DeutschKlinik und Therapie

Von Lehrzielen zu Prüfungsaufgaben in sechs Schritten

Von Prof. Dr. Florian Klapproth.

 

Mit der Einführung studienbegleitender Leistungserhebungen ist an Universitäten und anderen Hochschulen ein erhöhtes Prüfungsaufkommen zu verzeichnen. Dabei sind vor allem schriftliche Prüfungen zunehmend attraktiv geworden, da sie im Vergleich zu mündlichen Prüfungen ökonomische Vorteile bieten. Prüfungen sollten immer auf Lehrziele bezogen sein, da Lehrziele die Festlegung angestrebter Lernergebnisse im Sinne von zu vermittelnden Kompetenzen sind. Der Prozess der Entwicklung von Prüfungsaufgaben aus Lehrzielen lässt sich in sechs Schritte unterteilen.
 

Studierende der Psychologie lösen Prüfungsaufgaben

Schritt 1: Listung von Unterrichtsinhalten

Der Beginn der Entwicklung einer schriftlichen Prüfung sollte zunächst darin bestehen, sich einen Überblick über die unterrichteten Inhalte zu verschaffen. Ein sinnvolles und pragmatisches Vorgehen ist, diese Inhalte in einer Liste schriftlich festzuhalten. Dabei ist es gut möglich, dass über zum Beispiel ein Semester hinweg eine ganze Reihe von Themen aufgelistet werden. Diese Themen können Fakten, Theorien, Prozeduren und alle anderen Arten von „Texten“ darstellen, von denen die lehrende Person meint, sie seien prüfungsrelevant. Alle prüfungsrelevanten Inhalte der Lehrveranstaltung werden anschließend nach Ober- und Unterthemen hierarchisiert. Oberthemen sind in der Regel die Themen einzelner Vorlesungen, Unterthemen die konkreten Inhalte, die in einer Vorlesung behandelt wurden.

Schritt 2: Die Lehrzielmatrix

Ober- und Unterthemen können anschließend in einer Lehrzielmatrix dargestellt werden. In dieser wird festgelegt, welche konkrete Fähigkeit von den Studierenden in Bezug auf die jeweiligen Inhalte erwartet wird. Die Oberthemen bilden die erste Spalte der Lehrzielmatrix. Dann folgt eine Spalte mit den Unterthemen. Nachdem nun die Inhalte bestimmt sind, kann in Anlehnung an die Taxonomie kognitiver Prozesse von Bloom und Mitarbeitern festgelegt werden, welcher kognitive Prozess mit dem jeweiligen Inhalt verknüpft werden soll. Es muss also entschieden werden, welcher der Inhalte erinnert, verstanden, angewendet, etc. werden soll und mit welcher Art von Wissen diese kognitiven Prozesse stattfinden sollen. Dazu werden in die Lehrzielmatrix sechs Spalten für die Prozessdimension eingefügt. Tabelle 1 zeigt ein Beispiel einer Lehrzielmatrix mit zwei Ober- und jeweils zwei Unterthemen.

Tabelle 1. Beispiel einer Lehrzielmatrix.

Schritt 3: Die Spezifikationstabelle

Da die Liste der Ober- und Unterthemen mitunter recht lang sein kann, stellt sich für viele Dozierende die Frage, wie der Prüfungsstoff sinnvoll eingegrenzt werden kann. Eine mögliche Herangehensweise besteht darin, sich zu überlegen, welche Themen besonders wichtig und welche eher vernachlässigbar sind. Dieser Weg kann durch das Aufstellen einer Spezifikationstabelle formalisiert werden. In einer Spezifikationstabelle wird festgelegt, welche Kombinationen von Themen und Prozessdimensionen mit welchem Gewicht in die Prüfung fließen sollen. Die Gewichtung der jeweiligen Kombinationen sollte sich an dem relativen Aufwand bei der Beschäftigung mit dem jeweiligen inhaltlichen Bereich, der aufgewendeten Zeit und der Bedeutung des Inhalts orientieren. Tabelle 2 zeigt eine Spezifikationstabelle, in der auf eine Differenzierung nach Unterthemen verzichtet wurde.

Tabelle 2. Beispiel einer Spezifikationstabelle

Schritt 4: Auswahl der Unterthemen, die für die Prüfung verwendet werden sollen

Die Spezifikationstabelle liefert die Grundlage für die Auswahl derjenigen Unterthemen, die in Lehrziele und anschließend in Prüfungsaufgaben transformiert werden. In Tabelle 2 sind für die Kombination „Oberthema 1 – Erinnern“ 30 % aller Prüfungsaufgaben veranschlagt. Bei einer zuvor festgelegten Gesamtanzahl von Prüfungsaufgaben lässt sich die Anzahl von Aufgaben für diese Kombination bestimmen. Wenn die Prüfung beispielsweise aus 50 Aufgaben bestehen soll, entfallen auf diese Kombination genau 15 Aufgaben. Es wäre also in diesem Fall notwendig, 15 Unterthemen aus dem Oberthema 1 auszuwählen, die „erinnert“ werden sollen. Entsprechend wird mit den anderen Kombinationen verfahren.

Um eine möglichst repräsentative Stichprobe von Prüfungsaufgaben zu generieren, bietet sich eine quotierte Zufallsauswahl an. Aus der Menge an möglichen Unterthemen je Oberthema wird eine Stichprobe mit festgelegtem Umfang zufällig gezogen. In unserem Beispiel müssten 15 Unterthemen aus der Liste möglicher Unterthemen zum Oberthema 1 zufällig gezogen werden. Die Darstellung von Themen in der Lehrzielmatrix, die Gewichtung der einzelnen Inhalte durch die Spezifikationstabelle und schließlich die zufällige Auswahl der Unterthemen sind notwendig, um die Repräsentativität der Prüfungsinhalte in Bezug zur Lehrveranstaltung und damit die Inhaltsvalidität der Prüfung sicherzustellen.

Schritt 5: Spezifizierung der Lehrziele

Eine Lehrzielmatrix enthält noch keine wirklichen Lehrziele, sondern nur unterschiedliche Inhalte. Um die Inhalte in Lehrziele zu überführen, sollte zunächst eine Beschreibung des Zielverhaltens erfolgen. Das Zielverhalten erlaubt festzustellen, ob Lernen in der gewünschten Weise stattgefunden hat. Zielverhalten kann durch sog. Operatoren beschrieben werden. Dazu gehören beispielsweise die Verben „wiedererkennen“, „zusammenfassen“, „vergleichen“ oder „kritisieren“.

Im nächsten Schritt können Bedingungen angegeben werden, unter denen das Zielverhalten erwartet wird. Die Bedingungen spezifizieren dabei häufig die zukünftige Prüfungssituation. Diese ist üblicherweise gekennzeichnet durch ein Zeitlimit, einen bestimmten Prüfungsort und Materialen, die für die Prüfung zugelassen sind. In schriftlichen Prüfungen beinhalten die Bedingungen die Darbietung von Texten (Aufgaben), mit deren Hilfe die Prüflinge Antworten generieren sollen. In schriftlichen Prüfungen im Mehrfachwahl-Format bestehen die Bedingungen üblicherweise darin, dass mehrere Antwortoptionen präsentiert werden, aus denen die Prüflinge eine oder mehrere korrekte Antworten auswählen sollen. In anderen Aufgabenformaten (offene Fragen, Zuordnungsaufgaben, etc.) gehört zur Bedingung, dass Studierende unter Vorlage eines Aufgabentextes oder unter Vorlage von Listen von Wörtern die korrekte Antwort schreiben bzw. die korrekte Zuordnung vornehmen sollen.

Schließlich sollte ein Lehrziel auch Kriterien beinhalten, welche festlegen, ob und inwieweit das Ziel erreicht wurde. Kriterien können quantitativ oder qualitativ sein. Beispiele sind Angaben von Häufigkeiten korrekter Lösungen oder zeitliche Beschränkungen.

 

Schritt 6: Erstellung der Prüfungsaufgaben

Nachdem die Lehrziele spezifiziert worden sind, folgt schließlich ihre Umwandlung in Prüfungsaufgaben. Dazu werden zunächst in Anlehnung an die in der Lehrzielmatrix beschriebenen kognitiven Prozesse die Aufgabenformate festgelegt. Aufgabenformate können grob eingeteilt werden in Aufgaben mit langer Antwort und Aufgaben mit kurzer Antwort. Aufgaben mit kurzer Antwort können wiederum unterteilt werden in Aufgaben mit offenem oder geschlossenem Antwortformat. Zu den Aufgaben mit geschlossenem Antwortformat zählen Wahr-Falsch-Aufgaben, Zuordnungsaufgaben und Mehrfachwahlaufgaben (Multiple Choice). In Anlehnung an die Lehrzieltaxonomie von Bloom et al. und Anderson et al. können die kognitiven Prozesse Erinnern, Verstehen, Anwenden, Analysieren, Evaluieren und Kreieren unterschieden werden. Nicht jedes Antwortformat erlaubt die Erfassung dieser Prozesse. Insbesondere bei Aufgaben mit geschlossenem Antwortformat sind die Möglichkeiten der Erfassung höherer kognitiver Prozesse begrenzt. Außerdem unterscheiden sich die Aufgabenformate im zeitlichen und materiellen Aufwand, der für die Aufgabenkonstruktion und -auswertung betrieben werden muss.

 

Literatur

Anderson, L.W. (Ed.), Krathwohl, D.R. (Ed.), Airasian, P.W., Cruikshank, K.A., Mayer, R.E., Pintrich, P.R., Raths, J., & Wittrock, M.C. (2001). A taxonomy for learning, teaching, and assessing: A revision of Bloom's Taxonomy of Educational Objectives (complete edition). New York: Longman.

Bloom, B. S., Engelhart, M. D., Furst, E. J., Hill, W. H. & Krathwohl, D. R. (1956). Taxonomy of educational objectives. The classification of educational goals. Handbook 1. Cognitive domain. London: Longmans.

Gage, N. L. & Berliner, D. C. (1996). Pädagogische Psychologie (5. Aufl.). Weinheim: PVU.

Lindner, M. A., Mayntz, S. M. & Schult, J. (2018). Studentische Bewertungen und Präferenz von Hochschulprüfungen mit Aufgaben im offenen und geschlossenen Antwortformat. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 32, 239-248.

Shrock, S. & Coscarelli, W. (2007). Criterion-referenced test development (3rd edition). San Francisco: John Wiley.

Prof. Dr. Florian Klapproth

Prof. Dr. Florian Klapproth, geb. 1971. 1993–1999 Studium der Psychologie in Göttingen. 1999-2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Universität Hildesheim. 2003 Promotion. 2003-2009 Hochschulassistent am Institut für Psychologie und Arbeitswissenschaft der Technischen Universität Berlin. 2010 Habilitation. 2009-2014 Leiter eines Forschungsprojekts an der Faculté des Lettres, des Sciences Humaines, des Arts et des Sciences de l’Éducation der Universität Luxemburg. 2014-2015 Vertretungsprofessor für Pädagogische Psychologie am Institut für Psychologie der PH Ludwigsburg. 2015 Vertretungsprofessor für Pädagogische Psychologie am Institut für Psychologie der Universität Marburg. Seit 2015 Professor für Pädagogische Psychologie an der Fakultät Naturwissenschaften der Medical School Berlin. Arbeitsschwerpunkt: Diagnostische Urteilsbildung, Bildungsaspirationen, Psychologie der Zeit.

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