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Achtsamkeit in der Psychotherapie

Achtsamkeitsübungen werden seit Längerem gerne in der Psychotherapie eingesetzt. In den letzten Jahren gab es einen richtigen „Achtsamkeits-Boom“. Aber was muss man als Therapeut*in dabei beachten, und wann machen Achtsamkeitsübungen Sinn?

Was ist Achtsamkeit oder „Mindfulness“ eigentlich? Achtsamkeit bedeutet, den Augenblick bewusst wahrzunehmen und mit der Aufmerksamkeit immer wieder zum gegenwärtigen Moment – ins Hier-und-Jetzt – zurückzukehren. Alle Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle werden dabei ohne Bewertung oder Urteil wahrgenommen.

Das klingt erst einmal gar nicht so schwer, aber wenn wir ganz ehrlich sind: Wie oft nehmen wir den Augenblick tatsächlich wahr? Wie oft sind wir ganz im Hier-und-Jetzt? Einen großen Teil unserer Zeit verbringen wir mit Gedanken an die Zukunft, die Vergangenheit oder mit Tagträumen. Was wir tun, erledigen wir oft nur halbbewusst, sozusagen auf „Autopilot“.

Wer schon einmal versucht hat, eine Achtsamkeitsübung durchzuführen, hat sicher gemerkt, wie schnell man wieder abschweift. Auch die Gedanken, Gefühle und Empfindungen vorurteilslos und wertfrei anzunehmen, stellt für viele eine Herausforderung dar.

Im Grunde sind alle diese Mechanismen auch durchaus hilfreich, um unsere Zeit effektiv zu nutzen. Aber gerade, wenn wir viel Stress haben, zu grüblerischen Gedankenketten neigen oder uns häufig Sorgen machen, kann Achtsamkeit dabei helfen, zur Ruhe zu kommen und wieder mehr positive Gefühle und Gedanken zu erleben. Auf diese Weise kann Achtsamkeit auch Patient*innen helfen, die unter großem Stress, Depressionen oder Ängsten leiden.

Achtsamkeitsübungen für die Therapie

Eine gute und beliebte Einstiegsübung ist das achtsame Atmen oder die Atemmeditation. Dabei geht es darum, die Wahrnehmung vollständig auf die Atmung auszurichten, ohne diese zu beeinflussen. Wenn Gedanken oder andere Ablenkungen auftauchen, werden diese ebenfalls wahrgenommen, aber nicht weiter verfolgt. Die Aufmerksamkeit wird immer wieder zurück auf den Atem gelenkt.

Weitere Übungen sind z.B. die Gehmeditation, der Body-Scan oder die Rosinen-Übung. Bei der Rosinen-Übung wird eine Rosine sehr langsam und achtsam gegessen. Die Rosine wird dazu so betrachtet, als sei sie etwas vollkommen Neuartiges. Ihre Oberfläche wird zunächst mit den Lippen erspürt, sie wird eine Weile im Mund ertastet, bevor sie zerkaut und geschluckt wird.

Achtsamkeit im Alltag

Die Rosinen-Übung zeigt sehr schön, dass Achtsamkeit kein Konzept ist, dass sich nur auf eine Mediationsübung bezieht, die in einem begrenzten Zeitraum durchgeführt wird. Achtsamkeit lässt sich sehr gut auf den Alltag übertragen, sodass auch Tätigkeiten wie Duschen, Kochen, Essen, Warten an der Bushaltestelle oder sogar Abwaschen und Bügeln Gelegenheit bieten, die achtsame Wahrnehmung weiter zu trainieren.

Und noch einen weiteren Vorteil hat Achtsamkeit im Alltag: Wir machen die Zeit des Wartens oder Abwaschens wieder zu „unserer Zeit“. Jeder Moment bietet so die Gelegenheit, mit uns selbst und dem Leben in Kontakt zu treten.

Achtsamkeit kann unabhängig von der Religion oder Weltanschauung erlernt werden

Das Prinzip der „Achtsamkeit“ geht ursprünglich auf östliche Mediationslehren zurück und spielt im Buddhismus eine zentrale Rolle. Achtsamkeit ist jedoch nicht an ein religiöses oder kulturelles Konzept gebunden und kann als menschliche Fähigkeit von jedem geübt und praktiziert werden. Beim Einsatz von Achtsamkeitsübungen in der Therapie ist es daher wichtig, Patient*innen keine Weltanschauung aufzudrängen. Achtsamkeit kann vollkommen unabhängig von der Religion erlernt werden.

Die ersten achtsamkeitsbasierten Therapieansätze: MBSR und MBCT

Gegen Ende der 70er Jahre entdeckte Jon Kabat-Zinn das Potenzial der Achtsamkeitsmeditation für die Therapie. Er entwickelte in den USA den ersten achtsamkeitsbasierten Ansatz zur Stressbewältigung, die Mindfulness-based Stress Reduction (MBSR). Für die MBSR zeigen sich störungsunabhängig positive Veränderungen für die Teilnehmenden.

Ende der 90er Jahre entwickelten dann Mark Williams, John Teasdale und Zindal Segal einen achtsamkeitsbasierten Therapieansatz zur Rückfallprophylaxe bei Depressionen, die Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT). Die Autoren ergänzten hierfür das MBSR-Programm um kognitiv-verhaltenstherapeutische Elemente. In Studien zeigte sich, dass MBCT für die Rückfallprophylaxe bei depressiven Patient*innen mindestens genauso wirksam ist wie eine medikamentöse Erhaltungstherapie.

Achtsamkeit als Therapieelement

Ein wichtiger Bestandteil der Dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) nach Linehan zur Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist das „Skills Training“. Hierbei werden den Patient*innen auch verschiedene Achtsamkeitsübungen vermittelt.

Ein weiterer Ansatz, bei dem Achtsamkeitsübungen eine große Rolle spielen, ist die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT). Bei vielen Störungen versuchen die Betroffenen, ein Gefühl oder einen Gedanken zu vermeiden, was aber gerade zur Aufrechterhaltung des Problems führen kann. Bei ACT wird die Akzeptanz gegenüber den Gefühlen und Gedanken mit Hilfe von Achtsamkeitsübungen gefördert. Darin liegt ein entscheidender Unterschied zwischen der klassischen kognitiven Therapie und Achtsamkeit.

Achtsamkeit und KVT

Statt wie in der klassischen kognitiven Therapie dysfunktionale Gedanken zu verändern oder Grübeln zu „stoppen“, lernen die Betroffenen in Achtsamkeitsübungen, die Gedanken bewusst wahrzunehmen, ohne sich dabei in sie „hineinzusteigern“, sie weiter zu verfolgen oder sie zu bewerten.

Auf diese Weise kann die Fähigkeit trainiert werden, ungünstige Gedanken möglichst frühzeitig zu bemerken, sie loszulassen und wieder zum Augenblick (z.B. zur Atmung) zurückzukehren. Es wird nicht mehr erfolglos versucht, die unangenehmen Gedanken zu „bekämpfen“ oder zu kontrollieren, sondern diese werden mitfühlend und ohne Bewertung akzeptiert.

Bei welchen Problemen kann Achtsamkeit helfen?

Die meisten Wirksamkeitsnachweise für achtsamkeitsbasierte Verfahren liegen für MBCT zur Rückfallprophylaxe bei Depressionen vor. MBCT kann aber auch bei akuten Depressionen helfen.

Es zeigt sich immer wieder, dass sich Achtsamkeit diagnoseübergreifend positiv auf verschiedene Problembereiche auswirkt. Zu diesen Problembereichen gehören Grübeln bzw. Rumination, wie sie auch bei Depressionen oder starkem Stress vorkommen, sowie Sorgen und Ängste.

Es ist daher zu vermuten, dass Achtsamkeitsübungen bei weitaus mehr Störungen positive Veränderungen bewirken können, als bisher untersucht wurde.

Wann sollte man auf achtsamkeitsbasierte Methoden verzichten?

Achtsamkeitsübungen sind kein Allheilmittel und man sollte sie nicht unkritisch für alle Patient*innen einsetzen, sondern die wissenschaftliche Grundlage dafür im Blick behalten. Bei Suizidalität reichen achtsamkeitsbasierte Gruppenverfahren wie MBCT nicht zur Behandlung aus. Bei starken Beeinträchtigungen der Konzentration, z.B. bei Depressionen, überfordern sie die Patient*innen auch. Es muss daher im Einzelfall abgewogen werden, ob und wie viele Übungen den Betroffenen guttun.

Ebenfalls Vorsicht geboten ist bei psychotischen Symptomen. Zwar gibt es erste Untersuchungen mit positiven Ergebnissen, die Übungen müssen aber angepasst und von sehr erfahrenen Therapeut*innen angewandt werden.

Therapeut*innen sollten eigene Erfahrungen sammeln

Einzelne Achtsamkeitsübungen wie das achtsame Atmen werden gerne und oft in der Therapie eingesetzt, das therapeutische Potenzial achtsamkeitsbasierter Verfahren wird auf diese Weise aber nicht ausgeschöpft.

Wer als Therapeut*in Achtsamkeitsübungen durchführen möchte, sollte auf jeden Fall selbst vorher Erfahrungen mit dem Konzept sammeln, praktische Übungen durchführen und Achtsamkeit in den Alltag integrieren. Dies erhöht nicht nur die Glaubwürdigkeit, sondern ist auch notwendig, um die Prinzipien gut vermitteln zu können. Achtsamkeit ist mehr als eine „Entspannungsübung“. Sie ist eine Grundhaltung – auch gegenüber Patient*innen.

Links

Ausbildungen in MBCT oder MBSR bietet der MBSR-MBCT-Verband an.

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