DeutschSchule und Entwicklung

Diagnostik visueller Wahrnehmungsfähigkeiten mit dem FEW-3

Der FEW-3 wird eingesetzt, um Kinder mit visuellen Wahrnehmungsproblemen oder Problemen der visuo-motorischen Integration zu identifizieren. Weitere Einsatzbereiche sind die Evaluation von Behandlungsmaßnahmen und die Forschung. Prof. Dr. Gerhard Büttner, Erstautor des FEW-3, gibt im Gespräch Auskunft über die neue Version des bewährten Tests.

Der FEW-3 dient dazu, visuelle Wahrnehmungsfähigkeiten bei Kindern differenziert zu erfassen. Warum ist es so wichtig, Probleme der visuellen Wahrnehmung bei Kindern frühzeitig zu erkennen?
Menschen nehmen im Austausch mit der sozialen und materialen Umwelt Informationen auf und verarbeiten sie in komplexer Weise. Die visuelle Wahrnehmung ist in diesen Austausch sehr stark eingebunden. Zudem gibt es ein vielfältiges Zusammenspiel zwischen visueller Wahrnehmung und Motorik. Zielgerichtete Bewegungen, Gehen, Schreiben etc. sind nur dann möglich, wenn visuelle Information und Bewegung aufeinander abgestimmt werden. Ist die visuelle Wahrnehmung gestört, besteht die Gefahr einer Beeinträchtigung der kognitiven und der motorischen Gesamtentwicklung. Dies kann zusätzlich zu sozial-emotionalen Problemen führen.

Bei welchen typischen Problemstellungen ist es ratsam, den FEW-3 einzusetzen? Wie können die Ergebnisse helfen, das untersuchte Kind zu unterstützen?
Visuelle Wahrnehmungsprobleme (z. B. beim Erkennen von Objekten, in der Figur-Grund-Wahrnehmung oder in der visuellen Raumorientierung) können im Kontext zahlreicher Störungsbilder auftreten. Bei neurologischen Erkrankungen und bei Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen ist es generell ratsam, differenzialdiagnostisch abzuklären, in welchem Ausmaß visuelle Wahrnehmungsprobleme zu dem jeweiligen Störungsbild beitragen. Bei Lernstörungen wie Dyslexie oder Dyskalkulie kann es angezeigt sein, Sehstörungen als Ursache der Schwierigkeiten beim Schriftsprach- und beim Rechenerwerb auszuschließen. Sind Wahrnehmungsschwierigkeiten identifiziert, bieten sich zur Unterstützung der betroffenen Kinder Trainingsprogramme zur Förderung der visuellen Wahrnehmung oder ergotherapeutische Maßnahmen an.

Veränderungen gegenüber der Vorgängerversion

Der FEW-3 wurde als Nachfolger des weit verbreiteten FEW-2 grundlegend überarbeitet. Was sind die wesentlichen Änderungen und welche Vorteile hat der FEW-3 gegenüber der Vorgängerversion?
Die Zielsetzung wurde im FEW-3 beibehalten: Sie besteht darin, sowohl motorik-reduzierte Wahrnehmungsleistungen als auch Fertigkeiten zu erfassen, die eine visuo-motorische Integration erfordern. Im Vergleich zu seinem Vorgänger setzt sich der FEW-3 jedoch nur noch aus fünf Subtests zusammen. Dadurch verkürzt sich die Durchführungszeit und der Test ist ökonomischer.
Der Altersbereich, in dem der FEW-3 angewandt werden kann, wurde erweitert. Das Verfahren ist jetzt vom Vorschulalter (4;0 Jahre) bis zum Ende des Grundschulalters (10;11 Jahre) einsetzbar
Die Neunormierung des FEW-3 kommt der Forderung nach, zur Qualitätssicherung psychodiagnostischer Verfahren Normwerte in regelmäßigen Abständen zu überprüfen. Die aktualisierten Normen des FEW-3 sind die Grundlage dafür, dass Entwicklungsverzögerungen in der visuellen Wahrnehmung valide identifiziert werden können.
Für den Untertest Abzeichnen wurde eine differenzierte Auswerteschablone entwickelt. Dadurch können bei jedem Item Abweichungen von der Vorlage präzise bestimmt werden und die Auswertung des FEW-3 wird erleichtert. Darüber hinaus wurde das Layout des Protokollbogens durch farbliche Gestaltung wesentlich benutzerfreundlicher gestaltet. Die Erfassung richtiger Antworten ist dadurch weniger fehleranfällig und die Durchführungsobjektivität ist erhöht.

Wie einfach ist es für Testanwender*innen, die den FEW-2 bereits verwenden, auf den FEW-3 umzusteigen? Ist eine erneute Einarbeitung notwendig?
Die Subtests, die Testitems und das grundlegende Vorgehen bei der Anwendung des FEW-3 sind Testanwender*innen, die bereits mit dem FEW-2 gearbeitet haben, weitgehend vertraut. Beim FEW-3 wurden jedoch Durchführungs- und Auswertungsrichtlinien modifiziert. Auch bei der Interpretation der Testergebnisse wurden Anpassungen vorgenommen. Darüber hinaus wurden der Protokollbogen und die Auswerteschablone modifiziert, um die Nutzungsfreundlichkeit zu erhöhen. Aufgrund der Veränderungen ist bei einem Umstieg vom FEW-2 auf den FEW-3 eine Einarbeitung in die neuen Durchführungs- und Auswertungsrichtlinien und in die veränderten Auswertungsmaterialien erforderlich.
Die Testitems der Subtests, die sowohl im FEW-2 als auch im FEW-3 enthalten sind, überlappen sich in weiten Teilen, sind aber nicht völlig deckungsgleich. Aus diesem Grund können Testmaterialien des FEW-2 nicht zur Durchführung des FEW-3 verwendet werden.
In Deutschland ist neben dem FEW-3 auch die amerikanische Originalversion Developmental Test of Visual Perception 3 (DTVP-3) erhältlich. Obwohl in den beiden Testverfahren die gleichen Subtests mit den gleichen Items verwendet werden, können Testergebnisse, die mit den beiden Verfahren gewonnen worden sind, nicht unmittelbar gleichgesetzt werden. Dies ist durch unterschiedliche Normierungsstichproben und unterschiedliche Auswertungsrichtlinien begründet.

Voraussetzungen für die Untersuchung mit dem FEW-3

Der FEW-3 ist im Altersbereich 4;0 bis 10;11 einsetzbar. Gibt es unabhängig davon Einschränkungen, wann eine Testuntersuchung mit dem FEW-3 schwierig oder sogar unmöglich ist?
Da mit dem FEW-3 visuelle und visuo-motorische Fertigkeiten erfasst werden, muss sichergestellt sein (z. B. durch Sehhilfen), dass die Sehfähigkeit des Kindes nicht eingeschränkt ist. Sollte eine Korrektur der Sehbeeinträchtigung nicht möglich sein, kann der FEW-3 nicht durchgeführt werden. Auch körperliche Beeinträchtigungen sind von Bedeutung. Liegen Schädigungen des Stütz- und Bewegungssystems vor, ist der FEW-3 nicht einsetzbar, da mehrere Subtests visuo-motorische Fertigkeiten erfordern.

Hat die Sprachfähigkeit des untersuchten Kindes einen Einfluss auf das Testergebnis? Können Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache mit dem FEW-3 untersucht werden? Können Kinder mit Sprachentwicklungsverzögerungen oder -defiziten mit dem FEW-3 untersucht werden?
Der FEW-3 ist ein nichtsprachliches Verfahren und die Antworten erfordern keine sprachlichen Äußerungen. Voraussetzung zur Durchführung des Tests ist jedoch ein adäquates Instruktionsverständnis. Kompetenzen der Sprachrezeption sind beim FEW-3 für valide Testergebnisse bedeutsamer als Kompetenzen der Sprachproduktion. Ist ein adäquates Instruktionsverständnis wegen sprachlicher oder intellektueller Einschränkungen nicht gegeben, kann der Test nicht durchgeführt werden.

Fragen aus der Praxis

Häufig fragen uns Testanwender*innen in Bezug auf verschiedene Verfahren, ob eine Testwiederholung möglich ist. Wie ist dies beim FEW-3?
Der FEW-3 ist ein Entwicklungstest, der zur Überprüfung von Entwicklungsveränderungen wiederholt eingesetzt werden kann. Die Entwicklungsgeschwindigkeit der Wahrnehmung lässt nachweisbare Veränderungen nur über einen Zeitraum von mehreren Monaten erwarten. Zeitliche Abstände von mehreren Monaten zwischen Testwiederholungen mit dem FEW-3 sind auch deshalb empfehlenswert, weil sie die Wahrscheinlichkeit verringern, dass Übungs- und Erinnerungseffekte die Testleistungen beeinflussen.

Dürfen Bezugspersonen (z.B. ein Elternteil) anwesend sein, wenn ein Kind mit dem FEW-3 untersucht wird?
Die Testdurchführung sollte für alle Kinder unter standardisierten Bedingungen in gleicher Weise durch fachlich kompetente Personen stattfinden. Bezugspersonen sollten bei der Testdurchführung nicht dabei sein. Die Anwesenheit einer Bezugsperson kann die Testergebnisse verfälschend beeinflussen, z. B. weil das Kind bei schwierigen Testitems durch Blickkontakt mit der Bezugsperson um Hilfe nachsucht und dadurch abgelenkt ist oder weil im noch gravierenderen Fall die Bezugsperson sich veranlasst sieht, Hilfestellung zu leisten.

Ein Verfahren mit langer Tradition

Der FEW-3 steht in der Tradition des ursprünglich in den 1960er-Jahren entwickelten Developmental Test of Visual Perception (DTVP). Dieser wurde von der 1985 verstorbenen Marianne Frostig und Kollegen entwickelt. Wenn Sie Marianne Frostig heute treffen könnten, was würden Sie ihr sagen oder sie fragen wollen?
Marianne Frostig hat in ihrer pädagogisch-psychologischen Tätigkeit diagnostische, pädagogische und therapeutische Aspekte verknüpft. Ihr Augenmerk lag von Anfang an auf den besonderen Problemen von Kindern mit Lernschwierigkeiten. Mit ihrem ganzheitlichen Ansatz hat sie die Bedeutung der visuellen Wahrnehmung für die Entstehung von Lernschwierigkeiten betont. Interessant wäre aus heutiger Sicht, welchen Stellenwert sie den bereichsspezifischen Prozessen bei Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwierigkeiten beimessen würde.

Gibt es etwas, was Sie künftigen Testanwender*innen des FEW-3 gerne mit auf den Weg geben würden?
Der FEW-3 ist ein hilfreiches Verfahren, um die visuellen Wahrnehmungsfähigkeiten eines Kindes zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erfassen. Aus den Testergebnissen können störungsrelevante Diagnosen abgeleitet und Entscheidungen über Fördermaßnahmen gefällt werden. Damit eine Störungsdiagnose differenzialdiagnostisch valide ist, sollten Testergebnisse des FEW-3 grundsätzlich in einen Gesamtkontext eingebettet sein, in den Informationen aus anderen Quellen (z. B. Anamnese, andere quantitative und qualitative Testverfahren) einbezogen werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Gerhard Büttner

Prof. Dr. Gerhard Büttner, geb. 1954. Studium der Psychologie und der Erziehungswissenschaften an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU). Ab 1986 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie der JMU. 1991 Promotion, 1998 Habilitation (jeweils an der JMU). Seit 2003 Professor für Pädagogische Psychologie an der der Goethe-Universität Frankfurt und Leiter der Abteilung Entwicklung und Förderung. Seit 2011 wissenschaftlicher Leiter der Beratungsstelle MAINKIND der Goethe-Universität Frankfurt und ab 2017 universitärer Leiter des Kompetenzzentrums Schulpsychologie Hessen. Arbeitsschwerpunkte: Lernstörungen, Arbeitsgedächtnis bei Kindern und Jugendlichen, Lehr-Lernforschung.

Empfehlungen des Verlags

Seminarempfehlungen

Fortbildungen zum FEW-3

Lernen Sie die neue Version des Frostigs Entwicklungstests zur visuellen Wahrnehmung kennen.

Nächste Termine
  • 17. Oct 2024 , Online
  • terminungebunden
Details anzeigen

Das sagt der Dorsch zu:

visuelle Wahrnehmung [engl. visual perception; videre sehen], [WA], ist die Aufnahme und Ermittlung von Umweltinformationen mithilfe der Augen. Physikalischer Reiz ist dabei das in das Auge eintretende sichtbare Licht, aus dem der dioptrische Apparat (Hornhaut, Linse, Glaskörper) ein retinales Bild erzeugt. Die sensorische Transduktion in den Rezeptorzellen der Retina (Netzhaut; Fotorezeptoren) überführt den Reiz in ein neuronales Erregungsmuster, wobei bei Tageslicht die drei Zapfentypen (mit Absorptionsmaxima im kurz-, mittel-, bzw. langwelligen Bereich; Farbmechanismen) aktiv sind (fotopisches Sehen), ...