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Gruppenintervention „Mein Weg“ für traumatisierte junge Geflüchtete

Flucht ist meistens mit traumatischen Ereignissen verbunden. Gerade (unbegleitete) minderjährige Geflüchtete benötigen daher dringend therapeutische Hilfe und Unterstützung.

Die traumafokussierte pädagogische Gruppenintervention „Mein Weg“ wurde genau zu diesem Zweck entwickelt. Erstautorin von „Mein Weg“ ist Elisa Pfeiffer. Wir haben mit ihr über Traumatisierung während und nach der Flucht sowie über Möglichkeiten der Gruppenintervention gesprochen.

Die Zahl der Betroffenen

Frau Pfeiffer, ein traumatisches Erlebnis führt nicht in jedem Fall zu einer Traumafolgestörung. Wie viele der minderjährigen Flüchtlinge sind tatsächlich davon betroffen?
Etwa jeder zweite minderjährige Geflüchtete berichtet Symptome der Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und etwa jeder dritte Angst- und/oder Depressionssymptome. Minderjährige Geflüchtete berichten weitaus mehr traumatische Erlebnisse als Kinder und Jugendliche in Deutschland, was ein Grund sein kann, warum sie im Vergleich häufiger an Traumafolgestörungen leiden. Denn bei Kindern und Jugendlichen aus westlichen Ländern wie Deutschland entwickeln nur etwa 15–20 % von denjenigen, die ein traumatisches Erlebnis berichten, auch eine PTBS.

Wovon hängt es ab, ob ein Trauma zu einer PTBS führt? Welche Risikofaktoren gibt es?
In der internationalen Fachliteratur gibt es bereits zahlreiche Hinweise auf Risikofaktoren für die Entwicklung einer PTBS. Dabei unterscheiden sich die Risikofaktoren bezüglich der Stärke ihres Einflusses. Große Effekte findet man beispielsweise für wahrgenommene Lebensbedrohung und Angst während des traumatischen Erlebnisses oder Gedankenunterdrückung nach dem Trauma. Mittlere Effekte haben beispielsweise weibliches Geschlecht oder ein niedriger sozioökonomischer Status. Eher kleine Effekte findet man für ein jüngeres Alter oder die Zugehörigkeit zu einer Minderheit. 
Dabei kommt es natürlich auch auf die spezifische Kombination verschiedener Risikofaktoren bei den einzelnen Betroffenen an. So birgt beispielsweise das Erleben von multiplen, interpersonalen und wiederholten traumatischen Erlebnissen (wie sie auch im Krieg und auf der Flucht vorkommen) ein erhöhtes Risiko, eine PTBS zu entwickeln. Wie hoch das Risiko ist, eine PTBS zu bekommen, hängt also auch davon ab, wie viele verschiedene Risikofaktoren man hat und wie sie sich zusammensetzen, und nicht nur davon, wie stark der einzelne Risikofaktor ist.

Was bedeutet das für die Diagnostik von Traumata?
Die verschiedenen Risikofaktoren sollten im Rahmen der Trauma-Diagnostik standardmäßig abgefragt werden, um die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer PTBS besser prüfen zu können und folgerichtige Interventionen einzuleiten.

Die Verursachung und Diagnostik von Traumata

Traumatisierungen vor, während und nach der Flucht

Wenn man an Traumata bei Flüchtlingen denkt, hat man zunächst Bilder von Krieg, Verfolgung und lebensbedrohlichen Situationen auf der Flucht selbst im Kopf. Aber geht nicht auch die Ankunft im Aufnahmeland mit Traumatisierungen einher?
Ja, besonders bei jungen Geflüchteten spricht man von einer sequentiellen Traumatisierung, da sie oftmals multiple und heterogene traumatische Erlebnisse vor-, während- und nach ihrer Flucht haben. Angekommen im Aufnahmeland sind Geflüchtete mit traumatischen Erlebnissen wie Gewalterfahrungen und vielen weiteren Stressfaktoren konfrontiert.

Um was für Erlebnisse und Stressfaktoren handelt es sich genau?
Es handelt sich um die sogenannten „Post-Migrations-Faktoren“. Diese umfassen beispielsweise Ungewissheit bezüglich des Asylstatus, die Sprachbarriere, wiederholte Wohnortwechsel, ein unbekanntes Gesundheits- und Sozialsystem, Arbeitslosigkeit oder Diskriminierung. Zusätzliche psychische Herausforderungen können auch unerfüllte Erwartungen an das neue Zuhause, bedrückende Nachrichten aus der Heimat oder der Verlust von Identität und sozialer Rolle sein. Sie erschweren den Alltag sowie die Integration in die neue Heimat und machen den Schulbesuch zur täglichen Herausforderung.

Wie wichtig ist es, die individuelle Situation der Betroffenen in den Blick zu nehmen?
Die traumatischen Erlebnisse und Post-Migrations-Faktoren unterscheiden sich sowohl im objektiven als auch im subjektiven Empfinden deutlich bei den einzelnen jungen Geflüchteten und sollten deshalb in jeder Behandlung individuell beachtet und thematisiert werden.

Da wiegt es besonders schwer, dass viele Jugendliche keine psychotherapeutische Behandlung aufsuchen. Warum ist das so?
Zum einen gibt es verschiedene strukturelle Barrieren (beispielsweise Therapeutenmangel oder ungünstige gesetzliche Bedingungen für Asylbewerber) und zum anderen individuelle Barrieren (beispielsweise Sprachbarrieren, Fehlen eines subjektiven Krankheitskonzeptes, Angst vor Stigmatisierung). So erhalten leider auch heute noch sehr wenige minderjährige Geflüchtete eine adäquate traumafokussierte Psychotherapie.

Chancen der Gruppenintervention "Mein Weg"

Wie kann die Gruppenintervention „Mein Weg“ diese Barrieren durchbrechen?
Die Intervention „Mein Weg“ setzt genau an dieser Versorgungslücke an, indem pädagogische und psychologische Fachkräfte darin bestärkt werden, traumafokussiert mit jungen Geflüchteten zu arbeiten und diese bei ihrer Traumabewältigung zu unterstützen.
Tatsächlich braucht nämlich nicht jeder Jugendliche, der posttraumatische Stresssymptome zeigt, eine Psychotherapie. Oft reicht ein niedrigschwelliges Angebot. Häufig stellt die Intervention auch eine Vorstufe der psychotherapeutischen Maßnahme dar, in welcher die Hemmschwelle zur Aufnahme einer Psychotherapie gesenkt und die Motivation zur Teilnahme an einer psychotherapeutischen Maßnahme gesteigert werden kann. 
Ein großer Vorteil der Intervention ist auch, dass sie in einer für die jungen Geflüchteten bekannten Atmosphäre (z.B. Jugendhilfe) durch bekannte Bezugspersonen durchgeführt werden kann.

„Mein Weg“ wird als Gruppenintervention angeboten. Welche Vorteile hat die Arbeit in der Gruppe?
Gruppensettings haben im Vergleich zum Einzelsetting neben der Kosteneffizienz wichtige Vorteile. Dazu gehören die Reduktion wahrgenommener Stigmatisierung und Diskriminierung, gegenseitige Unterstützung der Teilnehmenden und das entstehende Gruppenzugehörigkeitsgefühl während der Behandlung.

„Mein Weg“ wurde von Psychotherapeuten und Forschern in Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe entwickelt. Die Studien zum Programm fanden zum größten Teil in Einrichtungen der Jugendhilfe statt. Kann die Intervention auch in anderen Bereichen durchgeführt werden? Zum Beispiel in Kinder- und Jugendpsychiatrien?
Tatsächlich wurde die Intervention bisher fast immer von geschulten Pädagogen in Jugendhilfeeinrichtungen im stationären oder ambulanten Setting und in Schulen durchgeführt. An der Pilotstudie nahmen aber auch Beratungsstellen teil, in welchen die Intervention gut durchgeführt werden konnte. Wir haben zusätzlich mit unseren ambulanten Patienten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm erfolgreich eine Gruppe durchgeführt. 
Somit kann ich mir gut vorstellen, dass die Intervention „Mein Weg“ nicht nur in Jugendhilfeeinrichtungen, sondern auch in Beratungsstellen, in Schulen, in Kinder- und Jugendpsychiatrien oder in ambulanten psychiatrischen oder psychotherapeutischen Praxen erfolgreich angeboten werden kann.

Wie funktioniert "Mein Weg"?

Für „Mein Weg“ haben Sie ein sprachfreies Workbook entwickelt und auch Arbeitsmaterialien in verschiedene Sprachen übersetzt. Was waren die Herausforderungen dabei?
Aufgrund der vielen verschiedenen Muttersprachen der jungen Geflüchteten und dem Mangel an Dolmetschern haben wir bei der Entwicklung des Manuals viel Wert darauf gelegt, die Materialien entweder möglichst sprachfrei, also mit vielen Grafiken/Symbolen und gleichzeitig wenig Text, oder in den jeweiligen Muttersprachen aufzubereiten.
Zum Glück hatten wir einen sehr guten Zeichner im Team und viele freiwillige junge Geflüchtete, die die Grafiken immer wieder für uns geprüft haben. Zusätzlich konnten wir auf bereits vorhandene Texte (z.B. in der Psychoedukation) zurückgreifen.
Eine große Herausforderung war jedoch die Übersetzung der neu erstellten Materialen (z.B. die Fragebögen zur Trauma-Diagnostik), für welche wir eng mit professionellen Übersetzungsbüros zusammengearbeitet haben. Die Vor- und Rückübersetzungen waren sehr aufwendig und mussten mehrfach geprüft werden. Diese Übersetzungen stehen nun auch zur freien Verfügung.

In welchen Sprachen liegen die Fragebögen zur Trauma-Diagnostik vor?
Natürlich war es nicht möglich, die Materialien in alle Muttersprachen der Zielgruppe zu übersetzen. Deshalb haben wir in Umfragen die Jugendhilfemitarbeiter und Geflüchteten direkt gefragt, welche Sprachen am häufigsten gesprochen werden, und uns auf diese konzentriert. Im Rahmen von „Mein Weg“ wurden der Traumafragebogen CATS und der Depressionsfragebogen PHQ-9 in mehrere Sprachen übersetzt: Deutsch, Englisch, Norwegisch, Spanisch, Französisch, Arabisch, Dari, Farsi, Tigrinya, Somali und Paschtu.

Sie bieten auch Schulungen und Supervision zum Programm „Mein Weg“ an. Wie kann man daran teilnehmen?
Parallel zur Durchführung der Intervention empfehlen wir eine Schulung zu Trauma, Traumafolgestörungen und der Anwendung des Manuals sowie eine kontinuierliche Supervision durch erfahrene Kliniker. Gemeinsam mit unseren Partnern aus der Jugendhilfe wurden schon mehr als 86 Interventionsgruppen von geschulten und supervidierten Gruppenleitern durchgeführt. Die Rückmeldung der Gruppenleiter war stets, dass Schulung und Supervision als sehr hilfreich empfunden wurden, insbesondere bei der Durchführung der ersten Gruppe.
Somit sind wir im Jahr 2018 eine Kooperation mit dem TRAIN Traumainstitut München unter der Leitung von Prof. Dr. Rita Rosner eingegangen. Dieses Institut lehrt wissenschaftlich fundierte Methoden der Traumatherapie und Traumapädagogik, weshalb wir uns sehr freuen, dass „Mein Weg“ in ihr Programm aufgenommen wurde. Falls nur der Wunsch auf Supervision besteht, können unsere zertifizierten "„Mein Weg“-Supervisoren zudem direkt angefragt werden.

M. Sc.-Psych. Elisa Pfeiffer

Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm und Projektleiterin von „Mein Weg“.

Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Diagnostik und Behandlung von Traumafolgestörungen bei Kindern und Jugendlichen, insbesondere jungen Geflüchteten.

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