DeutschKlinik und Therapie

Intelligenzdiagnostik bei Geflüchteten

Die Aufgabe, die kognitive Leistungsfähigkeit bzw. Intelligenz von Personen mit Migrationshintergrund und von Geflüchteten einzuschätzen, stellt für Diagnostiker*innen eine besondere Herausforderung dar. Die verfügbaren Verfahren werden den Anforderungen, die an sie gestellt werden, oftmals nicht gerecht. Wir haben mit Dr. Weiß, dem Autor des CFT 20-R, darüber gesprochen, unter welchen Bedingungen eine faire, reliable und valide Intelligenzdiagnostik bei Geflüchteten möglich ist.

Herr Doktor Weiß, Diagnostiker*innen stehen regelmäßig vor der Aufgabe, das Potenzial Geflüchteter einzuschätzen. Welche Fragestellungen, bei denen psychologische Instrumente zum Einsatz kommen, sind in diesem Kontext besonders häufig?

Grundsätzlich sind hier zwei Fragestellungen besonders häufig: Bei Kindern und Jugendlichen geht es um die Frage der passenden Schulform. Bei Erwachsenen geht es um die Frage, für welche Berufe sie geeignet sind. Gemeinsam ist beiden Situationen die Frage nach dem kognitiven Potenzial.

In der vorherrschenden Praxis bei den Auswahlverfahren in Betrieben und dem öffentlichen Dienst findet man in der Regel folgende standardisierte Entscheidungsindikatoren: Strukturierte Einstellungsgespräche, Schulnoten, bestenfalls noch standardisierte Schulleistungstests zum Rechnen, Rechtschreiben etc., Prüfung von Fachkenntnissen, Arbeitsproben, Interessenstests, allgemeine Intelligenztests und Persönlichkeitstests. Ungefähr bei der Hälfte dürften zudem aber auch soziale Kriterien wie der Sozialstatus und der Migrationshintergrund einen Einfluss haben. Offiziell sollen die letztgenannten Kriterien natürlich keine Rolle spielen, jedoch geschieht dies teilweise auch unbewusst.

Darin liegt auch der Grund für riesige Defizite bei der Zulassung zu höheren Schulen und bei der verschwindend geringen Beschäftigung von Menschen mit Migrationshintergrund in bestimmten Betrieben und vor allem in der öffentlichen Verwaltung.

Ursächlich ist die Dominanz sprachlich gebundener Entscheidungskriterien, die sich besonders nachteilig auf Menschen aus bildungsfernem Milieu und solchen mit Migrationshintergrund auswirken. Die Beratung von geflüchteten Menschen wird durch die auftretenden Flüchtlingsbewegungen immer wieder zu einem aktuellen Thema – und stellt die Diagnostik vor eine besondere Herausforderung.

Die Herausforderungen bei der Intelligenzdiagnostik von Geflüchteten

Was ist aus diagnostischer Sicht das Besondere oder auch die Schwierigkeit bei dieser Probandengruppe, wenn es darum geht, Intelligenz zu untersuchen?

In vielen gängigen Verfahren zur Intelligenztestung wird heute noch hauptsächlich die kristallisierte Intelligenz gemessen – in Form von Sprach-, Zahlen- und Wortschatzaufgaben. Bedingt durch eine, meist mit dem Status der Migrant*innen einhergehende, benachteiligte soziale Herkunft und ein bildungsferneres Elternhaus, kann es in der Kindheit der Migrant*innen dadurch zu einer vergleichsweise geringeren Ausprägung der kristallisierten Intelligenz kommen. Durch die ausschließliche Erfassung der kristallisierten Intelligenz (zudem bei maximaler Differenz der beiden Intelligenzformen in diesem Alter) kommt es zu einer konsequenten Unterschätzung des allgemeinen Intelligenzniveaus dieser Gruppe von Migrant*innen. Gerade bei dieser Bevölkerungsgruppe muss also die Erfassung der fluiden Intelligenz im Vordergrund stehen.

Hinzu kommt, dass viele Migrant*innen nur über geringe oder gar keine Deutschkenntnisse verfügen. Teilweise liegt auch eine geringe Beschulungsdauer vor und die Migrant*innen kamen nur selten vorher mit Tests in Berührung. Die mangelnde Vertrautheit im Umgang mit Testmaterial, wir sagen dazu auch fehlende „Testsophistication“, kommt dann erschwerend hinzu.

Welche Anforderungen ergeben sich daraus an Instrumente zur Einschätzung der Intelligenz?

Die Intelligenz sollte präzise, valide und gerecht erfasst werden. Im Sinne von Raimund B. Cattell (1963) geht es um die sog. „Fluid Ability“ (fluide Intelligenz), ein Begriff, den er bereits Anfang der 1960er-Jahre geprägt hat und der sich als wissenschaftlich relevant und praktisch gut umsetzbar in psycho-diagnostischen Verfahren erwiesen hat. Wesentliche Dimensionen wie Erkennen von Gesetzmäßigkeiten, logische Schlussfolgerungen und geistige Verarbeitungskapazität müssen dabei so erfasst werden, dass man trotz sprachlicher Handicaps und kultureller Abweichungen den Anspruch auf eine gerechte Diagnose erheben kann.

Der CFT 20-R in der Intelligenzdiagnostik bei Geflüchteten

Inwiefern kann der CFT 20-R diese Anforderungen erfüllen?

Ein absolutes „CultureFree“-Testen kann es nicht geben. Deswegen sprechen wir bei den CFT-Skalen auch von „Culture Fair“-Tests, d.h. der Test ist im Vergleich zu anderen Verfahren „relativ kulturfrei“. Bei der Entwicklung der deutschen CFT-Skalen (Grundintelligenztest) haben wir von Anfang an (seit 1971) unser Augenmerk auf ein gerechtes Diagnostikum für Kinder mit Migrationshintergrund gerichtet. Im neuen Manual zur 2. Auflage des CFT 20-R (Hogrefe Verlag, 2019) wird darüber ausführlich berichtet.

Belastbare Belege auf der Basis früherer Studien habe ich bereits 2006 referiert und dabei insbesondere auf die Möglichkeiten des CFT 20-R bei der Reduzierung negativer Einflüsse auf die Testleistung durch sprachliche Defizite und mangelnde Vertrautheit mit Testaufgaben hingewiesen. In Abbildung 1 habe ich die unterschiedlichen Ergebnisse von Teil 1 und Teil 2 des CFT 20-R für verschiedene Gruppen von Schüler*innen dargestellt. Auffällig ist, dass bei Kindern mit Migrationshintergrund der Teil 2 deutlich besser ausfällt als Teil 1, während sich dieser Unterschied bei deutschen Kindern nicht findet. Es ist also wichtig, beide Testteile des CFT 20-R durchzuführen, wobei der erste Teil als „Lerntest“ gilt und für die Diagnose der „Fluiden Intelligenz“ nur das IQ-Ergebnis des 2. Testteils herangezogen wird. Dies kann man gut in Abbildung 1 erkennen. Bei Klienten, die im ersten Testteil bereits einen IQ von > 120 erreichen, ist die Durchführung des 2. Teils allerdings überflüssig.

Abbildung 1: Testleistungen im CFT 20/CFT 20-R Teil 1 und 2 bei verschiedenen Schülergruppen der 3. und 4 Klasse (Synopse aus Erhebungen von 1998 und 2003), Gruppe „Deutsch (repräs.)“ N = 948; alle anderen Gruppen zusammen N = 818.

Anmerkung: In der Gruppe „andere“ sind Kinder aus Migrationsfamilien anderer Länder enthalten (insbesondere arabische und Balkanländer).

Die aktuelle Lage

Wie schätzen Sie die derzeitige Situation der (Intelligenz-) Diagnostik bei Geflüchteten ein?

Erste Erfahrungen mit der Intelligenzdiagnose bei geflüchteten Menschen konnten in der Berliner Flüchtlings-Hilfseinrichtung FairWelcome gewonnen werden. Dort wurde der CFT 20-R in den Jahren 2017 und 2018 bei 92 Klienten zur Intelligenzdiagnostik eingesetzt. Es zeigte sich, dass es teilweise Probleme beim Verständnis der Instruktionen gab (diese lagen auf Deutsch, Englisch und Hocharabisch vor). Es erwies sich hier als zielführend, die Instruktionen anhand der Übungsbeispiele mit einem Dolmetscher oder auch mit Gesten und Zeichen zu erläutern.

Ergebnisse der verwertbaren Daten von 92 geflüchteten Menschen

  • Das IQ-Spektrum der durch FairWelcome in Berlin getesteten Flüchtlinge reicht von 64 bis 121 mit einem Mittelwert von 92. Der CFT 20-R kann die Intelligenz also gut differenzieren. Es ist jedoch zu beachten, dass in dieser Erhebung, entgegen der Empfehlung, nur Teil 1 durchgeführt wurde. Ergebnisse des aussagekräftigeren Teil 2 waren nicht vorhanden. Es kann aufgrund der bisherigen Studien zum CFT daher vermutet werden, dass die Ergebnisse in Teil 2 bei dieser Klientel höher ausgefallen wären.
  • Einen IQ-Wert von 110 und mehr erreichen in dieser Studie rund 8 % der getesteten Klienten. Sie wären von ihrer "fluiden Intelligenz" her betrachtet ohne weiteres in der Lage, einen gymnasialen Bildungsgang zu beschreiten (IQ ≥ 110). Für einen „mittleren Bildungsabschluss“ (IQ-Bereich 100 bis 110) wären nach den Ergebnissen rund 9 % befähigt.
  • Zusammengenommen zeigen die Testergebnisse des CFT 20-R, dass mindestens 17 % der Geflüchteten mental in der Lage wären, ein mittleres oder höheres Bildungsniveau zu erreichen (siehe Abb. 2). Es ist jedoch zu vermuten, dass bei Einsatz von Teil 1 und 2 die Ergebnisse höher ausgefallen wären.
  • Weitere Studien wären wünschenswert, um das Wissen zum Thema „Intelligenzdiagnostik bei Geflüchteten“ zu vertiefen (insbesondere den Einsatz von Teil 1 und 2).
Abbildung 2

Resümee und Empfehlungen

  1. Der CFT 20-R eignet sich für eine valide und faire Erfassung der Intelligenz bei Geflüchteten und Personen mit Migrationshintergrund.
  2. Durch den Einsatz des CFT 20-R können sowohl Personen mit hohem kognitivem Potenzial erkannt werden als auch Personen, die weniger begabt sind. So werden maßgeschneiderte Angebote möglich, die zur Verbesserung der Lebensqualität und damit zu einer besseren Integration geflüchteter Menschen beitragen können.
  3. Es sollten stets Teil 1 und 2 des CFT 20-R eingesetzt werden. Dadurch kann der Teil 1 als eine Art „Lerntest“ betrachtet werden und die Diagnose der „fluiden Intelligenz“ durch die Bewertung des IQ für den Teil 2 noch zuverlässiger und gerechter erfolgen. 
     

Wir danken Ihnen für dieses Gespräch

Im Manual können die besprochenen Themen vertieft werden:

  • Intelligenzdiagnose bei geflüchteten Menschen (Abschnitt 4.3)
  • Validität der Intelligenzdiagnose bei Kindern mit Migrationshintergrund (Abschnitt 8.4.5)
  • Intelligenzdiagnose und besondere Hilfen bei Menschen mit geistiger Behinderung (Abschnitt 4.5.3 und 7.2.5)

 

Dr. Rudolf H. Weiß

Rudolf H. Weiß verfolgt seit 1999 eine umfangreiche Vortragstätigkeit zu den Themen Mediengewalt, Gewalt bei Schülern und Intelligenzdiagnostik mit gleichzeitigen Forschungsaktivitäten. Im Verlauf der Forschungsaktivitäten wurden neben mehreren Sachbüchern und Testmanuals mehr als 50 zumeist wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht.

Hinweise/Literatur:

  1. Grundintelligenztest CFT 20-R, 2. Auflage. Verlag Hogrefe, Göttingen 2019.
  2. Diagnostik bei Migrantinnen und Migranten. Verlag Hogrefe, Göttingen 2018.
  3. Cattell, R. B. (1963). Theory of fluid and crystallized intelligence: A critical experiment. Journal of Educational Psychology, 54, 1–22.

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