DeutschPflege und Health professionals

Berufsstolz in der Pflege

In der Pandemie sind die Pflegenden zwar in den Fokus der Medien gerückt, es wurde applaudiert und gedankt, aber passiert ist letztlich wenig Positives. Es gab eine große Abwanderungswelle aus dem Beruf. Überlastung, Unterbezahlung und Unzufriedenheit sind in den Vordergrund der Aufmerksamkeit gerückt, natürlich auch die konkrete Gefährdung der Pflegekräfte durch Covid-19. Was fehlt, ist Mut! Mut sich zu zeigen, Mut, Forderungen zu stellen und Interessen durchzusetzen. German Quernheim und Angelika Zegelin zeigen in ihrem Buch ganz konkret, wie das gehen kann, wie man Berufsstolz entwickelt und Freude zurückgewinnt. Im Gespräch machen die beiden deutlich, wie wichtig berufliche Organisation ist und wie sehr es sich trotz allem lohnt, in diesem Beruf zu arbeiten.   

Ihr Buch hat den Untertitel „Das Mutmachbuch“ – wie kommt es, dass dieser so wichtige Berufsstand diese Unterstützung benötigt?

German Quernheim:
Es herrscht ein falsches Bild unseres Berufs in der Gesellschaft. Pflegende benötigen Mut um absichtsvoll zu handeln auch mit dem Risiko unbequem zu sein. Wir fordern unsere Berufsgruppe in unserem Arbeitsbuch auf aktiv zu werden, also Storytelling anzugehen, Aufklärung über die Schutzfunktionen die Pflegende für die Bevölkerung wahrnehmen, Leserbriefe schreiben, Engagement in Organisationen zeigen mit dem Ziel, die realistische Darstellung der Auswirkungen guter Pflege für den Einzelnen und die Gesellschaft. Wir sorgen für Sicherheit und das Überleben im Klinik- oder Heimalltag.
Es braucht Mut Stellung zu beziehen und Zivilcourage zu zeigen.  Mut liegt zwischen den Polen Feigheit und Rücksichtslosigkeit. Feigheit nichts zu tun und zugleich als Pflegende zu sagen, „Ich verzichte auf eine Mitgliedschaft in Berufsverband, Gewerkschaft oder Kammer und bin zu geizig mit einem finanziellen Beitrag meinen Berufsstand in der Öffentlichkeit wahrhaftig dazustellen und für unsere Interessen einzustehen“. Am anderen Ende der Ausprägung die Rücksichtslosigkeit. Zum Beispiel durch Massenstreiks der Pflegenden in Klinken und Heimen mit tausenden Toten. Also mit gravierenden Auswirkungen wie bei #pflegteuchdochallein 

Welche Aspekte gehören überhaupt zum Berufsstolz?

German Quernheim:
Berufsstolz besteht aus den Komponenten einer kognitiven Überzeugung des eigenen Tuns, den angenehmen Gefühlen der Selbstwirksamkeit und der sichtbaren Haltung „Ich verstecke mich nicht“. Dieses bedingt eine authentische Einstellung/Position. Solchen Pflegenden sieht man makroskopisch an, dass sie stolz und zufrieden sind.
Berufsstolz wirkt auf Selbstwirksamkeit und Gesundheit der Mitarbeitenden. Immer dann, wenn Pflegende „State of the Art“ d.h. nach verbindlichen Regeln arbeiten und sie sich in der Priorisierung ihrer Arbeit daran orientieren. Pflegefachpersonen, die ihre Arbeit kompetent selbst gestalten, weg vom Standard, hin zum Eingehen auf individuelle Bedürfnisse, benötigen Wissen und Bildung. Sie sollten sich im Gesundheitswesen auskennen und mitreden.

„Berufsstolz in der Pflege“ enthält zahlreiche Aufgaben, ich kann und muss als Pflegeperson also selbst an mir arbeiten. Provokant gesagt: Lohnt der Aufwand?

Angelika Zegelin:
Der Aufwand lohnt sich, wir sprechen noch heute von Florence Nightingale – das ist schon lange her! Die Pflegeberufe werden inzwischen als unterprivilegierte und jammernde Berufsgruppe wahrgenommen – der Nachwuchs bleibt aus. Ein wichtiger Schritt wäre, dass die Pflegenden sich selbst als wichtig (und stolz) wahrnehmen und auch einsehen, dass Fortschritt von ihrem eigenen Verhalten abhängt. Also: sich bilden und organisieren, um an politischen Entscheidungen teilzunehmen – sich verweigern, wenn Menschen nicht zufriedenstellend versorgt werden können – die Stimme erheben, um darzustellen, wie komplex die Pflegearbeit ist.

Pflegefachkräfte werden überall gesucht, der Beruf bietet hohe Zukunftssicherheit – was schreckt junge Menschen davon ab, in diese Branche einzusteigen?

Angelika Zegelin:
Alle wissen, dass die berufliche Pflege unterbezahlt ist. Die Bürger verstehen allerdings nicht die Unterschiede zwischen Krankenhaus und Langzeitpflege, zwischen anspruchsvoller Pflegearbeit und osteuropäischen Hilfen ohne Kenntnisse. Wenn dort über Mindestlohn von 12 Euro diskutiert wird, ähnlich wie bei Waldarbeitern oder Gebäudereinigern, schreckt das viele Interessierte ab. Das Pflegefeld ist riesig, mit zig Stufen – auch die Arbeits- und Aufstiegsmöglichkeiten sind grandios. Das ist nicht bekannt. Pflege wird oft reduziert auf ekelige oder einfache Tätigkeiten und Zuarbeit für den Arzt. Man kann sich nicht vorstellen, was alles dazugehört. Die guten Seiten kennt niemand, sie sind bedroht durch den seit 20 Jahren dauernden Pflegenotstand. Der Applaus ist verhallt, Pflege wird eingeordnet zwischen Müllfahrern und Kassiererinnen. Es liegt an uns selbst, den dauerhaften Wert der Pflegeberufe zu verdeutlichen.

Welche Rolle spielt die Ausbildung für die Entwicklung von Berufsstolz, etwa die Akademisierung?

German Quernheim:
Menschen lernen am Vorbild. Orientieren wir uns nun an der akademischen Ausbildung im Ausland, deren Absolventen ein viel prestigeträchtigeres Image erarbeitet haben als die Pflegenden hierzulande, kann es gelingen. Die Schlüsselpositionen haben somit Teamleitungen und Praxisanleitende. Sie leben einen gesunden Berufsstolz, d.h. keinen überheblichen vor. Sie sorgen dafür, dass immer wieder über Pflege, ihre Auswirkungen und Möglichkeiten gesprochen wird. Durch die Akademisierung können nun weitere berufsrelevante Themen der Pflegewissenschaft vertieft und für die Praxis nutzbar gemacht werden.

In anderen Ländern, z.B. Norwegen, sind viel mehr Pflegende beruflich organisiert. Hat dies Auswirkungen auf die Pflegesituation im Land, z.B. den Personalschlüssel?

Angelika Zegelin:
Absolut, Deutschland stellt das Schlusslicht an Organisation der Pflege dar. In vielen Ländern sind Berufspflegende Mitglied in mehreren Verbünden: Berufsverband, Kammer, Gewerkschaft, Fachgesellschaft u.a. Nur durch organisierte Interessen kann politischer Einfluss gewonnen werden, Gehälter, Mitsprache, Entwicklungsmöglichkeiten – auf allen Ebenen wie Stadt, Land, Bund. Vielen Pflegenden im deutschsprachigen Raum sind die Zusammenhänge von Macht und Lobbyismus nicht bekannt. Die vielen kleinen Aktionen und örtlichen Bündnisse werden keine Veränderung bringen.    

Der Applaus vom Balkon ist längst verhallt. Wird Corona Ihrer Einschätzung nach einen positiven Einfluss auf die Situation in der Pflege haben oder eher gerade nicht?

German Quernheim:
Nein – die nun schon über ein Jahr anhaltende Pandemie wird den „Pflexit“ weiter beschleunigen. Das Thema Pflege war zwar präsent in den Medien wie lange nicht, aber es wurden in den Medien vielfach andere Berufsgruppen dazu befragt oder sogenannte Pflegeexperten, die noch selbst noch nicht einmal das Examen vorweisen können. Das was wir im Buch als hypothetische Aufgabe formulierten: „Stellen Sie sich vor, morgens bei Dienstantritt kommenden Pflegende nicht zu ihrer Schicht“ - wurde in Spanien und Kanada im Verlauf der Pandemie zur tödlichen Realität. Denn dann ist niemand da, der die Vitalzeichen kontrolliert und rechtzeitig eingreift; niemand, der auf die existenziellen Ängste und Krisen adäquat reagiert; niemand, der Patienten mit Trinken oder Essen versorgt. Das Nichtvorhandensein von Pflegenden kostet Leben.
Der ICN berichtet im Frühjahr 2021, über einen immensen Pflexit aus den Pflegeberufen. Die Arbeitslast steigt während der dritten Welle ins unerträgliche, aber die Ausstattung bleibt unzureichend. Allein in Deutschland kündigten im Jahr 2020 über 9000 Pflegende, d.h. sie haben ihren Beruf verlassen! Die Pandemie befeuerte die Offenlegung der Schwachstellen: Die Regierung lässt infizierte Pflegende weiterarbeiten, der Schutz der Mitarbeitenden mit Masken und Hygienematerial ist lückenhaft von den versprochenen finanziellen Boni mal ganz abgesehen. Wenn sich die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen sowie die oben genannten Ursachen nicht gravierend ändern befürchten wir eine Massenverweigerung der reflektierten Pflegenden mit einem „pandemischen Ausstieg“ aus diesem wunderschönen Beruf.

Frau Zegelin, Herr Quernheim, vielen Dank für das Gespräch!

Dr. German Quernheim

Dr. German Quernheim Krankenpfleger, Praxisanleiter, Pflegepädagoge, Pflegewissenschaftler. Nach 18 Jahren Erfahrung als Praxisanleiter, Lehrer und Schulleiter wechselte er 2008 nach Coachingausbildung in die Freiberuflichkeit. Seither arbeitet er als Dozent, Coach und Fachbuchautor in den D-A-CH-Ländern (www.German-Quernheim.de). Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Fokus der Berufe im Gesundheitswesen. Dabei geht es um die praktische Ausbildung, Kunden- und Personzentrierung, Personalentwicklung und Führungskräftetraining und -coaching. Seine Promotion zum Dr. rer. medic. schloss er 2013 an der Universität Witten/Herdecke im Themenbereich des Wartemanagement von Patienten ab. Seit 2020 bietet er unter www.Anleiten2go.de  E-Learning-Programme unterschiedlichster Themen an. Ab Sommer auch mit Angelika Zegelin zu „Berufsstolz für Praxisanleitende und Führungskräfte“.

Prof. Dr. Angelika Zegelin

Prof. Dr. Angelika Zegelin Krankenschwester, Pflegewissenschaftlerin, Magisterabschluss Erziehungswissenschaften, langjährige Tätigkeit in der Pflege- Aus- und Weiterbildung, von 1995 bis 2015 Curriculumbeauftragte im Institut für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke, Promotion zum Thema Bettlägerigwerden, Honorarprofessur der Mathias-Hochschule Rheine, Arbeitsschwerpunkte: Patienten-und Familienedukation, Mobilitätsförderung im Altenheim, Sprache und Pflege, Professionalisierung. Seit 8/2015 im Ruhestand. Zahlreiche Publikationen, vielfältige Gremienarbeit, mehrere Auszeichnungen, u.a. Bundesverdienstorden.

Kontakt

Empfehlung des Verlags

Berufsstolz in der Pflege

Das Mutmachbuch

von German Quernheim, Angelika Zegelin

 

 

 

 

Weitere Titel zum Thema

«Festgenagelt sein» Der Prozess des Bettlägerigwerdens von  Angelika Zegelin

Qualitative Studie im Stil der «Grounded Theory». «Bettlägerigkeit ist keine medizinische Zwangsläufigkeit. Sie hängt weder mit dem Alter eines Menschen zusammen noch mit der Schwere der Krankheit, an der jemand leidet. Stattdessen ist sie meist eine Verkettung unglücklicher Umstände, die man sehr häufig vermeiden könnte.» DER SPIEGEL 52/2004 «EBN-Kriterien zugrunde legend, ... kann gesagt werden, dass die Arbeit hinsichtlich ihrer Struktur und inhaltlichen Dichte, der recherchierten Literatur, der detaillierten methodischen Darstellung und der Diskussion ihrer Ergebnisse in jeder Beziehung überzeugt» Dr. phil. Elke Müller in Pflege «Die Erkenntnisse dieser Arbeit sollten zwingend in die Praxis einfließen und Bestandteil eines ganzheitlichen Pflegekonzeptes werden. ... So macht Pflegewissenschaft Sinn - und auch ein wenig Spaß». Dirk Kück in pflegedialog.de «Der Autorin gelingt mit der anregenden Präsentation ihrer Untersuchung ein kleines Kunststück. Sie bietet sowohl der Pflegewissenschaft als auch der praktischen Pflege zahlreiche Anregungen, um eigene Erfahrungen zu reflektieren und neue Sichtweisen und Möglichkeiten für die eigene Arbeit zu entwickeln. ... Dieser aufschlussreichen und praxisrelevanten Arbeit ist eine grosse Verbreitung mit nachhaltiger Wirkung zu wünschen.» Krankenpflege/Soins infirmiers «Eine lesenswerte Studie. ... Der Wert der Arbeit liegt vor allem in ihrem ausdrücklichen Bezug zu Veränderungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in der Praxis» neue caritas «Jede Leserin und jeder Leser, der es in seinem Leben mit pflegebedürftigen Menschen zu tun hat, kann die anschaulichen Ausführungen Angelika Zegelins nachvollziehen. Mit ihrer Arbeit liefert die Autorin einen wertvollen Beitrag dafür, die pflegerische Praxis weiterhin zu professionalisieren.» (socialnet)