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Satzergänzungstests für Therapie und Beratung

Sets mit Karten mit Satzanfängen bieten nicht nur für die Diagnostik, sondern auch für die therapeutische Arbeit und z.B. auch in der Beratung und im Coaching viele Möglichkeiten. Die neuen Sets beinhalten nicht nur jeweils 180 Karten, sondern auch ein Booklet mit Beschreibung der Einsatz- und Anwendungsmöglichkeiten, außerdem sind verschiedene Online-Materialien abrufbar.

Wir haben mit Melanie Gräßer und Eike Hovermann über die Satzergänzungstests gesprochen, die in Varianten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene vorliegen.

Satergänzungen für Beratung und Therapie Frau Patienten im Gespräch Therapeutin

Satzergänzungstests werden häufig in der Diagnostik eingesetzt, was macht das Verfahren so attraktiv?

Es klingt unglaublich, aber der Satzergänzungstest ist wahrscheinlich einer der am häufigsten verwendeten Tests in der psychotherapeutischen Diagnostik. Es gibt keine standardisierte Version, aber sicherlich unzählige selbst erstellte Varianten, die häufig auch in Anamnesebögen Verwendung finden. Die Auswertung/Interpretation des Satzergänzungstests als projektives Verfahren ist nicht quantifizierbar, frei interpretierbar und es sollte jeder*m Anwender*in klar sein, dass seine Aussagekraft daher nur begrenzt sein kann.

Trotz dieser Vorbehalte und Einschränkungen bietet der Satzergänzungstest eine Vielzahl diagnostischer Ansatzmöglichkeiten. Er gibt uns oft Hinweise auf Konflikte, Ressourcen, Beziehungsprobleme, Ängste, Hoffnungen und auch Lebensentwürfe, die wir manchmal nur in längeren Gesprächen herausgefunden hätten.

So weisen zum Beispiel Grawe und Grawe-Gerber darauf hin, dass gerade die offene Fragestellung projektiver Methodik zu kreativer Gestaltung auffordert. Die Nutzung der Vorstellungskraft, des Ideenreichtums und der Ausdrucksfähigkeit sind eine sehr gute Ressource und spielen in der Behandlungsmotivation und für den Therapieerfolg eine wesentliche Rolle (Grawe & Grawe-Gerber, 1999).

Da Satzergänzungen direkt beantwortet werden können, sind diese ideal geeignet, um mit Patient*innen schnell und direkt ins Gespräch zu kommen.

Seit wann gibt es das Verfahren, seit wann wird es in der psychologischen Diagnostik eingesetzt?

Der Satzergänzungstest selbst geht ursprünglich auf Hermann Ebbinghaus zurück. Dieser führte bereits 1896 eine Art Satzergänzungstest mit Schülern durch, um die Auswirkungen von Müdigkeit auf deren Leistungsfähigkeit zu untersuchen (Ebbinghaus, 1909).

Die erste Veröffentlichung eines Satzergänzungstests erfolgte erst mehr als 50 Jahre später durch Rotter und Rafferty (Rotter & Rafferty, 1950). Ausgehend von dieser allerersten Veröffentlichung wurden im Laufe der Zeit zahlreiche Varianten modifiziert oder weiterentwickelt. Satzergänzungstests werden in ganz unterschiedlichen Bereichen eingesetzt, z. B. im Sport oder auch bei der Personalauswahl.

Publizierte Versionen von Satzergänzungstests finden sich z. B. bei Derichs (1977, S. 14-149) und Rauchfleisch (2001, S. 74ff), diese variieren in Länge und Thematik.

Wie würden Sie die Altersgruppen einteilen, ab welchem Alter sind die Karten anwendbar und ab wann z. B. würden Sie im Allgemeinen die Grenze zwischen Kindern und Jugendlichen sehen?

Es gibt drei Sets mit unterschiedlichen und altersspezifischen Fragen und Fragestellungen. Wir haben uns bei der Wortwahl und Grammatik den Zielgruppen angepasst, um den Klienten schnelle und altersgerechte Antworten zu ermöglichen.

Das Set für Kinder richtet sich an Kinder ca. ab 5-6 Jahren bis zum Alter von ca. 12-13 Jahren.
Das Set für Jugendliche spricht die Altersgruppe von ca. 12-13 Jahren bis ca. 18 Jahren an.
Das Set für Erwachsene ist ca. ab dem 18. Lebensjahr konzipiert.

Bei der Entwicklung der Sets wurde besonders darauf geachtet, dass möglichst alle Lebensbereiche, Interessen und persönlichen Fragen sowie aktuelle Einflüsse berücksichtigt werden. Aus diesem Grund wurde darauf geachtet, dass die einzelnen Sets sprachlich so gestaltet wurden, dass deren Wortwahl möglichst kind-, jugendlichen- bzw. erwachsenengerecht und ansprechend sind.

Selbstverständlich können die einzelnen Kartensets auch in anderen Altersgruppen außerhalb des empfohlenen Altersbereichs eingesetzt werden. Hierbei ist wichtig, neben dem jeweiligen Lebensalter der Patient*innen auch auf das Entwicklungsalter und das eigene therapeutische Gespür zu berücksichtigen.

Praxistipp: Wenn Sie Patient*innen haben, die in bestimmten Bereichen schon erwachsener sind oder so besser angesprochen werden können, dann spricht vieles dafür, auch Karten aus den Sets für ältere Menschen hinzuzunehmen. Lassen Sie hier Ihr therapeutisches Gespür entscheiden.

Welche Themen, welche Kategorien decken die Karten mit den Satzanfängen ab?

Wir haben bei der Erstellung der Sets darauf geachtet, dass wirklich alle wichtigen Bereiche des Lebens und der Patient:*innen mit abgefragt werden können. Deshalb gibt es je nach Zielgruppe unterschiedliche Kategorien. Hier eine Übersicht der Kategorien aller Sets:

  1. Beruf/(Aus-)Bildung, Arbeit und Ruhestand 
  2. Entwicklung
  3. Familie und Herkunft 
  4. Freizeit und Hobbys
  5. Freund*innen und Bekannte
  6. Gedanken
  7. Gefühle
  8. Geheimnisse
  9. Geld und materielle Dinge
  10. Gesundheit
  11. Glaubenssätze und Werte
  12. Kindergarten und Schule
  13. Körper
  14. Liebe und Identität
  15. Ressourcen
  16. Über mich
  17. Vorbilder
  18. Wünsche und Ziele

Ist die Arbeit mit Satzergänzungen eher für Einzel- oder Gruppensetting geeignet?

Die Satzergänzungskartensets sind grundsätzlich für den 1 zu 1 Einsatz (Therapeut*in und Patient*in) konzipiert. Aber sie lassen sich auch gut neben dem Einzel- auch im Gruppensetting oder in der Paarberatung einsetzen. 

Im Gruppen-/Paarsetting

Alle Satzergänzungsfragen eignen sich auch für das Gruppen- oder Paarsetting. Hier können Sie zwischen verschiedenen Varianten wählen. Hier eine kleine Auswahl:

  • Die „Gruppenleiter*innen-Variante“: Sie als Gruppenleiter*in lesen einen Satzanfang vor und alle Gruppenteilnehmer*innen schreiben eine für sie passende Satzergänzung auf. Anschließend können sich die Gruppenteilnehmer*innen in 2er-, Klein- und/oder in der Großgruppe über die jeweiligen Satzergänzungen austauschen.
     
  • Das Interviewspiel: Ein Gruppenmitglied darf der Reihe nach alle anderen „Mitspielenden“ „interviewen“, in dem sie/er eine Satzergänzung jeweils vorliest und sich diese von allen oder von ausgewählten Gruppenmitgliedern beantworten lässt.
     
  • Der Reihe nach: Alle Gruppenmitglieder beantworten der Reihe nach dieselbe Satzergänzungskarte. Lassen Sie die Gruppenmitglieder ggf. ihre Antworten vorher überlegen oder sogar aufschreiben, damit diese sich nicht gegenseitig beeinflussen.
     
  • Jede*r fragt Jede*n: Jedes Gruppenmitglied darf eine oder mehrere Satzergänzung(en) vom Kartenstapel an eine von ihr/ihm ausgewählte Person stellen. Dies kann entweder der Reihe nach geschehen oder, um etwas Auflockerung reinzubringen, können Sie auch die Gruppenmitglieder bitten, dass Sie mit ihren Karten durch den Raum spazieren und immer dann, wenn sie einem anderen Gruppenmitglied begegnen, sich jeweils gegenseitig eine Frage stellen sowie diese beantworten. Im Anschluss können Sie dann in der Großgruppe eine Feedbackrunde durchführen und ggf. einzelne Antworten und Fragen vertiefen.
     
  • Pärchen-Interview: Pärchen interviewen sich gegenseitig. Diese Variante kann erweitert werden, indem die Pärchen ihre Ergänzungen nach dem Kartendurchgang gegenseitig der Gruppe vorstellen.
     
  • „Ab in die Ecke“: Ein Gruppenmitglied liest eine Satzergänzung und das zugehörige eigene Satzende vor und stellt sich in eine beliebige Ecke oder an eine freie Stelle des Gruppenraums. Alle, die ein ähnliches Ende aufgeschrieben haben (laut eigenem Ermessensspielraum) stellen sich dazu, ohne das eigene Ende vorzulesen. Die anderen Gruppenmitglieder bleiben sitzen. Nun liest eine Person, die noch sitzt, ihr/sein Ende vor und stellt sich dann in eine andere Ecke bzw. freie Stelle im Raum. Auch hier stellen sich die, die ein ähnliches Satzende haben, wieder dazu. Dieses Procedere wiederholt sich, bis alle Gruppenmitglieder mit ihren Satzergänzungsvarianten irgendwo im Raum stehen. Wenn am Ende noch Gruppenmitglieder übrig sind, die sich keiner Gruppe zuordnen konnten, können diese ihre Satzergänzungen ebenfalls vorlesen. Sind alle Gruppenmitglieder aufgeteilt, können die einzelnen Gruppenmitglieder ihre Satzergänzungen untereinander austauschen oder in der Großgruppe vorstellen. 
    Diese Methode eignet sich gut, um zu visualisieren, dass es häufig viele Menschen mit ähnlichen Gedanken, Standpunkten und Meinungen gibt. 

Welchen Zeitrahmen nimmt die Arbeit mit den Karten ein? Kann man sich auf einzelne Kategorien beschränken?

Zunächst ist es wichtig zu sagen, dass man mit Hilfe dieses Sets und seiner 180 Karten in oft kürzerer Zeit einen größeren und differenzierteren Einblick in die Sichtweise und möglichen Problembereiche der Patienten erhält als in einem klassischen Gespräch.

Überlegen Sie sich vorher, wie viel Zeit Sie in der Stunde für die Satzergänzungen zur Verfügung haben bzw. aufwenden wollen.
Wenn Sie alle 180 Satzergänzungen in einem normalen Tempo bearbeiten, sollte eine Therapiestunde auf jeden Fall ausreichen. Wenn Sie feststellen, dass Sie einzelne Punkte länger besprechen möchten oder der/die Patient*in länger über die Antworten nachdenken möchte, können Sie die Fragen natürlich auch auf mehrere Stunden aufteilen. Alternativ können Sie auch nur mit einer Auswahl von Satzergänzungskarten oder Kategorien arbeiten. Lassen Sie hier Ihr therapeutisches Gespür entscheiden.
In vielen Fällen wird es möglich sein, den gesamten Satz eines Sets in 15 bis 20 Minuten zu bearbeiten.

Gibt es nur eine oder mehrere Durchführungsvarianten für die Arbeit mit den Kartensets?

Die Hogrefe-Sets mit den zugehörigen Booklets zeichnen sich besonders durch die zahlreichen Durchführungsvarianten aus. Alle Varianten werden im Booklet ausführlich erklärt. 

So gibt es neben den beiden klassischen Varianten noch viele weitere Durchführungsvarianten. Hier zwei Beispiele:

  • Die Tempo-Variante
  • Die „Abwechselnd ziehen und vorlesen-Variante“

Neben diesen Varianten lassen sich die Satzergänzungskarten auch sehr gut, wie folgt nutzen:

  • Als Einstiegsritual in die Therapiestunde
  • Satzergänzungskarten als Ritual am Ende der Therapiestunde
  • Home-Experience
  • Im Gruppen-/Paarsetting

Die Karten können nicht nur in der psychotherapeutischen Arbeit eingesetzt werden, sondern auch ….

Es gibt zahlreiche Einsatzorte und -möglichkeiten für die Satzergänzungskarten. Neben dem klassischen Psychotherapiesetting können das Beratungsstellen, ambulante Praxen, tagesklinischen und stationären Einrichtungen, Trauerbegleitung, Paarberatung, Coaching, Supervision und viele weitere Einzel-, Gruppen- und Beratungskontexte sein.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Literaturhinweise:

Derichs, G. (1977). Satzergänzungsverfahren als Instrument des Intake. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 26, 142–149.

Ebbinghaus, H. (1909). Abriss der Psychologie. Berlin: De Gruyter. doi: 10.1515/9783112668061

Grawe, K. & Grawe-Gerber, M. (1999). Ressourcenaktivierung: Ein primäres Wirkprinzip der Psychotherapie. Psychotherapeut, 44, 63–73. doi: 10.1007/s002780050149

Rauchfleisch, U. (2001). Kinderpsychologische Tests. Ein Kompendium für Kinderärzte (3., überarbeitete und erweiterte Aufl.). Stuttgart: Georg Thieme. doi: 10.1055/b-0034-5336

Rotter, J. B. & Rafferty, J. E. (1950). Manual: The Rotter Incomplete Sentences Blank. College Form. New York, NY: The Psychological Corporation.

Melanie Gräßer

Melanie Gräßer, geb. 1971. 1992-1994 Grundstudium der Psychologie in Konstanz. 1994-1995 Auslandsstudium in Guelph, Ontario, Canada. 1995-1998 Hauptstudium der Psychologie in Bonn. 1999-2002 Vollzeit-Verhaltenstherapieausbildung, psychosomatische Fachklinik St. Franziska-Stift, Bad Kreuznach. 2002 Anstellung als Psychologin, Kinder- und Jugendheim, Kall. 2003-2006 Anstellung als Psychologin, Zentrum für Kinderheilkunde, Universität Bonn. 2006-2007 Anstellung als Psychologin, SPZ/Kinderklinik, Memmingen. 2007 Anstellung als Psychologin, Kinderklinik Amsterdamerstraße, Köln. 2008-2010 Anstellung als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, MVZ, Köln. 2010-2013 Eigene Niederlassung in Leverkusen. Seit 2013 eigene Niederlassung in Lippstadt (hälftig für Kinder und Jugendliche, hälftig für Erwachsene). Seit 2018 Berufung als Gutachterin der Krankenkassen und Beihilfe durch die KBV. Arbeitsschwerpunkte: Chronische körperliche Erkrankungen, somatoforme Störungen, Traumata, Tod und Trauer. Dozenten-, Supervisions- und Selbsterfahrungstätigkeit in der Psychotherapieausbildung an mehreren Instituten und für Selbsthilfegruppen chronisch somatisch kranker Kinder, Jugendlicher, Eltern und Erwachsener (z.B. für die dt. Rheuma-Liga). Buchautorin, Entwicklerin zahlreicher therapeutischer Materialien und Spiele.

 

Eike Hovermann

Eike Hovermann jun., geb. 1967 war über 25 Jahre geschäftsführender Gesellschafter der Akademie für die Deutsche Wirtschaft und Gründer und Geschäftsführer der Akademie für Kindergarten, Kita und Hort. Er ist Autor zahlreicher Fachbücher und Ratgeber und Entwickler therapeutischer Spiele und Materialien. Seit Jahren setzt er sich dafür ein, Wissen und Bildung weiterzugeben, um so allen Kindern eine solide Grundlage und Ausbildung für ihr späteres Leben zu geben.