DeutschPflege und Health professionals

Im Epizentrum des Sturms: Überleben in der Pflegepraxis

Angesichts der komplexen und herausfordernden Situationen in der alltäglichen Pflegepraxis finden sich die Auszubildenden, Studierenden und frisch examinierten Pflegefachkräfte (Young Professionals) vom ersten Tag an in der Mitte des Geschehens. Mit all dem Zauber des Anfangs, ihrem Engagement und ihrer Motivation treffen sie auf Situationen, die geprägt sind von der Sorge um finanzielle und personelle Ressourcen und von Forderungen an eine qualitativ hohe Gesundheitsversorgung. Die komplexen Krankheitsbilder der zunehmend alten, chronisch und multimorbid erkrankten Menschen erfordern ein Vorgehen, das mit einem hohen Anspruch an die Gesundheitsberufe einhergeht und wenig Raum lässt für eine langsame und stetige Entwicklung einer professionellen Rolle der Young Professionals.

Bildung und Gesundheit sind die Anker einer funktionsfähigen Gesellschaft. Im Bereich der Gesundheit wird der Pflege zunehmend eine Schlüsselrolle zugesprochen, die jedoch noch nicht ausreichend formuliert, finanziert und politisch unterstützt wird. Pflege hat in den letzten Jahren – und nicht erst durch die COVID-Pandemie – für verstärktes Interesse gesorgt und ist zum zentralen Dreh- und Angelpunkt eines professionellen Gesundheits- und Krankheitsmanagements geworden. Dabei ist der Raum für Lehren und Lernen zunehmend unter Veränderungsdruck geraten, setzt er doch den Grundstein für eine professionelle und qualitativ hohe Pflege. Gut ausgebildete Pflegefachkräfte sind der Garant für eine erfolgreiche Gesundheitsversorgung.

Von der Ausbildung in die Praxis - Transition

In diesem Kontext erscheint nun im Hogrefe Verlag das Buch „Überlebensbuch Pflege“ von Judy Duchscher in der deutschen Übersetzung und Adaption. Duchscher hat sich in vielen Studien über Jahrzehnte hinweg mit dem Lehren, Lernen und Managen in der Pflege beschäftigt, insbesondere mit dem Übergang der Young Professionals aus der Rolle der Auszubildenden/Studierenden in die Rolle der examinierten Pflegefachkraft. Dies kennzeichnet Duchscher als Transition, als Übergang, mit den Zeichen eines persönlichen und beruflichen Umbruchs und Wandels: psycho-soziale Entwicklung in der Lebensphase einer*eines jungen Erwachsenen, psychische und emotionale Befindlichkeit und physische Stabilität sind Eckpfeiler dieser Transition. Die Abbildung zeigt die vielfältigen Herausforderungen mit ihren Auswirkungen auf die persönliche und die berufliche Ebene. Die Young Professionals auf ihrem Weg und in ihrer Entwicklung zu begleiten und zu unterstützen, ist die Aufgabe der Pflegepädagog*innen, Pflegemanager*innen und allen Expert*innen in der Pflegepraxis.

Die Anforderungen der Transition zeigen sich konkret in den alltäglichen Situationen in der Pflegepraxis, in den Interventionen der Pflege im Rahmen des Pflegeprozesses. Den ersten Sprung der Auszubildenden/Studierenden in diese Pflegepraxis nennt Duchscher den Transitionsschock, ausgelöst durch überwältigende Gefühle und dem gleichzeitigen Eindruck einer umfassenden Unfähigkeit, diese Situationen zu bewältigen. Dieser Transitionsschock geschieht in vier Kategorien:

  • Pflichten: in der Phase der Ausbildung wie auch in der ersten Zeit nach dem Examen stellen sich neue berufliche wie private Pflichten, die bewältigt werden müssen und in denen es viele neue Anforderungen gibt. Hier eine Balance zu schaffen, ist eine wesentliche Aufgabe in der Ausbildung.
  • Kenntnisse: die Kenntnisse entwickeln sich nur selten linear, sondern eher zirkulär. Sie werden immer abgeglichen mit den Erwartungen an sich selbst und der anderen. Mit den Kenntnissen entwickelt sich ein professionelles Selbstverständnis und die Auszubildenden wachsen in eine gemeinsame professionelle Kultur hinein.
  • Rollen: die Pflegepraxis zeigt sich ambivalent, mit unscharfen Grenzen und vielfältigen Aufgaben, die oft nicht eindeutig zuordenbar sind. Es bleibt eine hohe Anforderung für die Auszubildenden, sich flexibel den Situationen zu stellen und doch die Advocacy-Rolle der Pflege im Interesse der Patient*innen zu sichern.
  • Beziehungen: In den zwischenmenschlichen Beziehungen zeigen sich die Dynamiken der ganzen Situation, beruflich wie privat. Sie sind ein Spiegel für private und berufliche Sicherheiten und bilden das Fundament für eine gelingende persönliche, geistige und seelische Entwicklung.

„Ich thematisiere diese vier Kategorien […], weil ich der Überzeugung bin: Egal, welche Kategorien oder damit zusammenhängenden Elemente es sind, die für Sie mit der geringsten Stabilität, Vorhersagbarkeit, Vertrautheit und Beständigkeit einhergehen, es sind Bereiche, in denen Ihre Bewältigungsstrategien gefragt sind. Wenn Sie wissen, was sich negativ auf Ihre Transitionserfahrungen auswirkt oder auswirken könnte, dann gelingt es Ihnen besser, die Herausforderungen zu meistern und das Ausmaß und die Dauer Ihrer Transitionsschockerfahrung zu minimieren.“

Judy Boychuk Duchscher

Erfolgreich auf dem Weg zur Pflegefachkraft

Wie gelingt es nun den Auszubildenden, ihre berufliche Rolle zu entwickeln, mit den Belastungen und Beanspruchungen umzugehen und eine eigene berufliche Identität zu erlangen? Wie bewältigen sie den Übergang von der Auszubildenden/Studierenden zur examinierten Pflegefachkraft? Welche Unterstützung brauchen sie, um ihre ersten Schritte als verantwortliche Pflegefachkraft erfolgreich zu gehen?

Analog der vier Kategorien der Transition zeigt Duchscher konkrete Bewältigungsstrategien für Auszubildende und Studierende auf und beschreibt im Weiteren, wie Pflegepädagog*innen und Pflegemanager*innen als Mediator*innen, Coachs und pflegefachliche Expert*innen diese Unterstützung bieten können und müssen. Es ist ihre Aufgabe, für die idealen Bedingungen am Arbeitsplatz zu sorgen, die nach Duchscher im oben genannten Zitat als stabil, vorhersagbar, vertraut und beständig erlebt werden sollen.

Das „Überlebensbuch Pflege“ ist gespickt mit Erkenntnissen, begründet auf viele Aussagen der Interviewpartner*innen. Eben diese Aussagen der Young Professionals lassen aufhorchen und bergen gleichzeitig in sich schon die Antworten und Lösungen für Pflegepädagpog*innen, Pflegemanager*innen und Pflegeexpert*innen.

(Zitat einer frisch examinierten Pflegefachkraft)

„In der ersten Zeit, also in den ersten drei Monaten, habe ich mich gefragt, ob dieser Beruf etwas für mich ist oder nicht. Ich zweifelte an mir; ich zweifelte an meinen Fähigkeiten und ich zweifelte an allem, was ich in der Pflege gelernt hatte. Dann fing ich an, kleine Fortschritte zu machen, aber sofort kam wieder ein leichter Rückschlag ungefähr nach sechs Monaten, und der Stress und die überwältigenden Gefühle, einfach alles war wieder da und ich dachte. Ich weiß gar nichts mehr. Doch jetzt würde ich sagen, seit dem letzten Monat habe ich ein gutes Gefühl. Es macht mir keine Angst mehr, zur Arbeit zu gehen und ich habe deswegen keine schlaflose Nacht mehr.“

Basierend auf ihren Studien hat Duchscher ein Konzept entwickelt, das in fünf Phasen den Weg der Young Professionals beschreibt und ihre Entwicklung zur Pflegefachkraft zeichnet. Sie benennt dabei auch die Methoden der Unterstützung und die Rolle der Pflegeexpert*innen, der Praxisanleiter*innen, der Pflegemanager*innen als klinische Coachs und Mentor*innen (Anhang 4.1 und 4.2).

  • Phase 1: Vorbereitung: Sozialisation in die professionelle Rolle, Erfahrungen der Auszubildenden/Studierenden, Einarbeitung und Strategien der Unterstützung
  • Phase 2: Orientierung: Einschätzung der Kenntnisse und der Fähigkeiten, Feedback, Aufbau persönlicher Kontakte
  • Phase 3: Transition: Diskussion über professionelle Kultur und Bedingungen am Arbeitsplatz, Programm zum interdisziplinären Wissensaustausch, Feedback und Einschätzung, Zeitmanagement
  • Phase 4: Integration: Bewältigungsstrategien, Umgang mit sich selbst, Entwicklung eines kompetenten Urteilsvermögens und einer professionellen Tätigkeit im Pflegeprozess
  • Phase 5: Stabilisierung: Klinische Beratungen, anspruchsvolle Praxisrotationen, Engagement für die Praxisentwicklung

Ziel soll es sein, die „Neuen“ wachsen und gedeihen zu lassen und ihre Entwicklung zur Pflegefachperson zu fördern. Angesichts der vielseits bekannten Anforderungen der derzeitigen Pflegepraxis, kann die Notwendigkeit für eine Unterstützung nicht hoch genug eingeschätzt werden, will man die diplomierten Pflegefachpersonen im Berufsfeld halten.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern einen Gewinn durch die Lektüre des Buches, der sich auch in ihrer beruflichen Praxis niederschlägt. Als Auszubildende/Studierende, als Pflegepädagog*in, als Pflegemanager*in können Sie profitieren von den Aussagen der Interviewpartner*innen und den Interpretationen von Judy Duchscher. Ihre Studie hat gezeigt, wie Sie in den verschiedenen Phasen unterstützen und unterstützt werden können. Vieles wird Ihnen in Ihrem beruflichen Alltag begegnen und mit der Lektüre mögen sich Ihnen weitere Türen öffnen zu einem gelingenden Umgang mit den „frisch examinierten“ Pflegefachpersonen.

Barbara Müller

Barbara Müller, Dipl. Pflegewirtin, Dozentin und Lehrbeauftragte in BA-Studiengängen der Pflege, Programmleitung Gesundheitsberufe (Hogrefe Verlag, Bern)

barbara.mueller@hogrefe.ch

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