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Gewalt und Missbrauch im Leistungssport

Mehr als 1/3 der Leistungssportler*innen haben Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt, zunehmend werden erschütternde Fälle enthüllt. Noch häufiger werden Sportler*innen Opfer von psychischem Missbrauch, betroffenen sind Sportler*innen aller Altersgruppen. Das Bewusstsein, dass Prävention stattfinden muss, ist in den letzten Jahren gestiegen, aber welche Maßnahmen sollten ergriffen werden? Die SGSPP, die Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie hat ein Positionspapier vorgelegt, wir sprachen mit dem Vorstandsmitglied Marcel I. Raas über Ursachen der Gewalt und Möglichkeiten zur Prävention.

Turnhalle Ringe Gewalt und Missbrauch im Sport

Sicherlich muss mit einer hohen Dunkelziffer gerechnet werden, aber wie viele Sportler*innen sind in etwa von Gewalt und Missbrauch betroffen?

Wir könnten auch nur vom Hellfeld sprechen. In Befragungen im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Ermittlung der Prävalenz von sexualisierter Gewalt bei deutschen Leistungsathlet*innen (Ohlert et al. 2018) berichten 37,6% mindestens eine Situation sexualisierter Gewalt im organisierten Sport erlebt zu haben; 11,2% gaben schwere oder länger andauernde sexualisierte Gewalt an. Athletinnen waren signifikant häufiger betroffen als Athleten, und Personen mit einer nicht heterosexuellen Orientierung häufiger als Heterosexuelle. Die Mehrheit war bei der ersten Erfahrung sexualisierter Gewalt unter 18 Jahre alt.

Welche Formen von Gewalt und Missbrauch treten auf?

In der Regel wird die sexualisierte Gewalt im Kontext mit körperlicher und/oder emotionaler Gewalt verübt. Sie finden das ganze Spektrum, wobei schwere körperliche und sexualisierte Gewalt zum Glück in der Unterzahl zu finden ist. Die SGSPP hat dazu in einer Stellungnahme zu Gewalt und Missbrauch im Leistungssport und zur Berichterstattung zu den „Magglingen Protokollen“, also zu den 2020 in der Schweiz bekannt gewordenen Vorgängen in der rhythmischen Sportgymnastik Stellung genommen. Die häufigste Form von Gewalt ist wohl der psychische Missbrauch wie z.B. entwertende und entwürdigende Bemerkungen sowie situativ die Nichtbeachtung.

Wer ist besonders betroffen, gibt es Fälle in allen Altersgruppen und gibt es bestimmte Sportarten, in denen Fälle gehäuft auftreten?

Wir erleben eine breite Palette von Formen des Missbrauchs, die sich nach Alter und Sportart nicht klar unterscheiden. Grundsätzlich betreffen Gewalt und Missbrauch alle Athlet*innen jeden Alters und in allen Sportarten und auf jedem Leistungsniveau. Sexuelle Gewalt trifft mehr Frauen, körperliche Gewalt mehr Männer, wobei wegen Tabuisierung sexueller Gewalt von einer hohen diesbezüglichen Dunkelziffer ausgegangen werden kann. Kinder, Jugendliche, Frauen und Minderheitenpopulationen scheinen überproportional betroffen zu sein. Besonders vulnerabel sind LGBTQI+-Athlet*innen, die sowohl im unmittelbaren als auch im erweiterten Umfeld des Sports Ausgrenzung und Diskriminierung erleben und die dann mit Gewalt und Missbrauch verbunden sein können. Im Besonderen – aber nicht ausschließlich – wird Gewalt und Missbrauch im Leistungssport und dort in der Nachwuchsförderung verübt.

Grundsätzlich wird in allen Sportarten übergriffiges Verhalten verübt. Überall dort, wo ein starkes Machtgefälle oder Abhängigkeiten in den Beziehungen der täglichen Arbeit und im Training herrschen. Missstände herrschen aber besonders in den technisch-kompositorischen Sportarten (nebst Kunsturnen und rhythmischer Sportgymnastik gehören dazu Trampolin, Artistic Swimming und Figure Skating). Mindestens in der anlässlich der Magglingen-Protokolle vom Bundesrat in Auftrag gegebenen administrativen Untersuchung kommt man zu diesem Schluss. Diese Sportarten gelten wegen ihrer hohen Ansprüche an körperlicher Eignung und Begabung, frühe Spezialisierung und jungem Höchstleistungsalter als typische „Kindersportarten“. Diese Sportarten bedeuten für die Athlet*innen eine Vielzahl von gesundheitlichen Risiken mit Verletzungen, psychischen Störungen und Identitätsproblemen. Nicht vergessen dürfen wir das Ballett, welches mehr Kunst als Sport und nicht unbedingt in Verbänden und Vereinen organisiert ist.

Ist das Problem von Missbrauch im Leistungssport ein systemisches? Sind z.B. Vereine, Sportzentren u. ä. Einrichtungen grundsätzlich Orte, an denen die Gefährdungslage groß ist?

Es ist nicht der Verein oder die Einrichtung, an denen die Gefährdungslage groß ist. Wenn wir die Problematik systemisch betrachten, dann untersuchen wir in den Einrichtungen die Beziehungen und Interaktionen zwischen Athlet*innen, Trainer*innen und Eltern. Wer steht den Athlet*innen am nächsten? Es sind die Trainer*innen und die Eltern. Beide tragen sie für die gute Entwicklung und den Schutz der Athlet*innen eine hohe Verantwortung. In der Schweiz will der Bundesrat den Schutz der Athlet*innen nun ausbauen und die bereits bekannten und geforderten Ethikgrundsätze mit verschiedenen neuen Maßnahmen umsetzen. Dazu sollen die Athlet*innen ins Zentrum der Betrachtungen gestellt werden.  Das Ziel bleibt die Leistung neben der Freude und dem Willen am Wettkampf. Das geht nicht ohne den konsequenten und durchdachten Einbezug und die Abstimmung aller Akteure innerhalb und außerhalb des Trainings. Verbände und Vereine sind gefordert. Sie müssen nicht nur ihre Strukturen und Förderkonzepte anpassen, sie müssen teils auch grundlegende Anpassungen hinsichtlich Trainingsbedingungen und Material treffen. Das sind systemische Überlegungen zu systemischen Problemen.

Das Problem von Gewalt, auch sexualisierter Gewalt im Sport ist in den letzten Jahren vermehrt öffentlich geworden, hat dies schon zu Verbesserungen geführt?

Ja, in dem Sinne, dass diese Themen nun auch öffentlich diskutiert werden und von den Betroffenen ausgesprochen werden dürfen. In den Untersuchungen zu den Vorgängen in Magglingen wurde zusammenfassend festgestellt, dass ein dysfunktionales Leistungssportkonzept sowie konkretes Fehlverhalten von Verantwortlichen zu körperlichen und psychischen Schädigungen betroffener Athlet*innen führten. Das beschlossene Maßnahmenpaket des Bundesrates ist ein großer Schritt in die richtige Richtung.

Nein aber dann, wenn lediglich Ersetzen und allenfalls Abstrafen von „schwierigen“ Trainer*innen keine Verbesserungen und Erfolg in der Prävention von Gewalt und Missbrauch brachten. Diese Feststellung ist sehr bitter v.a. auch deswegen, weil man sich nie ernsthafte Gedanken um systemische Zusammenhänge machte. Zwar bekannte man sich zu Ethikgrundsätzen im Sport, welche allerdings mehr auf dem Papier verharrten und sich kaum in den Köpfen der Verantwortlichen und damit ihrem Handeln und Verhalten festsetzen konnten.

Werden Ihres Erachtens nach (Sport-)Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen genug in Präventionskonzepte einbezogen?

Die SGSPP besteht erst 3 Jahre seit 2019, von daher seitens Psychiatrie nein. Überlegungen zu Prävention von Gewalt und Missbrauch im Leistungssport werden auch von der Sportmedizin, Sportpsychologie und Sportwissenschaften aufgegriffen. Im Sinne einer interdisziplinären und interprofessionellen Zusammenarbeit gehören die beiden medizinischen Fachdisziplinen mit Expertise für die psychische Gesundheit und Erkrankungen, namentlich die Fachgebiete der Kinder- und Jugendpsychiatrie und  
-psychotherapie sowie die Psychiatrie und Psychotherapie in die Präventionskonzepte integriert. Maßgebend ist besonders die störungs- und erkrankungsspezifische Expertise für die Diagnostik, Behandlung, Nachsorge und Prävention. Psychische Erkrankungen und insbesondere die Traumafolgestörungen gehören in die Hände von klinisch erfahrenen Fachpersonen, d.h. Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen sowie Fachpsycholog*innen für Psychotherapie mit entsprechender Expertise.

Sie empfehlen in Ihrem Positionspapier verschiedene Maßnahmen, wie könnte eine erfolgreiche Prävention aussehen?

Erfolgreich ist eine Prävention nur dann, wenn sie von allen an der Entwicklung der Athlet*innen Beteiligten verstanden und mitgetragen wird. Im Zentrum stehen die Athlet*innen, die ihren Sport mit höchster Leistung, Freude und Ausdauer ausüben wollen. Dazu müssen sie sich in Ruhe und geordnet vorbereiten können, wozu ihnen Trainer*innen und Angehörige unterstützend, fördernd und fordernd nahestehen. Im Leistungssport gewinnen die Stärksten.  Die gute und erfolgreiche Mischung in Unterstützen, Fordern und Fördern zu finden, ist sehr anspruchsvoll. Dazu gehören Härte und Rigidität sowie Wohlwollen und Flexibilität. Sport, der allerdings Athlet*innen ausbeutet sowie Menschenrechte und den Kindesschutz missachtet, verletzt die Ethik und gehört „abgepfiffen“.

Wir empfehlen verschiedene Maßnahmen, die grundlegend für alle Sportarten gelten können, allerdings auch sportartspezifisch operationalisiert werden müssen. Dazu stellen sich zahlreiche Fragen, die gemeinsam und besonders mit Trainer*innen, den Vereinen und ihren Verbänden beantwortet werden müssen. Was sind sportartspezifische Bedürfnisse und Risiken? Wie entwickelt und implementiert man ein Konzept für psychische Gesundheit im Leistungssport in die sportmedizinische Versorgung? Wie vertritt man Ethik und Kinderschutz im Leistungssport? Was versteht man überhaupt unter Ethik? Wie schult und sensibilisiert man den Umgang mit Grenzverletzungen?  Wie geht man mit psychischen Belastungen und Erkrankungen, besonders Traumafolgestörungen, um und bindet qualifizierte psychiatrisch-psychotherapeutische Fachpersonen ein? Wie bildet man Trainer*innen entsprechend aus und vermittelt angemessenes Wissen zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen? Wie sieht der Einbezug von Eltern aus? Was muss man tun, damit die Athlet*innen wirklich im Zentrum stehen? Wir empfehlen, diese Maßnahmen mit einem systemischen Verständnis und entsprechender Expertise und Kompetenz umzusetzen. Transparenz in den Trainingsstrukturen, in den Beziehungen zu den Athlet*innen und in ständiger Klärung von Rollen der am Training und im Wettkampf Beteiligten, bietet beste Voraussetzungen für eine wirksame Prävention von Gewalt und Missbrauch. In dem Sinne gilt: Prävention muss man wollen und man muss sie können!

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

 

Weiterführende Literatur:

Raas MI, Schneeberger AR et al. Positionspapier Gewalt und Missbrauch im Leistungssport. Praxis 2022; 111 (4); 1-8 (siehe unten)

Schneeberger AR et al. Gewalt und Missbrauch im Leistungssport. Schw Z Psychiatr Neurol 2021; 3:4-6.

Claussen MC. Gewalt und Missbrauch im Leistungssport. Schwz Ärzteztg. 2020; 101:1725-1727.

 

Das Gespräch führte Anja Kütemeyer für den Verlag.

Marcel I. Raas

Marcel I. Raas, dipl. Arzt,  bildete sich nach dem Medizinstudium in Zürich (Staatsexamen 1986) zum Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie weiter. Seit 1997 ist er in eigener Praxis in Winterthur tätig. Seit 2020/21 ist er im Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie (https://sgspp.ch/cmf/ ) für das Ressort Kinder- und Jugendpsychiatrie zuständig.