Schule und Entwicklung

Leseverständnistest ELFE II

Der größte Teil der schulischen Fähigkeiten wird über Schriftsprache vermittelt. Das Leseverständnis ist damit nicht nur ein Ergebnis, sondern gleichzeitig auch eine zentrale Voraussetzung schulischen Lernens. Die Entwicklung der Lesefähigkeiten muss daher sorgfältig beobachtet werden, damit Probleme frühzeitig erkannt und Fördermaßnahmen eingeleitet werden können. Dies setzt die verlässliche Diagnose der Lesefähigkeiten voraus. Mit ELFE II liegt nun eine Revision des bewährten Leseverständnistests ELFE 1-6 vor.

Wir haben mit Prof. Dr. Wolfgang Lenhard, einem der Autoren von ELFE II, gesprochen.

Das Testverfahren ELFE II

Professor Lenhard, können Sie ELFE II kurz beschreiben?
ELFE II erfasst unterschiedlich komplexe Leseprozesse, sodass man ein verlässliches Bild der Lesegenauigkeit, der Leseflüssigkeit und des Leseverständnisses gewinnt. Damit wird eine breite Spanne der Leseanforderungen abgedeckt, und es können auch Lernverläufe gut abgebildet werden.
Der Test besteht im Wesentlichen aus drei Untertests: Die Kinder müssen Wörter zu Bildern zuordnen (Wortverständnis), Sätze sinnvoll ergänzen (Satzverständnis) und den Sinn kurzer Texte verstehen (Textverständnis). Anschließend wird ein Gesamtwert berechnet. Die Computerversion verfügt zusätzlich über ein Instrument zur Schwellenmessung der Worterkennungsgeschwindigkeit.
Darüber hinaus gibt es noch weiterführende Analysemöglichkeiten, um Diskrepanzen im Leistungsprofil aufzudecken sowie Kinder mit sehr ungenauem Arbeitsstil – also mit hohen Fehlerraten – zu identifizieren.

Wo sehen Sie die Anwendungsfelder des Verfahrens?
ELFE II ist ein ökonomischer Gruppentest, mit dem z.B. die Leistungsverteilung in Schulklassen festgestellt werden kann. Er kann aber auch als Einzeltest, z.B. beim Verdacht auf eine Lese-Rechtschreibstörung oder zur Überprüfung von Fördermaßnahmen, eingesetzt werden.
Auch für die Forschung ist ELFE II ein geeignetes Instrument. Es existieren aktuell weit über 300 wissenschaftliche Publikation, bei denen die Vorgängerversion ELFE 1-6 eingesetzt wurde. ELFE II findet bereits bei der Erhebung von IGLU 2017 Anwendung.

Wer kann das Testverfahren anwenden?
Die Anwendung ist einfach, und alle Instruktionen liegen im Wortlaut vor. Das Verfahren kann daher auch von Personen mit wenig testpsychologischer Erfahrung eingesetzt werden. Die Testhinweise sollten aber gewissenhaft eingehalten und die Durchführung vor der Anwendung geübt werden. Besonders unproblematisch ist die Anwendung der Computerfassung, da alle wichtigen Schritte automatisiert sind.

Wann genau kann ELFE II eingesetzt werden?
Eine besondere Eigenschaft des Verfahrens liegt darin, dass es keinerlei Tabellierungslücken für die Normdaten mehr gibt. Der Test kann vom Ende der ersten bis zum Beginn der siebten Klassenstufe zu jeder beliebigen Zeit während des Schuljahres oder in den Ferien eingesetzt werden. Die Größe der Normierungsintervalle wurde der altersspezifischen Entwicklungsgeschwindigkeit angepasst: Sie beträgt zunächst zwei, in höheren Jahrgangsstufen drei Monate. Mithilfe des Computerprogramms können sogar monatsgenaue Normwerte für den gesamten Altersbereich abgerufen werden, und zwar nicht nur für die Computer-, sondern auch für die Papierversion. Diese lückenlose Verfügbarkeit hochwertiger Normierungsdaten weist meines Wissens zurzeit kein anderes Verfahren der deutschsprachigen Schulleistungsdiagnostik auf.

Die Lesediagnostik bei Kindern

Ist das Verstehen von Texten am Ende des 1. Schuljahres nicht noch zu schwierig für die Kinder?
Natürlich gibt es am Ende der ersten Klasse oft Kinder, die beim Lesen von Texten noch Schwierigkeiten haben, ohne dass es sich dabei um einen auffälligen Befund handelt. Daher gibt es auch eine Kurzform ohne Textverständnistest: Von der ersten bis zur dritten Klassenstufe kann das Gesamtergebnis nur aus dem Wort- und dem Satzverständnistest ermittelt werden. Diese Auswertungsoption kann auch bei der Computerversion nach der Testung noch ausgewählt werden.
Ab der vierten Klassenstufe ist dann eine Kurzform mit verkürzten Darbietungszeiten verfügbar, die zur Vermeidung von Deckeneffekten bei sehr leistungsstarken Schülern der höheren Jahrgangsstufen empfohlen wird.

ELFE II erfasst das leise Lesen. Erfordert die Diagnose von Lesefähigkeiten nicht auch lautes Vorlesen?
Die Erhebung eines Lautleseprotokolls ist vor allem in den ersten Jahren der Grundschule sinnvoll und kann die Ergebnisse von ELFE II ergänzen. Allerdings ist dabei der Anteil von Lesefehlern sehr viel aussagekräftiger als die Art der Lesefehler. Aus diesem Grund gibt es bei ELFE II neben Normwerten für die richtig gelösten Aufgaben auch Normwerte für die Gesamtzahl an bearbeiteten Aufgaben. Durch den Vergleich beider Werte lassen sich Rückschlüsse darauf ziehen, ob das Kind ein eher genauer oder ungenauer Leser ist. So können mit Aufgaben zum stillen Lesen die gleichen diagnostischen Informationen ermittelt werden, die man auch beim lauten Lesen erheben würde. Die Überprüfung des lauten Lesens ist deshalb nicht zwangsläufig notwendig.
Umgekehrt ist aber davon abzuraten, in der Lesediagnostik ausschließlich laut vorlesen zu lassen. Dabei nimmt neben dem Leseverständnis auch die Artikulation einen Teil der kognitiven Ressourcen in Anspruch. Zurückhaltende und leistungsschwache Kinder kann das laute Lesen außerdem unter Druck setzen, sodass ihre Leistung beeinträchtigt wird.

Die Unterschiede zum Vorgänger ELFE 1-6

Welche Verbesserungen gibt es bei ELFE II im Vergleich zur Vorgängerversion ELFE 1-6?
Auch wenn der Test auf den ersten Blick die Struktur von ELFE 1-6 beibehält, stellt ELFE II eine umfassende Überarbeitung dar. Bereits die zugrundeliegende Testtheorie ist eine andere: Bei ELFE II kamen statt der klassischen Testtheorie neue Verfahren der Item Response Theory (IRT) zum Einsatz, die neben der Genauigkeit von Antworten auch die Arbeitsgeschwindigkeit berücksichtigen. Generell haben wir alle Untertests um sehr leichte und sehr schwierige Aufgaben ergänzt, damit Boden- und Deckeneffekte minimiert werden.
Besonderen Wert haben wir auf die Normen gelegt. Die Repräsentativität der Stichprobe wurde verbessert, und der Test kann nun zu jedem beliebigen Zeitpunkt im Schuljahr eingesetzt werden. Grundlage hierfür ist eine von mir und Dr. Alexandra Lenhard entwickelte Normierungstechnik, das sogenannte Nonparametric Continuous Norming.
Die Auswertung wurde durch weiterführende Analysemöglichkeiten, z.B. zum Arbeitsstil und zur Lesegenauigkeit, erheblich verbessert. Neu sind auch die zwei bereits erwähnten Kurzformen.

Was hat sich zusätzlich bei der Computerversion geändert?
Das Computerprogramm wurde komplett neu entwickelt.  Zusätzlich zur PC-Durchführung ermöglicht es jetzt auch die Verwaltung aller Testergebnisse, z.B. auch die Generierung von Auswertungsprotokollen für die Papierversion. Der Lesegeschwindigkeitstest aus ELFE 1-6 wurde komplett durch die Schwellenmessung der Worterkennung ersetzt.
Die Reportgenerierung wurde professionalisiert, und das Programm ermöglicht die Ausgabe eines Elternbriefes in fünf verschiedenen Sprachen, darunter auch türkisch und arabisch.
Außerdem wurden die Instruktionen verbessert, und neben der altbekannten Figur der Elfe gibt es mit Mathis nun auch eine männliche Identifikationsfigur, die einigen Anwendern aus unseren Förderprogrammen bekannt sein dürfte.

Was fanden Sie persönlich in der Entwicklungsphase von ELFE II besonders bemerkenswert?
Aus der Leseforschung ist die enorme Streuung der Leistungen zwischen Schülerinnen und Schülern des gleichen Alters bekannt. Dennoch verblüfft es mich immer wieder, wenn ich den Befund anhand eigener Daten sehe: Leistungsstarke Kinder erreichen in ELFE II am Ende der ersten Klasse bereits ein Niveau, das leistungsschwache Jugendliche nicht einmal am Beginn der siebten Klasse aufweisen. Die Varianz innerhalb von Klassenstufen ist also deutlich größer als die Varianz über die Klassenstufen hinweg. Hier zeigt sich die enorme Wichtigkeit einer möglichst frühzeitigen Diagnose und – wo notwendig – intensiver und effektiver Leseförderung, damit leistungsschwache Kinder nicht bereits zu Beginn der Schulkarriere ins Hintertreffen geraten und sich dieser Nachteil noch fortlaufend verstärkt.

Was macht ELFE II zu einem besonderen Testprojekt?
In die Überarbeitung ist sehr viel Arbeit und Herzblut geflossen. Wir haben neue Wege in der Modellierung der Skalen und der Normwerte beschritten. Wir sind zuversichtlich, dass der dabei entstandene Test nicht nur wissenschaftlich solide konstruiert wurde und zuverlässige Diagnosen erlaubt, sondern gleichzeitig auch motivierend gestaltet und leicht anwendbar ist. Ich denke, das Gesamtpaket ist stimmig und ausbalanciert. Wir sind darauf sehr stolz.

Weitere Informationen, Tutorials und Downloads zu ELFE II finden Sie auch hier.

Prof. Dr. Wolfgang Lenhard

Seit 2008 im Fachbereich Pädagogische Psychologie an der Universität Würzburg tätig.
Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören sprachliche, schriftsprachliche und kognitive Entwicklung, Lesekompetenz, Modellierung menschlicher Sprachleistungen und die Vorhersage von Schulerfolg.