DeutschKlinik und Therapie

Veränderungsprozesse initiieren mit Hilfe der systemischen Fallkonzeption

In der systemischen Therapie dient die idiographische Systemmodellierung zur Fallkonzept-Erstellung. Gemeinsam mit den Klient*innen wird eine grafische Systemstruktur erstellt, die relevante biopsychosoziale Komponenten und deren Wechselwirkungen darstellt. Das Synergetische Navigationssystem (SNS) ermöglicht dabei eine digitale Erfassung und Visualisierung der Musterveränderungen. Die Methode kann Veränderungsprozesse anstoßen und nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch z.B. in der Jugendhilfe, in Coaching und Teamentwicklung angewendet werden. 
Wir haben mit den Autor*innen des Bandes „Systemische Fallkonzeption“, Prof. Dr. Dr. Günter Schiepek, Dr. Bettina Siebert-Blaesing und Marcus B. Hausner über die Methode und ihre vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten gesprochen.

Systemische Fallkonzeption mit der idiographischen Systemmodellierung Bild: (c) praxis – institut für systemische beratung süd Hanau

Durch die sozialrechtliche Anerkennung ist die Frage der Fallkonzeption in der Systemischen Therapie hochrelevant geworden. Kann man kurz skizzieren, welches die Besonderheiten dabei sind?

Günter Schiepek:
Die Fallkonzeption ist in der Psychotherapie sowie in verwandten Praxisfeldern wie Beratung und Coaching seit jeher von zentraler Bedeutung. Ihre Relevanz ergibt sich nicht erst aus der sozialrechtlichen Anerkennung der systemischen Therapie. Es ist ein grundlegendes Element – der Ausgangspunkt und das Koordinatensystem jeder psychotherapeutischen Arbeit. Eine professionelle und verantwortungsbewusste psychotherapeutische Arbeit erfordert daher eine fundierte Fallkonzeption. Sie liefert eine klare Vorstellung davon, welche Maßnahmen ergriffen werden, mit welchem Ziel sie verfolgt werden und wie die Kooperation mit den Patient*innen optimal gestaltet werden kann.

Der Bezug zur sozialrechtlichen Anerkennung ergibt sich allenfalls insofern, als systemische Therapeut*innen nun ebenfalls Gutachten und Anträge verfassen müssen, um die Finanzierung ihrer Therapien sicherzustellen. In diesem Zusammenhang wird mitunter auch eine Fallkonzeption verlangt. Allerdings war dies nicht der Anlass für die Erstellung dieses Buches – vielmehr war es ein Vorhaben, das unabhängig davon seit Langem geplant war. Die zentrale Botschaft lautet daher: Eine fundierte Fallkonzeption ist ein Basic für eine praxisnahe und verantwortungsvolle psychotherapeutische Arbeit.

Wie kam es zur Entwicklung der idiografischen Systemmodellierung?

Günter Schiepek: 
Mein Interesse an der Fallkonzeption entstand aus einer grundlegenden Faszination für die Funktionsweise komplexer Systeme. Als ich mich erstmals intensiver mit diesem Thema beschäftigte, kam ich ursprünglich aus einem verhaltenstherapeutischen Kontext. 

Für mich war es ein Kritikpunkt, dass das SORK-Modell, das ja bis heute bekannt ist, rein linear ist. Daraus entstand die Idee, ein Modell zu entwickeln, das verschiedene psychologische Variablen integriert. Das Ziel war dabei, die relevanten Aspekte für das Verständnis eines individuellen Falls oder einer spezifischen Problematik der Patient*innen herauszuarbeiten und diese rekursiv mit Rückkopplungsprozessen zu verknüpfen – denn komplexe Systeme funktionieren eben genau auf diese Weise. Ein vergleichbares Modell existierte in der Psychologie zu diesem Zeitpunkt nicht.

Wie könnte man das Vorgehen bei der idiografischen Systemmodellierung kurz beschreiben?

Günter Schiepek:
Wichtig ist, dass diese systemische Modellierung nicht ausschließlich auf Mehrpersonensysteme ausgerichtet ist, sondern stets eine psychologische Perspektive verfolgt. In unserem Verständnis ist der systemische Ansatz nicht auf Familientherapie oder Mehrpersonensysteme beschränkt, sondern folgt einem biopsychosozialen Ansatz. Dies sollte auch in den entwickelten Systemmodellen zum Ausdruck kommen, sofern es relevant ist.
Mit einem Systemmodell wird festgelegt, welche Variablen für die Patientin oder den Patienten von Bedeutung sind und wie diese miteinander vernetzt sind. Dieser Prozess erfolgt nicht abstrakt oder theoretisch, sondern in enger Zusammenarbeit mit den Patient*innen selbst. Das Modell dient somit als gemeinsame Arbeitsgrundlage und ermöglicht eine strukturierte und individuell angepasste therapeutische Vorgehensweise.

Beispiel einer idiographischen Systemmodellierung

Von Beginn an werden die Patient*innen als eigenverantwortliche Personen in den Prozess einbezogen. Dies geschieht im wahrsten Sinne des Wortes auf Augenhöhe – beispielsweise vor einer elektronischen Tafel oder einem Flipchart –, wo sie*er aktiv an der grafischen Entwicklung ihres*seines Modells mitwirkt.

Das, was wir als Fallkonzeption bezeichnen, entspricht in diesem Kontext der idiografischen Systemmodellierung. „Idiografisch“ verweist auf die individuelle Fallbeschreibung, während „System“ sich an der klassischen Definition eines Systems orientiert: eine Menge von Elementen, die durch Wechselwirkungen verbunden sind. Der Begriff „Modell“ unterstreicht zudem, dass es sich nicht um eine Abbildung der Realität handelt, sondern um eine abstrahierte, selektive und perspektivenabhängige Darstellung relevanter Zusammenhänge. Diese Bezeichnung trifft den Kern des Konzepts sehr genau, wirkt jedoch etwas sperrig. Daher trägt unser Buch den Titel Systemische Fallkonzeption, der den Ansatz auch sehr gut beschreibt.

Ein ganzheitliches Systemverständnis umfasst zwei zentrale Aspekte: die Struktur und den Prozess. Die Struktur wird durch das Modell repräsentiert, das grafisch erarbeitet und dokumentiert wird. Der Prozess ergibt sich aus dem Modell und wird durch das Synergetische Navigationssystem (SNS) erfasst.

Durch diese Kombination aus grafischer Struktur und dynamischer Prozesserfassung bekommen Therapeut*innen oder Berater*innen ein detailliertes Bild des therapeutischen Verlaufs. Die Entwicklungen können genau und zeitnah nachvollzogen und gemeinsam mit den Patient*innen besprochen werden. Das ist die Gesamtgestalt dessen, was wir als systemische Fallkonzeption bezeichnen.

Das SNS, das Synergetische Navigationssystem, kann für die Entwicklung einer systemischen Fallkonzeption benutzt werden, was bietet das System?

Günter Schiepek:
Das Synergetische Navigationssystem (SNS) bietet eine außergewöhnlich hohe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Es handelt sich dabei möglicherweise um das weltweit komplexeste und am stärksten individualisierte System dieser Art, da es vollständig generisch ist. Das bedeutet, dass nahezu keine festen Vorgaben existieren, man kann es auf den jeweiligen Fall und das spezifische Thema anpassen. Es ist einsetzbar in unterschiedlichen Kontexten wie Einzeltherapie, Paar- und Familientherapie, Teamentwicklung oder anderen Anwendungsfeldern.

Das SNS ist ein internet- und serverbasiertes System, das eine einfache Dateneingabe ermöglicht, z.B. über Laptop, PC oder in der Praxis vor allem über eine App auf dem Smartphone der Patient*innen. Diese können damit selbstständig Einschätzungen über sich vornehmen oder Fremdeinschätzungen durch Dritte einholen.

In der Regel wird das System routinemäßig täglich genutzt. Im Vergleich zu anderen Verfahren im Bereich des Feedback- oder Routine Outcome Monitoring, wie sie heute verbreitet sind, bietet das SNS eine sehr hochfrequente Datenerhebung. Dadurch entstehen Zeitreihen, die visuell dargestellt werden, vergleichbar mit Aktienkursen oder EEG-Kurven. Diese lassen sich per Knopfdruck analysieren. Auf systemischer Ebene können dabei Phasenübergänge, Musterveränderungen, Synchronisationen und Synchronisationswechsel sowohl intraindividuell als auch interindividuell analysiert werden. Diese Darstellungen dienen als Grundlage für das therapeutische Gespräch und bieten wertvolle Einblicke in die Entwicklung des Patienten.

Der Feedbackprozess passiert also zweischleifig:

  • Selbsteinschätzung der Patient*innen, die sich einige Minuten Zeit nehmen, um ihren Tag zu reflektieren in Bezug auf ihr Erleben und auf ihr Verhalten.
  • In den Therapie-, Coaching- oder Beratungssitzungen werden die erhobenen Daten gemeinsam mit den Patient*innen besprochen. Dadurch kann der therapeutische Prozess eng an der individuellen Entwicklung ausgerichtet werden.

Nach 20 Jahren Anwendungserfahrung zeigen sich deutliche positive Effekte des SNS. Es unterstützt die Therapiebeziehung, fördert die Selbstreflexion und Emotionsregulation und steigert die Veränderungsmotivation der Patient*innen. Viele berichten, dass sie sich durch den kontinuierlichen Prozess intensiv wahrgenommen und begleitet fühlen. 

Frau Siebert-Blaesing, Sie haben das Projekt „Kraftquellen“ durchgeführt, worum handelt es sich hier und wie haben Sie das Synergetische Navigationssystem (SNS) dabei genutzt?

Bettina Siebert-Blaesing:
Ich komme aus der Sozialpädagogik, einem Bereich, in dem mit anderen Methoden und theoretischen Konstrukten gearbeitet wird als in der Psychotherapie. Bei meiner Promotion zum Thema „Geduld als Ressource. Gesundheitsförderung junger Erwachsener im Einzelcoaching“ wollte ich das Synergetische Navigationssystem (SNS) in meine Forschung integrieren. Dies war jedoch an meinem damaligen Standort nicht umsetzbar. Gleichzeitig habe ich ein Coachingprojekt für junge Erwachsene im Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) initiiert, das parallel zu meiner Dissertation lief. Der erste Schritt bestand darin, überhaupt eine Forschungsstruktur in diesem Kontext zu etablieren. Gemeinsam mit den Kolleg*innen aus dem FSJ habe ich eine erste Projektidee entwickelt, wir wollten durch längsschnittliche Erhebungen systematisch untersuchen, wie Coachingprozesse über die Zeit wirken. 

Das Projekt hat mit der Idee begonnen, junge Erwachsene in einer Bildungswoche zu begleiten und zu beobachten. Jedes Jahr starten bei uns im Erzbistum München und Freising rund 100 Teilnehmer, von denen sich eine Gruppe für das Projekt interessiert hat. Im ersten Jahr haben sechs Personen teilgenommen. Die Methodik umfasste mehrere Coaching-Termine, die wir an die Lebenssituation der jungen Erwachsenen angepasst haben.

Im zweiten Jahr wurden weitere Coaching-Kolleg*innen einbezogen, damit konnten wir Prozesse genauer beobachten und eine Reflexion der Entwicklungen ermöglichen. Durch das idiografische Systemmodell konnten wir für jede Person eine individuelle Struktur aufzeigen – und allein das hatte bereits großen Wert. Viele Teilnehmende gaben zurück, dass sie sich noch nie so intensiv gesehen und wahrgenommen gefühlt haben.

Ein zentrales Forschungsthema war die Geduld. Die Teilnehmenden sollten über ihre Geduld mit sich selbst und mit anderen reflektieren. Dabei hat sich gezeigt, dass viele mit sich selbst ungeduldiger waren als mit anderen. Auch den Zusammenhang zwischen Geduld, Warten und Achtsamkeit haben wir untersucht. Die Prozesse wurden dokumentiert und mit den Teilnehmenden reflektiert, um individuelle Ressourcen und Entwicklungsverläufe sichtbar zu machen.

Beeindruckend war die hohe Motivation der Teilnehmenden, sich selbst besser zu verstehen. Es ging um Fragen wie: Wer bin ich gerade? Wer werde ich? Wie gehe ich mit Herausforderungen wie Trennungen, Wohnungssuche oder Studienplatzsuche um? Die Erkenntnisse des Projekts haben gute Einblicke in die Belastungen junger Erwachsener bereits vor der Corona-Pandemie geliefert. Durch den immensen Leistungsdruck, unter dem viele junge Menschen stehen, war der Wunsch der jungen Menschen deutlich, gehört zu werden, gesehen zu werden, und darauf müssen wir in unseren Methodiken auch eingehen. 

Besonders gefreut hat uns auch, dass das Projekt wegen seines innovativen Ansatzes für den Deutschen Demografie-Preis nominiert wurde.

Herr Hausner, Sie beschreiben in einem Kapitel das Coaching einer Führungskraft. Sie begreifen Coaching als Selbstorganisationsprozess, welche Vorteile hat das Arbeiten mit dem SNS für den Coachee?

Marcus B. Hausner: 
Die Grundkoordinaten, auf die wir zugreifen, sind ja immer wieder dieselben, wenn wir im bio-psychosozialen Kontext arbeiten, mit Menschen arbeiten. Ob mit jungen Menschen, Personen in psychotherapeutischer Begleitung oder einer Produktionsleiterin mit zwei Standorten – die Prinzipien bleiben vergleichbar. Für mich persönlich, der sich in der Lebensmitte mit einem weiterbildenden Masterstudium in Heidelberg noch einmal neu auf den Weg gemacht hat, um über Beratung nachzudenken, war die Begegnung mit der Arbeit von Günter Schiepek ein Schlüsselmoment. Ich war sofort fasziniert von der Idee, dass sich Systeme durch das SNS in ihrem Handeln selbst beobachten können – und dass sich dadurch Effekte wie Gesehenwerden, eine gesteigerte Selbstwirksamkeit und Veränderungsprozesse entfalten, ohne dass ich als Berater aktiv etwas von außen eingebe.

Der entscheidende Unterschied zu meinen früheren Coachings besteht darin, dass ich nun mit dem technischen Werkzeug SNS und der theoretischen Grundlage der Systemmodellierung arbeite – die ich gerne als „Landkarte“ bezeichne, um den Einstieg für den Coachee zu erleichtern. Dadurch verlagert sich der eigentliche Veränderungsprozess aus der Sitzung heraus in den Alltag des Coachees, weil eine kontinuierliche Reflexion stattfindet. Ich begleite diesen Prozess in regelmäßigen Abständen, beispielsweise alle zwei Wochen, durch ein Monitoring. Heute Morgen etwa hatte ich ein Gespräch mit einem Coachee: Vor drei Wochen hatten wir gemeinsam das Systemmodell erstellt und daraus ein Set von acht Items abgeleitet. Nun waren erste Daten vorhanden und mein Coachee war gespannt wie ein „kleiner Tiger“ darauf, was sich darin zeigt. 

Diese Selbstbetrachtung ist ein zentraler Punkt, wie auch Günter und Bettina bereits betont haben, sie stimuliert ungemein und hält die Bereitschaft aufrecht, neugierig zu bleiben – sich neuen kognitiven oder verhaltensbezogenen Mustern zu öffnen und sich anzueignen. Genau das ist für mich einer der wertvollsten Effekte dieser Vorgehensweise.

Herr Schiepek, Sie wollten noch etwas ergänzen zum Vorgehen und zum Thema Personalisierung?

Günter Schiepek:
Die Personalisierung in der Psychotherapie gewinnt seit einigen Jahren an Bedeutung. Gerade bei den Psychotherapieforschern und bei vielen Praktikern trifft die Methode auf große Resonanz in letzten Zeit. 

Denn wir starten ja ohne feste Vorannahmen mit einem leeren Blatt Papier, hören zu und notieren die relevanten Variablen für das Systemmodell. Am Ende visualisiert der Patient seine eigene Struktur. Mithilfe des SNS lässt sich daraufhin ein personalisierter Fragebogen erstellen – das SNS hat einen Fragebogeneditor - , der genau die Themen, Ziele und Konflikte der Patientin*des Patienten erfasst. Dies fördert nicht nur das Verständnis, sondern wird von vielen als Kernmoment ihrer Therapie beschrieben. Diese personalisierte Prozessgestaltung ist ein wichtiger Punkt, eine wichtige Botschaft.

Bettina Siebert-Blaesing:
Eine zentrale Herausforderung ist es, sich sprachlich wirklich auf die Klient*innen einzulassen. Je mehr Fachwissen man hat, desto leichter verfällt man in einen wissenschaftlichen Sprachstil. Deshalb ist es wichtig, bewusst innezuhalten und die Worte der Klientin*des Klienten direkt aufzugreifen. Das schafft Vertrauen und führt hin zu einer echten Zusammenarbeit auf Augenhöhe.

Wir investieren bewusst Zeit bei der idiografischen Systemmodellierung, um die individuellen Begriffe und Perspektiven herauszuarbeiten, das steigert auch die Motivation der Klient*innen.

Marcus B. Hausner:
Das ist auch in meiner Praxis immer wieder sehr schön zu sehen. Wir arbeiten ja sonst in der Beratung mit vielen Modellen und Deutungshilfen, die einfach lehrmäßig eingeführt werden. Erstaunlich ist, wie sich in diesem Prozess Coachees identifizieren: Das ist mein Modell, das ist meine Sicht auf diese Welt. Auch später haptisch, wenn etwas am Flipchart entsteht und sie es mit nach Hause tragen und sagen: Das ist mein Orientierungspunkt, das ist das, was ich mir jetzt angeeignet habe. Es ist wirklich sehr berührend zu sehen, wie relevant es wird im Alltag.

Könnte und sollte die idiographische Systemmodellierung in Aus- und Weiterbildung Anwendung finden?

Günter Schiepek:
Ich würde gern zunächst noch etwas zur Qualitätssicherung sagen. Ich war kürzlich bei einer Veranstaltung der Bundespsychotherapeutenkammer zum Thema Evaluation und Qualitätssicherung in der Psychotherapie. In ihrem Abschlussvortrag stellte eine Vorstandskollegin Kriterien vor, die eine sinnvolle Evaluation erfüllen sollte, eine Evaluation, die direkt aus der Praxis kommt, den laufenden Prozess begleitet und konkrete Hilfestellungen bietet. Genau hier setzt unser Buch an: Es zeigt, wie Feedback im therapeutischen Prozess integriert, gemeinsam mit den Patient*innen reflektiert und für die weitere Arbeit genutzt werden kann – engmaschig, praxisnah und detailliert. Damit wird eine Evaluation geschaffen, die nicht nur der Qualitätssicherung dient, sondern die Therapie aktiv unterstützt.

Die Systemmodellierung als grundlegendes Element in der Praxisausbildung zu verankern, wäre ein großer Wunsch. Insbesondere als Unterstützung von Selbstorganisationsprozessen. Diese verlaufen nicht linear, sondern in qualitativen Sprüngen, durch Phasen der Destabilisierung und anschließender Neuordnung. Ein solches Prozessverständnis ist anspruchsvoll und weicht von den oft diskutierten „Standardtracks“ ab – denn in der Psychotherapie gibt es keine festen Abläufe. Jeder Prozess ist individuell, komplex und nicht vorhersehbar. Genau hier setzt das SNS an.

Bettina Siebert-Blaesing:
Meine Wahrnehmung ist, dass man das SNS sehr gut in den Master mit reinnehmen kann, es sind aber wirklich Einzelfälle, wo synergetisch motivierte Professor*innen sagen: Das ist ein Tool, was wir nutzen können und dann setze ich das auch mit ein. Aber das ist sehr innovativ, es ist noch nicht bekannt.

Marcus B. Hausner:
Ich nutze es auch in meinen Lehrveranstaltungen am Institut für Bildungswissenschaft in Heidelberg im Masterstudium mit Schwerpunkt Organisationsentwicklung. Die Studierenden greifen es fast intuitiv auf, die Idee der Modellierung und den Umgang mit einem nicht linearen, sondern komplex dynamischen Zugang zu organisationalen Wirklichkeiten sicherzustellen. Es sind Einzelerfahrungen, die wir haben, die aber ermutigend sind.

Bettina Siebert-Blaesing:
Zwei Punkte möchte ich noch ergänzen. Erstens: Für alle, die sich mit der Methode näher beschäftigen möchten, gibt es die Zusatzausbildung „Synergetisches Prozessmanagement“. Ich habe sie selbst durchlaufen und fand sie äußerst wertvoll – insbesondere den interdisziplinären Austausch mit anderen Teilnehmenden. (Link siehe unten)

Zweitens: Nach dem Tod von Hermann Haken befindet sich die synergetische Szene im Umbruch. Es geht darum, sich strategisch neu aufzustellen, Fördermöglichkeiten zu erschließen und die eigene Arbeit sichtbarer zu machen. In den nächsten Jahren wird sich hier viel entwickeln. Unser Buch soll genau diesen Prozess anstoßen und zeigt, wie das SNS praxisnah genutzt werden kann.

Gerade in Zeiten des Wandels stellt sich die Frage: Wie gehen wir mit Komplexität um? Wo bleiben wir handlungsfähig? Das fasziniert viele Kolleg*innen – insbesondere der Umgang mit Übergangsphasen, in denen das Alte nicht mehr passt, das Neue aber noch nicht greifbar ist. Wir sehen das in der Politik genauso wie bei jungen Erwachsenen, die zwischen Kindheit und Erwachsenenalter stehen. Wie können wir in solchen instabilen Phasen Orientierung finden? Die Synergetik liefert hier wertvolle theoretische Grundlagen, die wir in der Praxis nutzbar machen – auch durch den Austausch zwischen verschiedenen Disziplinen und Schulen.

Univ.-Prof. Dr. Dr. Günter Schiepek

Univ.-Prof. Dr. Dr. Günter Schiepek. Leiter des Instituts für Synergetik und Psychotherapieforschung an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg. Professor an der der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg sowie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Geschäftsführer des Center for Complex Systems. Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Ehrenmitglied der Systemischen Gesellschaft. Mitglied des wissenschaftlichen Direktoriums der Deutsch-Japanischen Gesellschaft für integrative Wissenschaft. Lehrtherapeut für Systemische Therapie (DGSF). Gastprofessor am Department of Psychology der Sapienza University, Rom (2019). Fellow des Mind Force Institute, Sapienza University, Rom. Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Wissenschaftlicher Beirat der DGSF.
Arbeitsschwerpunkte: Synergetik und Dynamik nichtlinearer Systeme in Psychologie, Management und in den Neurowissenschaften. Prozess-Outcome-Forschung in der Psychotherapie. Neurobiologie der Psychotherapie. Internet-basiertes Real-Time Monitoring in verschiedenen Anwendungsfeldern. 
Wissenschaftlicher Beirat zahlreicher Institute, Verbände (u.a. der DGSF) und Fachzeitschriften. Autor oder Herausgeber von 25 Büchern. Etwa 300 internationale und deutschsprachige Publikationen in Fachzeitschriften und Büchern.

Dr. Bettina Siebert-Blaesing

Dr. phil. Dipl. Soz.Päd. Bettina Siebert-Blaesing, geb. 1968, 1988 – 1992 Studium Sozialwesen (Sozialpädagogik/ Bildungsarbeit), Aachen. 2009 – 2011 Studium Journalismus/Fachjournalismus, Berlin. 1994 – 1995 Bildungsreferentin der DPSG (Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg) Diözesanverband Aachen. 1995 -2024 ‚Kirchliche Jugendpflegerin‘, Bereichsleitung, ‚Fachreferentin Jugend und Arbeit‘ in der Erzdiözese München und Freising. Von 2/2024 bis 2/2025 „Fachbereichsleitung Kindertageseinrichtungen“ des Caritasverbandes e.V. der Erzdiözese München und Freising. Seit dem 1.2.2025 dort als ‚Fachreferentin wissenschaftliche Zusammenarbeit‘ für den Vorstandsvorsitzenden Prof. Sollfrank tätig. 2021 Promotion an der Katholischen Universität Ingolstadt-Eichstätt am Lehrstuhl für Sozialpädagogik. 7/2022-1/2023 Professur Soziale Arbeit Professur Soziale Arbeit an der Internationalen Universität (IU). Weiterbildungen in Supervision (DGSv/SG), Systemischer Therapie und Beratung (SG) und Sozialmanagement. Nebenberufliche Tätigkeit als Supervisorin/Coach (DGSv, SG), Journalistin (DFJV, JB) und Lehrbeauftragte (hlb) (FOM/DIPLOMA-Hochschule) im Fachbereich ‚Gesundheit und Soziales‘. Arbeitsschwerpunkte: Professionalisierung und Methoden, Vernetzung und Anwendungsforschung in der Sozialen Arbeit, Coaching/Supervision/Führung sowie ‚Geduld als Ressource‘ in Krisen und Übergängen.

Marcus B. Hausner

Marcus B. Hausner, M.A., geb. 1968. Studium der Betriebswirtschaft in Stuttgart und der Beratungswissenschaft in Heidelberg. Seit 1999 als Trainer, Berater und Coach selbständig und seit 2025 als Senior-Berater & Inhaber bei Element Führung – Beratungsteam tätig. Seit 2021 Doktorand und seit 2023 als Dozent am Institut für Bildungswissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg tätig. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Führungskräfte- und Organisationsberatung zur Förderung einer komplexitätsorientierten und kooperativen Führungskultur. 

Empfehlung des Verlags

Systemische Fallkonzeption Idiographische Systemmodellierung und personalisierte Prozessgestaltung herausgegeben von Günter Schiepek, Bettina Siebert-Blaesing, Marcus B. Hausner
Die Entwicklung eines Fallkonzepts steht am Beginn jeder therapeutischen bzw. beratenden Tätigkeit. Das Buch stellt das Vorgehen bei der systemischen Fallkonzeptualisierung anhand zahlreicher Praxisbeispiele aus unterschiedlichen Anwendungsfeldern dar und nutzt dafür die Methodik der idiographischen Systemmodellierung.