Leitlinienorientierte Behandlung in der Psychotherapie

Im neuen Band der Reihe „Fortschritte der Psychotherapie“ widmen sich die Reihenherausgeber*innen Winfried Rief, Martin Hautzinger, Tania Lincoln, Jürgen Margraf und Brunna Tuschen-Caffier dem Thema „Leitlinienorientierte Psychotherapie“. Für die Herausgeber*innen und Autor*innen ein besonders wichtiger Band, da hiermit Versorgungsstandards gesetzt werden können, die richtungsweisende Impulse setzen sollen. Wie entstehen Leitlinien, welche Vorteile bieten sie und wie könnte die Entwicklung im Bereich Psychotherapie aussehen? Über diese und andere Fragen haben wir mit Prof. Dr. Winfried Rief gesprochen.

 

Richtlinien der Psychotherapie Figuren miteinander vernetzt

In der Medizin sind Behandlungsleitlinien üblich und ein Erfolgsmodell – aber lässt sich dies auch auf die Psychotherapie übertragen? Worin bestehen die Vorteile einer leitlinienorientierten Psychotherapie?

Leitlinien sind das Ergebnis von Beratungen, was die aktuell wissenschaftlich am besten geprüften Behandlungsmaßnahmen sind. Damit erreichen wir also für unsere Patient*innen die wissenschaftlich fundierte, höchstmögliche Sicherheit, durch diese Behandlung auch Erfolg zu haben. Aber daneben schaffen Leitlinien für alle Beteiligten Transparenz: Die überweisende Hausärztin oder andere Fachperson des Gesundheitswesens weiß damit, was sie von den Kolleg*innen erwarten kann, wenn diese leitlinienorientierte Therapien durchführen. Diese Vorteile sind gleich unabhängig, ob ich leitlinienorientierte Behandlungen in der Allgemeinmedizin, Dermatologie oder Psychotherapie anstrebe.

Anders als im medizinischen Bereich erfolgt die Weiterbildung in der Psychotherapie nach Therapieschulen, es findet also bisher eher keine Orientierung an evidenzbasierten Leitlinien statt. Wie problematisch ist dies und wie könnte es geändert werden?

In Deutschland haben wir ein System, das stark durch Interessensverbände geprägt ist, die einzelne Therapieverfahren vertreten. Oftmals wird hier auch ein Purismus propagiert, man auch wirklich nur in einem Verfahren aktiv werden soll und nichts „durchmischen“ soll. Wenn ich aber nur in einem Therapieverfahren ausgebildet werde, kann es sein, dass bei dem Problem des Patienten oder der Patientin ein anderer Therapieansatz nach Leitlinien sinnvoller wäre als der, den ich gelernt habe. Wenn ich mich hier vom Purismus eines einzelnen Verfahrens löse und grundsätzlich als Ziel anstrebe, dass jede Psychotherapeut*in mindestens die Grundkompetenzen hat, um die wesentlichen Störungen nach Leitlinie zu behandeln, stellt man sicher, dass Patient*innen die bestmögliche Behandlung bekommen können. Außerdem flexibilisiere ich das Aus- und Weiterbildungssystem, sodass dieses schneller Innovationen aufgreifen kann. Trotzdem kann man natürlich auch noch Vertiefungen in unterschiedlichen Ansätzen zulassen, sodass Interessenschwerpunkte gesetzt werden können.

Nochmals ein Vergleich mit der Medizin – hier geht die Tendenz in den letzten Jahren mehr in Richtung personalisierte Medizin. Ist die Orientierung an Leitlinien hierzu ein Widerspruch? Würde sich die Psychotherapie damit eher entfernen von einer personalisierten Behandlung?

Die Sorge, dass leitlinienorientierte Therapie zu einer Überstandardisierung und einer nicht individualisierten Therapie führen würde, wird oft vorgebracht. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn ich Psychotherapeut*innen nur in einem Verfahren und seiner Ideologie ausbilde, bekommen die Patient*innen auch nur diese Therapie, also keine wirklich individualisierte und problemangepasste Behandlung. Erst wenn ich die Weiterbildung flexibilisiere und Ansätze aus verschiedenen Verfahren und auch innovative Ansätze zulasse, kann die Psychotherapeut*in eine personalisierte Therapieplanung vornehmen und aus unterschiedlichen Interventionen die passende auswählen. Die Leitlinienorientierung und das Aufbrechen von abgegrenzten Verfahrensvorstellungen sind also Voraussetzung für eine personalisierte Therapie.

Wie und von wem werden die Leitlinien entwickelt und welche Systematik steht dahinter? Sind auch Praktiker*innen in die Entwicklung involviert?

Bei Kommissionen, die Leitlinien entwickeln, wird mit großer Sorgfalt darauf geachtet, dass Wissenschaftler*innen, Vertreter*innen unterschiedlicher Verfahren, aber auch Betroffene (Vertreter*innen von Patientenverbänden) beteiligt sind. In Deutschland hat die AWMF eine besondere Rolle in der Qualitätssicherung dieser Prozesse (AWMF= Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich-medizinischer Fachgesellschaften). Gerade bei den sogenannten S3-Leitlinien wird auf eine möglichst umfassende Berücksichtigung aller Meinungsgruppen geachtet, damit der wissenschaftliche Stand nicht polarisiert bewertet wird, sondern faire, vergleichbare und transparente Prozesse in der Bewertung der wissenschaftlichen Evidenz einzelner Verfahren angewandt werden.

Seit 2013 gilt das Patientenrechtegesetz, was ist hier bezüglich der Aufklärung vor einer Psychotherapie zu beachten, sollte ausdrücklich auf die leitlinienbasierte Behandlung hingewiesen werden? Was ist, wenn Patient*innen sich dennoch anders entscheiden?

Leitlinien sind keine Gesetze, von denen niemand abweichen darf. Leitlinien bringen die Empfehlungen, die die beste wissenschaftliche Evidenz haben. Trotzdem darf jede*r Behandler*in und jede*r Patient*in von diesen Empfehlungen abweichen. Aber es sollte sicher gestellt werden, dass sowohl Behandler*in als auch Patient*in wissen, was hier die leitlinienorientierte Empfehlung ist.

In der Approbationsordnung für Psychotherapie von 2020 wurde der Orientierung an Leitlinien besonderer Stellenwert eingeräumt. Ergänzend zur ersten Frage – wie ist Ihre Einschätzung, wie sich die therapeutische Landschaft entwickeln könnte, wenn die Orientierung an evidenzbasierten Methoden stärker wird? Erwarten Sie eine deutliche Verbesserung, eine höhere Erfolgsquote bei Psychotherapien?

In der Tat erwarte ich, dass durch die neuen Ausbildungswege in Psychotherapie die Behandlungsqualität für unsere Patient*innen eine bessere wird. Psychotherapeut*innen werden nicht mehr primär auf ein Therapieverfahren eingestimmt, dessen Ideologie nicht mehr hinterfragt wird, sondern beschäftigen sich übergreifend mit den auch wissenschaftlich geprüften Fragen, was wirklich wirkungsvolle Therapie-Mechanismen sind, die ich als Psychotherapeut*in in Therapien realisieren muss. Dies ist oftmals sogar eher verfahrensunabhängig. Wir werden uns mehr mit psychotherapeutischen Basiskompetenzen beschäftigen, die Behandlungserfolge sicher stellen, als mit einzelnen Therapieverfahren. Ich erwarte auch einen besseren Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis: Praktiker*innen wissen besser, was die wissenschaftliche Position zu ihrem Handeln ist. Aber auch Wissenschaftler*innen bekommen bessere Rückmeldung, was von ihren Empfehlungen sich wirklich in der Praxis bewährt und was ggf. auch wissenschaftlich anders betrachtet werden muss. 

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Winfried Rief

Prof. Dr. Winfried Rief, Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie, Philipps Universität Marburg. Leiter der Psychotherapie-Ambulanz Marburg und des postgradualen Ausbildungsgangs für Psychotherapie. Approbierter psychologischer Psychotherapeut und Supervisor. Professor Rief arbeitete viele Jahre in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken, bevor er im Jahr 2000 das Angebot einer Professur an der Philipps Universität annahm. Er spezialisierte sich auf somatoforme Beschwerden, Klassifikation chronischer Schmerzsyndrome, und in neuerer Zeit zunehmend auf die Themen Placebo-und Nocebo-Mechanismen. Als Co-Chair zusammen mit Professor Treede und einer entsprechenden internationalen Arbeitsgruppe entwickelte er ein neues Klassifikationssystem für chronische Schmerzen, das 2019 in den finalen Entwurf von ICD-11 aufgenommen wurde. Als Sprecher einer DFG- Forschergruppe arbeitete er an Placebo-und Nocebo- Mechanismen bei verschiedenen körperlichen Krankheiten (Herzchirurgie, Schmerzsyndrome, Depressionen). Von 2011 bis 2020 war Professor Rief DFG-Fachkollegiat, auch in der entsprechenden DFG-Gruppe für klinische Studien. Er war Gastprofessor an den Universitäten Harvard Medical School, Boston (2004/2005), University of Auckland Medical School (2002), und University of California San Diego (2009/2010). Er erhielt verschiedene wissenschaftliche Preise, unter anderem den Distinguished Researchers Award in Behavioral Medicine in 2014 und den Preis der Europäischen Psychosomatischen Medizin EAPM 2020.

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