DeutschWissen und Gesellschaft

Den Körper wahrnehmen

Von Adrian Mühlebach.

Nehmen wir unseren Körper wahr, spüren wir, was wir brauchen und was wir nicht brauchen. Wir können so gesünder und stressresistenter leben. Im realen Kontakt mit anderen Menschen sind unsere Körper die Basis der Kommunikation. Durch sie sind wir nonverbal miteinander vernetzt. Und auch zu unserer Umwelt stehen wir durch unsere Körper in vielfachen Beziehungen und Abhängigkeiten. Wir atmen Luft ein und aus, wir trinken Wasser, wir ernähren uns von Pflanzen und Tieren, wir bewegen uns auf dem Planeten Erde, erhalten Energie von der Sonne.

Körperwahrnehmung Wahrnehmung der Natur. Mit der Hand über ein Kornfeld streichen

Selbstbezug

Wir sind körperliche, emotionale und kognitive Wesen. Gestalten wir unser Leben im Bewusstsein für diese Ganzheit, wird sie für uns zum selbstverständlichen Daseinsgrund.

Wir schenken unserem Körper Aufmerksamkeit, wir achten auf unser Wohlbefinden, ein gutes Funktionieren der Organsysteme, auf unser Bedürfnis nach Bewegung und Regeneration, gesunde Ernährung, das Zusammensein und den Austausch mit anderen Menschen.

Durch unseren Körper nehmen wir unsere Gefühle wahr und durch ihn können wir denken. Der Körper bietet den im Gehirn entstandenen Emotionen eine Bühne, durch die so ausgelösten Körperreaktionen können wir fühlen; die Freude, die uns die Brust weitet, die Trauer, die in unserem Hals einengt, die Wut, die in unserem Bauch steckt, die Angst, die uns erstarren lässt.

Gedanken werden in unserem Gehirn emotional bewertet und sind deshalb ständig von Körperreaktionen begleitet. Unser Körper denkt somit immer mit, wirkt als Resonanzraum unseres Denkens. So wirkt sich beispielsweise die Vorstellung unserer Rolle im gesellschaftlichen, beruflichen und familiären Kontext auf die Haltung und die Bewegung unseres Körpers aus. Umgekehrt nimmt unser Körper, beispielsweise durch seine Form, Größe, Beweglichkeit und Kraft Einfluss auf unser Fühlen und Denken. Ein großer, kräftiger, beweglicher Körper wirkt anders darauf ein als ein kleiner, schwacher, steifer Körper.

Bewegen wir uns, machen einen Spaziergang, machen Sport oder gönnen uns eine Zeit der Entspannung, so wirkt sich dies auf unser Fühlen und Denken aus. Es verändert sich. Gute Ideen kommen uns beim Spazieren in den Sinn, Ärger baut sich beim Sporttreiben ab, unsere Sicht aufs Leben verändert sich, wenn wir uns entspannen.

Wir können unseren Körper als Ort der Selbstbestimmung begreifen. Wir können in unserem Lebensalltag innehalten und den eigenen Körper mit seinen automatisierten Reaktionen wahrnehmen. Wir können unerwünschte, automatisierte Reaktionen unseres Körpers loslassen (Anspannungen, Stressreaktionen), seine natürliche Ausdehnung im Raum zulassen und uns mit dem so neu organisierten Körper fragen: Was will ich? Was ist mir wichtig?

Bezug zu anderen Menschen

Steinzeitmenschen lebten nomadisierend in einer überschaubaren Gruppe von maximal 30-40 Individuen. Heute leben wir in einem komplexen Geflecht von Vernetzungen und Abhängigkeiten, welches sich über die ganze Erde erstreckt. Gleichzeitig hat sich unser Bezug zu den Menschen in unserer nahen Umgebung verringert. Die nahe Gruppe ist für unser Leben und Überleben nicht mehr von so großer Bedeutung. Der Austausch von Waren und Dienstleitungen wird immer anonymer, und durch die Digitalisierung hat sich dieser Trend noch einmal beschleunigt.

Gemeinsam für das Überleben, den Fortbestand der Gruppe zu sorgen, war einst das Prinzip, welches das Leben der Menschen bestimmte. Das einzelne Individuum sah sich als Teil der Gruppe. Sein Überleben hing vom Überleben seiner Gruppe ab. Da ging es um sehr konkrete, körperliche Dinge wie Nahrungsbeschaffung, Schutz vor Gefahren wie Witterung, gefährliche Tiere oder feindliche Menschengruppen, um die Fortpflanzung, den Schutz und das Aufziehen der Kinder, das Zusammenleben in der Gruppe.

Zu großen Veränderungen kam es durch die Einführung der Landwirtschaft und noch einmal verstärkt durch die Industrialisierung. Sie führte zu einer Auflösung der Gruppe, welche den Bauernhof bewirtschaftete, zu neuen Formen des Zusammenlebens, zur Familie, zur Kleinfamilie und schließlich zum Leben als einzelnes Individuum. Der einzelne Mensch sah sich nicht mehr primär als Teil seiner Gruppe. Damit veränderte sich auch sein körperliches Bezogensein auf andere Menschen.

Durch die Fortschritte der Technik ist unsere Kommunikation mit Menschen dank Mittel wie Telefon, Radio, TV, Computer und Smartphone auch nicht mehr an deren physische Präsenz gebunden.

Die digitale Technik drang in den letzten Jahrzehnten immer mehr in unser Leben ein. Was als Erleichterung des Lebens daherkam, wird jedoch zunehmend zur Bedrohung unserer Selbstbestimmung. Es besteht die Gefahr, dass unser Leben immer mehr von Algorithmen bestimmt wird und nicht mehr von unseren freien Entscheidungen. Wir nehmen die Welt durch digitale Geräte wahr. Wir schauen mehr aufs Smartphone als auf die reale Welt. Wir verlieren den Bezug zur sinnlich erlebbaren Welt, zu den real anwesenden Menschen. Die sozialen Medien vermitteln uns Scheinfreundschaften, führen aber in der realen Welt zur Vereinsamung.

Warum pflegen wir nicht wieder mehr die physisch reale Nähe zu Menschen, um Austausch zu haben, uns mitzuteilen, anderen zuhören, uns dabei eine eigene Meinung zu bilden, gemeinsam etwas zu erleben, an etwas zu arbeiten, Spaß zu haben, uns zu regenerieren?

Bezug zu unserer Umwelt

Der Planet Erde mit seiner Oberfläche und seiner umhüllenden Atmosphäre ermöglicht unser Leben. Unsere Körper sind, an erdgeschichtlichen Zeiträumen gemessen, extrem kurzlebige Wesen. Das gilt für uns Menschen als Individuen, wie auch als Gattung. Wir sind heute daran die Bedingungen, welche unsere Existenz auf diesem Planeten ermöglichen (Boden, Wasser, Luft, Klima) zu zerstören.

Die jetzige Generation erlebt Hitzesommer, Wasserknappheit, Stürme, Überschwemmungen und dadurch verstärkte Migrationsbewegungen. Doch das ist erst der Anfang. Ändern wir unser Verhalten nicht, so wird sich das Klima weiter verändern. Für unsere Kinder und deren Kinder wird sich die Situation weiter verschärfen, die Verschlechterung der Lebensbedingungen wird in einem nicht mehr umkehrbaren Prozess weitergehen.

Das Leben der Menschen in der Steinzeit und der Agrarkultur war körperlich und sehr mit der Natur verbunden. Sie waren sich der Auswirkungen von Veränderungen in der Natur auf ihr Leben bewusst. Bei uns Menschen in der digitalisierten und globalisierten Welt ist dies nicht mehr der Fall. Wir leben in der Illusion der uneingeschränkten Verfügbarkeit von natürlichen Ressourcen. Wir sind uns unserer grundlegenden Abhängigkeit von der Natur nicht mehr bewusst.

Früher hieß es, Banknoten könnt ihr nicht essen. Heute müsste es heißen Bankkarten und Smartphone-Apps könnt ihr nicht essen. Die in unserer Kultur entstandenen Systeme von Austausch von Gütern und Dienstleistungen haben uns weit weg von der Basis unserer Existenz geführt. In der Schweiz arbeiteten im Jahr 2022 gerade noch 2,3% der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Für die große Mehrheit besteht kein direkter Zusammenhang mehr zwischen der Arbeit und der Produktion von Nahrung.

Wir sehen unsere Umwelt seit dem Beginn der Industrialisierung, also seit rund zweihundert Jahren, als Feld der Ausbeutung. Wir betrachten uns nicht mehr als Teil der Natur, sondern stellen uns ihr gegenüber, beherrschen sie, betrachten sie als unser eigen.

Sollen uns nachfolgende Generationen noch auf dem Planeten Erde leben können, ist eine Rückbesinnung auf uns als körperliche Wesen in ihrer ökologischen Vernetzung von existentieller Bedeutung.

Es stellen sich also Fragen. Was brauchen wir, um ein gutes Leben führen zu können und was könnten wir auch weglassen? Wie würde unser Leben aussehen, wenn wir nur noch so viel Ressourcen verbrauchen würden, wie während unserer Lebenszeit auch wieder neu entstehen können?

Unsere Vorfahren lebten näher an diesem Gleichgewicht. Schauen wir auf das Leben der Menschen in Zeit vor der Industrialisierung zurück, so sehen wir eine Lebensweise, welche ihre Lebensgrundlagen im Vergleich zu heute kaum zerstörte. Das Leben spielte sich für die überwiegende Mehrheit der Menschen vor allem lokal in der Gruppe (Bauernhof, Dorf) ab. Bereits in die nächste Stadt kam man selten bis nie.

Doch einfach das Rad der Zeit zurückdrehen, das geht nicht, das kann für uns nicht die Lösung sein. Wir stehen an einem anderen Punkt der Geschichte. Und wir können unser heutiges Wissen und unsere Technologien nutzen, um eine neue Lebensweise zu entwickeln.

Die naheliegendste Veränderung wäre der Stopp unseres Überkonsums. Vieles von dem, was wir heute tun, hat mit der Befriedigung von vermeintlichen, also nicht echten Bedürfnissen zu tun, wir bräuchten es also gar nicht zu tun. Doch unser Wirtschaftssystem bedingt, dass dauernd neue Bedürfnisse geschaffen werden, um immer mehr Waren und Dienstleistungen verkaufen zu können. Ein zerstörerischer Mechanismus, den zu hinterfragen heute ähnlich geächtet wird, wie einst der Zweifel an der Existenz Gottes.

Was wir als Körperwesen zum Leben brauchen sind Luft, Wasser, Nahrung, Schutz vor Witterungseinflüssen und anderen Bedrohungen, ein Sozialleben, das uns körperliche Nähe, die Möglichkeit zur Fortpflanzung, Austausch, Anerkennung und Sinn bietet.

Wir entwickeln Vorstellungen unserer Welt, in welche wir unsere Bedürfnisse einordnen, ihnen Werte beimessen und mithilfe derer wir unser Verhalten steuern. Manche davon erweisen sich als nützlich, andere können uns auch schaden. Wir sind deshalb gefordert, sie immer wieder zu überprüfen und anzupassen.

Wir haben uns an die Vorstellung gewöhnt für unser Alter finanziell vorzusorgen. Warum sollten wir uns nicht auch daran gewöhnen, uns um unsere lebenssichernden natürlichen Ressourcen zu kümmern, indem wir unsere Vorstellungen von unserem Leben, von einem guten Leben so verändern, dass wir uns wieder als Teil der Natur betrachten?

 

Adrian Mühlebach

Adrian Mühlebach war schon früh vom Drang getrieben, verstehen zu wollen, wie die Dinge funktionieren. Dies führte ihn als Jugendlicher in eine Lehre als Physiklaborant, bevor er später Theologie und Philosophie studierte. Es folgte eine Theater- und Tanzausbildung und die Tätigkeit als Tanzpädagoge. Dies weckte sein Interesse den Geheimnissen der menschlichen Bewegung, worauf er sich zum Alexander-Technik Therapeuten ausbilden ließ. Seither arbeitete er in eigener Praxis, in Firmen, Schulen und Organisationen, war in der Aus- und Fortbildung von Therapeut*innen tätig, bevor er die Leitung des Ausbildungszentrums für Alexander-Technik in Zürich übernahm.