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Vom Halten der Balance zwischen Stressabbau und Bedürfnisbefriedigung

Von Dr. phil. Christian Schanz, Prof. (apl.) Dr. Monika Equit, Jun.-Prof. Dr. Sarah Schäfer.

Stress zu verringern kann vor psychischen Erkrankungen schützen und negative Gefühle reduzieren – Stressreduktion allein macht aber nicht glücklich. Wohlbefnden entsteht nur, wenn unsere (Grund-)Bedürfnisse befriedigt werden. Eine zuverlässige, langfristige Bedürfnisbefriedigung müssen wir jedoch häufig durch (kurzfristigen) Stress „erkaufen“. Schwierig wird es, wenn hierbei die (im)materiellen „Kosten“ steigen, Stress nicht ausreichend gut bewältigt wird und/oder Bedürfnisse brach liegen.

Kein Stress ist nicht genug Balance Figur von ernst bis lachend Smiley Stressbewältigung

Grundbedürfnisse

Menschen unterscheiden sich in ihrem Temperament, ihren Glaubenssätzen, ihren Verhaltensstrategien und vielem mehr – im Kern wollen sie jedoch (fast) das Gleiche. Unsere geteilten Bedürfnisse nach Lustgewinn und Unlustvermeidung, Bindung und Zugehörigkeit, Autonomie und Freiheit, Wirksamkeit und Kompetenzerleben sowie Identität und Selbstverwirklichung nennt man Grundbedürfnisse (Grawe, 2003; Ryan, & Deci, 2017; Maslow, 1943). Manche Grundbedürfnisse sind angeboren (z.B. das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung), andere entstehen im Zuge der individuellen Entwicklung (z.B. das Bedürfnis nach Identität und Selbstverwirklichung). Die Wichtigkeit einzelner Grundbedürfnisse unterscheidet sich erheblich zwischen verschiedenen Menschen. Für diese Unterschiede verantwortlich sind die Beziehungs- und Lernerfahrungen, die wir im Laufe des Lebens machen und aus denen wir schlussfolgern, welche Anforderungen wir meistern müssen, um Bedürfnisse zu befriedigen und welche Bedürfnisse besonders stark von Verletzung und Vernachlässigung bedroht sind (Sachse, 2004). 

Beispiel: 
Für Michael war schon im Jugendalter klar, dass zu seinem persönlichen Glück das Gründen einer Familie gehören wird. Dieser Wunsch ist fest mit seiner Identität verankert. Dazu beigetragen hatte wohl auch, dass er seine eigene Herkunftsfamilie „nicht gerade als Zuckerschlecken“ bezeichnen würde. In seiner Kindheit drohte das Familiengefüge beinahe dauerhaft an Ehestreitigkeiten über finanzielle Sorgen und familiäre Verantwortlichkeiten zu zerbrechen. Für Michael steht daher fest, dass er, bevor er seinen Wunsch nach einer Familie umsetzen möchte, zunächst eine gute berufliche Perspektive und eine stabile finanzielle Basis schaffen will. Deshalb investiert er zurzeit viel Energie in seine Arbeit und nimmt so manches Unlusterleben in Kauf (z.B. Launen seiner Vorgesetzten). 

Das heißt, Michael hat für sich gelernt, dass (finanzielle) Autonomie eine wichtige Voraussetzung für stabile Bindungen sei und beides nur gemeinsam sein Identitäts- und Selbstverwirklichungsbedürfnis befriedigen können. Wäre er anders aufgewachsen und/oder hätte andere Schlüsse aus seinen Beziehungs- und Lernerfahrungen gezogen, würde sein Alltag sicher ganz anders aussehen.

Allen Grundbedürfnissen gemeinsam ist, dass ihre funktionale, langfristige Befriedung nur durch Interaktion mit anderen Menschen und die aktive (Mit-)Gestaltung der Umwelt möglich ist. Das kann und wird im Verlauf des Lebens zwangsläufig immer wieder zu Konflikten, neuen Herausforderungen und Überforderung führen. Das heißt, das Befriedigen von Grundbedürfnissen führt zu Stress und ist mit der Notwendigkeit verbunden, mit diesem umzugehen und sich herausfordernden Bedingungen anpassen zu können.

Stresserleben

Stress ist ein natürlicher Bestandteil des Lebens und unvermeidlich. Er entsteht, wenn wir eine Situation als bedrohlich erleben und daran zweifeln, dass unsere Ressourcen ausreichen werden, um diese Bedrohung zu bewältigen (Lazarus & Folkman, 1984). Stresserleben ist daher etwas Subjektives und nichts Objektives. Wichtig ist es, sich in diesem Zusammenhang bewusst zu machen, dass die körperlichen und psychischen Reaktionen auf Stress im Kern funktional sind (Selye, 1956). Denn Körper und Psyche bereiten sich darauf vor, entweder der Bedrohung aktiv zu begegnen (Kampfmodus), ihr auszuweichen (Fluchtmodus) oder sie auszuhalten (Erduldungsmodus). Problematisch kann es jedoch werden, wenn Stress:

  • mit sehr hoher Intensität auftritt (z.B. bei potenziell traumatischen Ereignissen)
  • chronisch vorliegt (z.B. Dysregulation des Immunsystems, Gouin, 2011) 
  • die erfolgreiche Bewältigung der vorliegenden Situation gefährdet (z.B. beschleunigte Atmung und Steigerung der Herzrate in einer mündlichen Prüfung)

Werden belastende Situationen und/oder das Stresserleben nicht erfolgreich bewältigt, kann dies die Wahrscheinlichkeit psychischer Erkrankungen erhöhen (Wittchen & Hoyer, 2011). Psychische Erkrankungen ihrerseits reduzieren die Alltagsfunktionalität und die Teilhabe an sozialen, beruflichen und privaten Lebensbereichen (Gärtner et al., 2010), wodurch sie langfristig auch die Chance auf Bedürfnisbefriedigung und Wohlbefinden senken (Hohls et al., 2021).

Bedürfnisbefriedigung und Stress vereinbaren

Einerseits reduzieren intensive, chronische und maladaptive Stressreaktionen die Wahrscheinlichkeit der Befriedigung unserer Bedürfnisse, andererseits können viele Bedürfnisse nur befriedigt werden, wenn wir (das Risiko von) Stress in Kauf nehmen und mit diesem (kurzfristig) umgehen.

Beispiele: 
Das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit ist Menschen angeboren. Während es im Kleinkindaltern vor allem den Bezugspersonen obliegt, das Bindungsbedürfnis zu befriedigen, wird die Befriedigung dieses Bedürfnisses im Laufe des Lebens mit vielen Herausforderungen verbunden sein. Er*Sie wird zum Beispiel mit Gruppenbildung in der Schule oder sogar mit sozialem Ausschluss und Mobbing konfrontiert werden. Im Jugendalter wird er*sie wahrscheinlich anfangen, sich eine romantische Beziehung zu wünschen und vielleicht den Stress (und das Vergnügen) des ersten Dates erleben. Falls er*sie eine Familie gründen möchte, wird die Beziehung zu den eigenen Kindern wahrscheinlich eine prägende und nachhaltige Bindungserfahrung sein, die gleichzeitig mit vielen Mühen (z.B. nachts aufstehen, um das Baby zu versorgen) und Sorgen einhergehen wird (z.B. Befürchtung, dass sich das Kind beim Spielen auf dem Klettergerüst verletzt).

Um das Wohlbefinden zu fördern, ist es daher wichtig herauszufinden, welche individuelle Grundbedürfnisse besonders wichtig sind und Pläne zu entwickeln, wie diese befriedigt werden können. Da Rückschläge und Verluste zum Leben gehören, ist es dabei wichtig, nicht alles auf eine Karte zu setzen, sondern Bedürfnisbefriedigung, in verschiedenen Lebensbereichen in den Blick zu nehmen (z.B. Beruf, Familie, Freizeit, gesellschaftliches Engagement). Dann gilt es aktiv zu werden und diese Lebenspläne zu verfolgen, obwohl deren Umsetzung zwangsläufig mit Stress verbunden sein wird. Damit das gelingt, wird man einerseits ausreichende Ressourcen brauchen, um die eigenen Pläne effektiv umzusetzen und andererseits ausreichend funktionale Regulationsstrategien entwickeln müssen, um den aufkommenden Stress gut zu bewältigen. Zusätzlich gilt es „unnötigen“ Stress zu vermeiden (d.h. Stress, der voraussichtlich nicht zur Bedürfnisbefriedigung führt) und Pläne anzupassen, wenn ihre Umsetzung mit zu vielen (im)materiellen „Kosten“ verbunden ist, sie nicht mehr zur aktuellen Lebensphase passen und/oder nicht (mehr) erreichbar scheinen.

Flexibilität bringt Balance

Wie es im Detail gelingt, Bedürfnisbefriedigung und Stress(bewältigung) unter einen Hut zu bekommen, beschreiben wir in unserem Ratgeber „Kein Stress ist nicht genug: Eigene Bedürfnisse erkennen und das Wohlbefinden steigern“. Einen zentralen Baustein zum Aufbau von Wohlbefinden und der Regulation von Stress möchten wir Ihnen jedoch bereits hier vorstellen: Flexibilität. Flexibilität meint, dass wir uns nicht auf eine Lösungsstrategie oder einen Bewältigungsstil versteifen, sondern unser Verhalten an sich verändernde Umstände anpassen (Bonanno & Burton, 2013). Denn nur weil man einen Hammer hat, ist eben nicht gleich jedes Problem ein Nagel. Stattdessen ist es normal, dass eine Lösungsstrategie, die womöglich mit sechs Jahren angemessen war (z.B. die Eltern bitten, wegen Problemen in der Klasse mit Lehrer*innen zu sprechen) mit 26 Jahren nicht mehr adaptiv ist (z.B. die Eltern bitten, wegen Problemen auf der Arbeit mit Vorgesetzen zu sprechen). Auch unterscheidet sich ein angemessener Umgang mit Problemen je nach Lebensbereich. Ist eine Person beispielsweise in einer Leitungsposition in einem Unternehmen, kann es ein wichtiger Bestandteil des Jobs sein, Mitarbeitenden Aufgaben zuzuteilen, deren Erfüllung (auch ungefragt) zu kontrollieren und dazu Feedback zu geben. Einen ähnlichen Habitus an den Tag zu legen, wäre hingegen in einer Paarbeziehung in der Regel unangemessen und würde (langfristig) wahrscheinlich zu mehr Problemen führen. Flexibilität sollte dabei jedoch nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Während Flexibilität bezüglichen Zielen und Lösungsstrategien auf Ebene einzelner Probleme und Situationen hilfreich ist, ist es ebenso wichtig, bezüglich langfristiger Ziele und Pläne (z.B. Lebenszielen) eine gewisse Stabilität zu entwickeln. Das liegt daran, dass einige (Grund-)Bedürfnisse (z.B. Bindung und Zugehörigkeit, Identität und Selbstverwirklichung), nur nachhaltig befriedigt werden können, wenn man über längere Zeit hinweg einem eingeschlagenen Weg treubleibt und ihn trotz vorhandener Widrigkeiten weiterverfolgt (z.B. setzt das Erleben einer tiefen verlässlichen Bindung in der Regel eine gewisse Konstanz in zwischenmenschlichen Beziehungen und das Aushalten und Lösen von Konflikten voraus). Um in der zuvor gewählten Bildsprache zu bleiben: Beim Hausbau ist es sicherlich sinnvoll neben einen Hammer, einen Schraubenzieher, einen Zollstock und vieles mehr im Werkzeugkasten zu haben. Den Bauplan Tag für Tag zu ändern, wird jedoch kaum zielführend sein.

Literaturverzeichnis

Bonanno, G. A., & Burton, C. L. (2013). Regulatory flexibility: An individual differences perspective on coping and emotion regulation. Perspectives on Psychological Science, 8(6), 591-612.

Gärtner, F. R., Nieuwenhuijsen, K., van Dijk, F. J., & Sluiter, J. K. (2010). The impact of common mental disorders on the work functioning of nurses and allied health professionals: a systematic review. International Journal of Nursing Studies, 47(8), 1047-1061.

Grawe, K. (2003). Neuropsychotherapie. Hogrefe.

Gouin, J. P. (2011). Chronic stress, immune dysregulation, and health. American Journal of Lifestyle Medicine, 5(6), 476-485.

Hohls, J. K., König, H. H., Quirke, E., & Hajek, A. (2021). Anxiety, depression and quality of life—a systematic review of evidence from longitudinal observational studies. International Journal of Environmental Research and Public Health, 18(22), 12022.

Maslow, A. H. (1943). A theory of human motivation. Psychological Review, 50(4), 370–396.

Ryan, R. M. & Deci, E. L. (2017). Self-determination theory: Basic psychological needs in motivation, development, and wellness. Guilford Publishing.

Sachse, R. (2004). Persönlichkeitsstörungen. Leitfaden für die psychologische Psychotherapie. Hogrefe.

Selye, H. (1956). The stress of life. McGraw-Hill. 

Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (2011). Was ist Klinische Psychologie? Definitionen, Konzepte und Modelle. In H.-U. Wittchen & J. Hoyer (Hrsg.), Klinische Psychologie & Psychotherapie. Springer.

Dr. phil. Christian Schanz

Dr. phil. Christian Schanz, Psychologischer Psychotherapeut (VT), geb. 1990. 2012–2017 Studium der Psychologie in Saarbrücken. Seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität des Saarlandes. Arbeitsschwerpunkt: Psychotherapeutische Diagnostik, Lehrkoordination.

Prof. (apl.) Dr. Monika Equit

Prof. (apl.) Dr. Monika Equit, Psychologische Psychotherapeutin (VT, Erweiterte Fachkunde Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie), geb. 1978. 1998-2002 Studium der Psychologie an der Universität des Saarlandes. 2007 Promotion, Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg. Seit 2014 Leitung der Psychotherapeutischen Universitätsambulanz, Universität des Saarlandes und Venia Legendi für das Fach Psychologie. Seit 2015 Supervisorin (VT) und Co-Leitung des Weiterbildungsinstitutes für Psychotherapie Saarbrücken an der Universität des Saarlandes (WIPS GmbH). Arbeitsschwerpunkte: Behandlung von Angst- und Traumafolgestörungen.

Jun.-Prof. Dr. Sarah Schäfer

Jun.-Prof. Dr. Sarah Schäfer, Psychologische Psychotherapeutin (VT, Erweiterte Fachkunde Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie), geb. 1991. 2011–2016 Studium der Psychologie in Saarbrücken. 2017 – 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität des Saarlandes. 2020–2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Präventionsforschung und Sozialmedizin an der Universitätsmedizin Greifswald. Seit 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Resilienzforschung (LIR) in Mainz. Seit 2023 Juniorprofessorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Technischen Universität Braunschweig. Arbeitsschwerpunkte: Psychologische Resilienz und systematische Übersichtsarbeiten.

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Das sagt der Dorsch zu:

Stress [engl. Beanspruchung, Belastung, Druck, Anspannung; distress Sorge, Kummer], [AO, BIO, GES, KLI], im allg. Sprachgebrauch bedeutet Stress eine subj. unangenehm empfundene Situation, von der eine Person neg. beeinflusst wird (Distress), i. Ggs. zum anregenden pos. Stress (Eustress). Der neg. Distress führt nachweislich zu somatischen Schädigungen, wobei nicht nur die vermehrte Ausschüttung von sog. Stresshormonen (Hormone, Adrenalin, Kortisol etc.) eine Rolle spielt, sondern nach neueren zellphysiologischen Befunden ebenso ein bei Stress in best. Blutzellen nachweisbares Protein (NF-kappaB), das Abbauprozesse im Körper in Gang setzt.

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