumentieren. Es bedingt zum einen ein sich Einlassen auf das Kind in seiner Individualität, zum anderen müssen die eigenen Bilder über Kinder, Kindheitsbilder und Bilder vom Kindsein, beständig reflektiert werden.

Individualisierung und Subjektivierung des Kindes

Zwischen gesellschaftlichen Deutungsmustern über Kinder, Kindheit und Kindsein und dem Blick auf das individuelle Kind liegt ein Spannungsfeld. Dieses Spannungsfeld wird im aktuellen elementarpädagogischen Diskurs zur Individualisierung des Kindes. Die Individualisierung des Kindes geht einher mit dem Wandel von ehemals paternalistischen Vorstellungen vom Kind als zu erziehendes und formendes Objekt. Heute entsprechen solche Annahmen nicht mehr dem Ansinnen einer als ‚guten‘ Pädagogik. Vielmehr werden Kinder als Subjekte ihrer Entwicklung begriffen, deren (wachsende) Selbstbestimmung und selbständige Auseinandersetzung mit der Umwelt in den Blick gelangen. Eine Fokussierung auf das einzigartige und besondere Kind und ein diese Ausrichtung unterstützender Erziehungsstil und Bildungsbemühungen bringen nicht nur Vorteile mit sich. Kritiker*innen einer zu einseitigen Ausrichtung auf das Kind weisen schon seit längerem darauf hin, dass eine zu intensive Fokussierung zum Zweck der Selbstoptimierung des Individuums solidarische Bemühungen verdeckt, in Mitmenschlichkeit füreinander einzustehen und gemeinsame Interessen und Ziele zu verfolgen.

Ein solidarisches, wertschätzendes Miteinander

Für ein solidarisches, wertschätzendes Miteinander sind die Menschenrechte in der Theorie häufig Referenzpunkte. Die Entwicklungen und Erfahrungen der Geschichte zeigen, dass das Wissen über und das Bewusstsein um die Menschenrechte jedoch nicht automatisch ihre praktische Durchsetzung gewährleisten. Menschenrechte (und insbesondere das Bemühen um Kinderrechte) sind gegen Angriffe und Aushöhlungen fortwährend zu verteidigen. In Anbetracht wachsender sozialer Ungleichheit, Ausgrenzung und systematischer Diskriminierung ist dies ein uneingeschränkt gültiger Grundsatz. Menschenrechte sind die universelle Klammer für das Zusammenleben in pluralen Gesellschaften. Sie stellen einen universal gültigen Werterahmen zur Verfügung, der unmittelbar Eingang in die Menschenrechtsbildung findet.

Menschenrechtsbildung umsetzen

Kinder als Subjekte zu begreifen, bedeutet auch, ihren Schutz und ihren Anspruch auf Erfüllung ihrer Rechte zu beachten, sie entsprechend zu begleiten und sie kindgerecht zu beteiligen. Die UN-Kinderrechtskonvention (1989) gewährleistet umfassende Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte und formuliert unter anderem ein Diskriminierungsverbot, den Vorrang des Kindeswohls, Recht auf Leben, Überleben und persönliche Entwicklung und Recht auf Beteiligung, Gehört werden, Achtung vor der Meinung und dem Willen des Kindes.

Die Orientierung an den Kinderrechten stellt Anforderungen an die pädagogische Praxis. Für elementare Bildungsinstitutionen sind drei grundlegende Perspektiven des Menschenrechts auf Bildung angesprochen:

  1. Bildung als Menschenrecht beschreibt das Recht und den Zugang zu einer chancengerechten und unentgeltlichen Bildung. Es zielt auf den Abbau und die Beseitigung struktureller, diskriminierender Aspekte, die einen Zugang zu Bildung erschweren oder verwehren.
     
  2. Für die Menschenrechtsbildung sind Menschenrechte Bildungsziel in ihrer Konkretisierung auf den Ebenen Bildung über, durch und für Menschenrechte. Die Befähigung des Individuums, eigene Rechte wahrzunehmen, ist grundlegend. Explizit wird die Entfaltung der Persönlichkeit als Ziel formuliert. Menschenrechtsbildung umfasst die Verknüpfung von Wissens-, Einstellungs- und Handlungsebene. Erfahrungen, die Kinder in einer sozialen Gemeinschaft in Bezug auf die Wahrung ihrer Bedürfnisse und Rechte erfahren, wirken sich positiv auf die moralische Entwicklung sowie auf das Verstehen und Anerkennen demokratischer Strukturen aus. Menschenrechts- und kinderrechtskonforme Strukturen in der frühen Bildung sind daher von enormer Wichtigkeit. Sie verleihen dem pädagogischen Ansatz ‚vom Kind her denken‘ eine neue Qualität, die es auf allen Ebenen und in jeglicher Konsequenz zu etablieren gilt.
     
  3. Rechte in Bildung und Erziehung zielen auf die Gestaltung von Lernprozessen und die Erfahrung der Selbstwirksamkeit in Gestalt einer menschenrechtsbasierten Bildung. Angesprochen sind in erster Linie Didaktik und Methodik, mit der die Pädagogik die Menschenrechte zu integrieren sucht. Es ist ein Appell an die unmittelbar an Bildungs- und Erziehungsprozessen Beteiligten, Angebote lehr- und lernseits so zu gestalten, dass Menschenrechtsbildung gelingen kann.

Konsequenzen für die elementare Praxis

Eine menschenrechtlich fundierte Pädagogik stärkt die gegenseitige Achtung und den Respekt. Menschenrechtsbildung zu institutionalisieren und nicht der Initiative Einzelner zu überlassen, bedingt Verständnis und Akzeptanz für Menschen- und Kinderrechte und ein gemeinsames Bemühungen aller am Bildungsgeschehen Beteiligten. Dies legt für den elementaren Bildungsbereich folgende Konsequenzen nahe:

  • Der quantitative Ausbau von qualitativ hochwertigen Bildungseinrichtungen sowie der Abbau von strukturellen Ungleichheiten muss forciert werden. Beide Aspekte führen nachweislich zur Erhöhung von Bildungschancen, Teilhabe und Inklusion.
  • Auf Leitungsebene initiierte und durch Elementarpädagog*innen getragene Aufbau- und Umgestaltungsprozesse können Menschenrechtsbildung als fixen Bestandteil pädagogischer Konzepte und professionellen Handelns etablieren.
  • In den frühpädagogischen Ausbildungs- und Hochschulcurricula und den Fort- und Weiterbildungsangeboten müssen menschenrechtliche Inhalte und thematisch relevante Bezüge (z. B. zu den Themen Inklusion, Diversität, Mehrsprachigkeit, Bildung für nachhaltige Entwicklung) flächendeckend und systematisch verankert sein. Wer Kinderrechte in Institutionen vermitteln und Menschenrechtspädagogik umsetzen möchte, darf nicht vergessen, dass Fachkräfte selbst Träger*innen von Menschenrechten sind. 
  • Kinderrechtsbildung findet immer kontextuell statt. Sie muss anschlussfähig sein an die Bildungsziele der Einrichtung und an die Lernzielebenen, ohne das Alter und den Entwicklungsstand des Kindes aus den Blick zu verlieren. Die Teilhabe an Bildungsprozessen eröffnet konkrete Auseinandersetzungen mit der sozialen Umwelt, die den Zusammenhang zwischen eigenen Bedürfnissen und Rechten sowie Pflichten und Regeln sozial, kognitiv, emotional und leiblich erfahrbar machen.
  • Kinder haben das Recht auf (staatlichen) Schutz, Fürsorge und Beteiligung für eine bestmögliche Entwicklung und Entfaltung (Vorrangigkeit des Kindeswohls); gleichzeitig muss die (wachsende) Eigenverantwortung, Selbstständigkeit und rechtliche Handlungsfähigkeit des Kindes berücksichtigt werden. Dieses Spannungsfeld wirkt sich auch auf die pädagogische Beziehung aus. Hier entscheidet sich, ob die Rechte des Kindes, die Achtung der Menschenwürde und damit die Ziele der Menschenrechtsbildung tatsächlich anerkannt werden.

Eine Orientierung an den Kinderrechten und Menschenrechten legt den Grundstein für eine professionelle pädagogische Praxis. So können auch pädagogische Bemühungen, Kinder zu befähigen, sich auszubilden und zu entwickeln, um erworbene Fähigkeiten für die Gesellschaft wirksam zur Entfaltung zu bringen, praktisch gelöst werden.

Literatur

Berdelmann, K. (2016). „Sein Inneres kennen wir nicht, denn es ist uns verschlossen“ – Schulische Beobachtungen und Beurteilung von Kindern im 18. Jahrhundert. Zeitschrift für Grundschulforschung, 9(2), 9–23.

Boer, H. de & Reh, S. (2012). Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer VS.

Dangl, O. & Lindner, D. (2021). Wie Menschenrechtsbildung gelingt. Theorie und Praxis der Menschenrechtspädagogik. Stuttgart: Kohlhammer. 

Eckermann, T., Heinzel, F. & Kreher, S. (2016). Das Bild vom Kind als Gegenstand der Kindheits- und Grundschulforschung – Methodologische Überlegungen zu Kindheitsbildern und ihren Beobachterinnen und Beobachtern. Zeitschrift für Grundschulforschung, 9(2), 88–101.

Kerber-Ganse, W. (2009). Die Menschenrechte des Kindes. Die UN-Kinderrechtskonvention und die Pädagogik von Janusz Korczak. Versuch einer Perspektivenverschränkung. Opladen: Barbara Budrich. 

Lenhart, V. (2006). Pädagogik der Menschenrechte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Unicef (2022). Die UN-Kinderrechtskonvention. Regelwerk zum Schutz der Kinder weltweit. https://www.unicef.de/informieren/ueber-uns/fuer-kinderrechte/un-kinderrechtskonvention

HS-Prof. Dr. Doris Lindner

HS-Prof. Dr. Doris Lindner, geb. 1975. 1995–2001 Studium der Soziologie und Pädagogik in Wien. 2005 Promotion in Soziologie. 2008–2013 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Palliative Care und OrganisationsEthik der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) der Universität Klagenfurt. Seit 2003 Professorin an der privaten Pädagogischen Hochschule Wien/Krems (KPH). Seit 2021 Hochschulprofessorin für Bildungssoziologie an der KPH Wien/Krems. Arbeitsschwerpunkte: Diversitäts- und Intersektionalitätsforschung, diskriminierungskritische Schule, Menschenrechtspädagogik, ethnographische Schul- und Unterrichtsforschung.

Mag. Dr. Johanna Bruckner

Mag. Dr. Johanna Bruckner, geb. 1980: Ausbildung zur Kindergarten- und Hortpädagogin. Diplomstudium der Psychologie in Wien. 2007–2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Wien. 2010 Abschluss Doktoratsstudium an der Universität Wien. 2013 Abschluss Psychotherapeutisches Propädeutikum. 2014–2015 Lehrbeauftragte/Universitätsassistentin an der Universität Wien. WS 2015/2016 Lektorin Alpen-Adria Universität Klagenfurt. 2015–2016: Mitarbeiterin in sonderpädagogischem Team (für Kindergarten und Krippe). 2016–2018: Klinische Psychologin bei Mobilen Diensten (für Kindergarten und Krippe). 2016–2018 Lehrbeauftragte an der Universität Wien. Seit 2018 Professorin an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems. Arbeitsschwerpunkt: Elementare Bildung.

Zeitschrift Frühe Bildung

Interdisziplinäre Zeitschrift für Forschung, Ausbildung und Praxis
 

Die Zeitschrift Frühe Bildung versteht sich als multidisziplinäres Forum der wissenschaftlichen und praktisch-relevanten Diskussion aller Themen der frühen Bildung einschließlich des Schulübergangs und der Schuleingangsstufe.