Wissen und Gesellschaft

Traurigkeit im großen Glückskonzert der Erfolgreichen

Traurigkeit wird zumeist unterschätzt. Sie wird häufig als etwas Negatives betrachtet und steht scheinbar im Widerspruch zu Glück und Erfolg. Dass die Traurigkeit jedoch vielfältige Facetten haben kann, die das Leben bereichern können, damit setzt sich Angelika Schett in anregenden Interviews auseinander.

Traurigkeit als Gefühl mutet  beinahe sympathisch an. Womit hat das zu tun?
Wer sich traurig fühlt ist zurückgezogen, wirkt still, weich und sanft. Der Druck, sich in Szene zu setzen, entfällt. Der Blick ist nach innen gerichtet. Und das auf eine angenehme, selbstbezogene Art, da der Traurige gleichzeitig feinfühliger für alles wird, was außen passiert. Seine Sinne sind geschärfter. Das kommt nicht nur ihm zugute, sondern auch seinen Mitmenschen. Er nimmt Anteil und hält sich mit schnellen Urteilen zurück. Traurigkeit verlangsamt das Erleben auf eine gewinnbringende Art. Erfahrungsgemäß hört dieser Zustand auch immer wieder auf. Also kann man darin ohne Risiko verweilen, manchmal sogar genussreich.

Wovon ließen Sie sich bei der Auswahl Ihrer Gesprächspartnerinnen und -partnern zu diesem recht eigenwilligen Thema leiten?
Ich habe mir überlegt, welche Fachleute aufgrund ihres Wissenshintergrundes und ihrer persönlichen Erfahrung weiterhelfen können. Nicht, um die Traurigkeit dingfest zu machen, sondern um ihre besonderen Facetten auszuleuchten. Es wird nicht wundern, dass ich das Gespräch mit Philosophen, Psychoanalytikern, Psychotherapeuten, einem Kulturwissenschaftler und einem Theologen suchte. Wie entwickelt sich die Traurigkeit beim Menschen, wie in der Kindheit, wie im Alter? Lauert hinter der Traurigkeit eine Depression? Oder kann zugelassene Traurigkeit hier sogar einen Riegel schieben? Womit hat es zu tun, dass sie sich sogar dann einstellt, wenn alles "gut" ist? Wie verhält es sich mit dem Trost für die Traurigen? Gibt es Traurigkeit bei Tieren? Und was an der Sexualität kann traurig stimmen? Diesen suchenden Fragen zeigten sich alle Gesprächspartner zugetan und engagiert.

Fiel es allen leicht, darüber nachzudenken?
Grundsätzlich ja. Einerseits vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Profession, andererseits sind sie ja auch Menschen, die die Traurigkeit aus eigener Anschauung kennen. Hervor sticht dabei mein Gespräch mit dem Sexualwissenschaftler und Psychotherapeuten Ulrich Clement, der meine Fragestellung: "Gibt es Berührungspunkte zwischen Sexualität und Traurigkeit?" zuerst alles andere als naheliegend fand. Nachdem er dann die Aufzeichnungen unserer Aufnahme gelesen hatte, fand er, dass er nun ganz anders antworten würde. Gleichzeitig gab er seine Zustimmung zu der vorliegenden Fassung, da unsere gemeinsame Suche nach der Verbindung zwischen Sexualität und Traurigkeit Wichtiges zur Sprache bringt.

Gefängnis der guten Laune

Gibt es eine gesellschaftliche Brisanz mit Blick auf die Traurigkeit?
Unbedingt! Wir seien in einem Gefängnis der guten Laune gefangen, betont einer meiner Gesprächspartner. Wer nicht geradezu stählern seine körperliche und seelische Fitness an den Tag legt, hat im Großen und Ganzen schlechte Karten, beruflich und privat. Was geschieht, wenn hauptsächlich Daueroptimisten die Nase vorn haben? Man fährt alles an die Wand, wie etwa Finanzkrisen zeigen. Nicht nur der einzelne Mensch, sondern auch die Gesellschaft verliert, wenn sie der Traurigkeit keinen Raum gibt. Diese Vernachlässigung führt nicht nur in die Empathielosigkeit der Menschen untereinander, sondern birgt auch politischen Sprengstoff. Wir müssen uns  fragen, was mit all jenen passiert, die keinen Grund haben sich mitzufreuen im großen Glückskonzert der Erfolgreichen, die mit der Traurigkeit nichts am Hut zu haben scheinen.

Was fasziniert Sie an der Traurigkeit, die den Dreh-und Angelpunkt Ihrer Gespräche darstellt?
Sie wirkt so unspektakulär, fast bescheiden inmitten all der Burn-outs und Depressionen, die heutzutage unser Leben fast schon flankieren. Sie entspricht auch keiner Weltanschauung wie die ihr verwandte Melancholie. Traurigkeit stellt sich einfach manchmal ein, und sie bedarf keiner Therapie. So still wie sie uns macht, so still bleibt sie auch sonst. Bei der Trauer verhält es sich anders, aber so eine Traurigkeit, wo bleibt die eigentlich? Dabei ist sie für jeden Menschen unverzichtbar, wenn er sich lebendig fühlen möchte, sei es ganz für sich allein oder mit anderen.

Warum haftet an der Traurigkeit etwas Störendes?
Das ist wirklich merkwürdig. Kunst, Musik und Literatur führen immer wieder vor Augen, dass es ohne Traurigkeit nicht geht. Die Schönheit, die wir in diesen Werken bewundern, bliebe schal ohne Traurigkeit. Und doch, wer sich im Alltag traurig fühlt, möchte dieses Gefühl oft schnell wieder loswerden. Es stört die übliche Routine. Man ist eher geneigt sich abzulenken als der Traurigkeit für eine kleine Zeit Raum zu geben. Irgendwie will man sie nicht. Es gibt aber auch Menschen, die sich nach der Traurigkeit sehnen, sie sogar mit einer Musik, bestimmten Erinnerungen oder ähnlichem hervorlocken. Vielleicht, weil sie erfahren haben, dass echte Freude ohne Traurigkeit nicht zu haben ist, und sie auf eine unnachahmliche Art bei sich sind, wenn sie sich traurig fühlen.af

Angelika Schett

ist Sozialpsychologin und wandte sich nach dem Studium an der Universität Zürich dem Journalismus zu. Zwischen 1986 und 2014 arbeitete sie fest als Redakteurin im Ressort Gesellschaft bei Radio DRS 2/SRF 2 Kultur. Psychologie, Psychoanalyse, Philosophie und aktuelle Zeitfragen gehören zu ihren Themenbereichen. Während ihrer Radiotätigkeit lernte sie den Erkenntnisgewinn des Gesprächs schätzen. Sie lebt mit ihrem Mann in Basel und hat zwei erwachsene Kinder.