Wie lässt sich das Selbstwertgefühl dauerhaft stärken und welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es für Essstörungen?
Das Wichtigste ist in meinen Augen, mithilfe einer Therapie einen anderen Blick auf sich, das eigene Leben und die sozialen Beziehungen zu entwickeln; Glaubenssätze und Handlungsmuster zu erkennen, die oft unhinterfragt von Generation zu Generation weitergegeben werden. Das geht mit einem Perspektivenwechsel einher- auf der Bühne das eigene Leben von außen zu betrachten. Plötzlich erkennt man vielleicht, dass vieles anders ist, als man immer gedacht hat.
Es geht darum, die eigenen Gefühle wahrzunehmen, ernst zu nehmen, nicht zu werten. Das ist typisch bei Essstörungen: dieses Vergleichen und Werten. Die Betroffenen kommen in der Regel in die Therapie mit der Auffassung: Ich bin selbst schuld, ich müsste nur … Wenn sie mit der Zeit Verständnis für sich selbst entwickeln, weil sie merken, dass die Essstörung nicht aus dem Nichts gekommen ist und sie nicht schuld daran sind, dann führt das auch zu mehr Selbstliebe und einem besseren Selbstwertgefühl. Dann fangen sie an, für sich einzustehen, sich anderen zuzumuten und neue soziale Erfahrungen zu machen. Sie erleben, dass sie in ihrem Leben etwas bewirken können. Die Essstörung in kleinen Schritten und mit viel Geduld zu überwinden, kann den Selbstwert der Betroffenen nachhaltig stärken.
Was die Behandlung betrifft, möchte ich gerne meinen Ansatz schildern. Da Essstörungen auch eine Sucht sind, braucht es meines Erachtens erstens die Arbeit am konkreten Essverhalten, wie ich es im Buch beschreibe. Es geht auch darum, die Suchtstimmen im Kopf als Suchtstimmen zu identifizieren, davon innerlich Abstand zu nehmen, sich abzulenken und vor allem diesen zwanghaften Gedanken rund ums Essen und Gewicht nicht mehr zu glauben Dies ist eine sehr kräfteraubende Arbeit!
Dann geht es zweitens darum, im Gespräch herauszufinden, was sich hinter der Essstörung an Schwierigkeiten, ungelösten Konflikten und Ängsten verbirgt. Es folgt der vorhin erwähnte Perspektivenwechsel, der oft zu mehr Verständnis für sich selbst und die Essstörung führt, zu mehr Akzeptanz und Selbstliebe. Dann wird es zunehmend möglich, zu eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu stehen, sich ernst zu nehmen.
Drittens geht es darum, sich wirklich zu fragen – und das geschieht tatsächlich oft zum ersten Mal – : Welche Bedürfnisse, Vorstellungen, Wünsche habe ich eigentlich unabhängig von den Erwartungen anderer? Ich ermutige die Betroffenen, Detektiv oder Detektivin zu sein, Neugier auf sich selbst zu entwickeln: Wer bin ich ohne die Essstörung?
Entscheidend ist – und das hilft meiner Erfahrung nach wirklich am meisten – dass die Betroffenen ernst genommen werden, ihnen auf Augenhöhe begegnet wird und dass sie sich verstanden fühlen.