Normwerte in der Medizin beruhen noch immer meist auf dem männlichen Geschlecht, erst in den letzten Jahren ist der Fokus auf geschlechtersensible Medizin gerückt. Die Kluft zwischen den Geschlechtern im Gesundheitswesen, die „Gender-Health-Gap“, kann problematische Folgen auf die gesundheitliche Versorgung haben. Wir haben mit Kardiologin Prof. Dr. Corinna Brunckhorst gesprochen, die sich unter anderem mit dem Einfluss des Geschlechts auf Herzrhythmusstörungen beschäftigt.
Der Aspekt der gendergerechten Versorgung spielt zumindest in der Ausbildung offenbar keine große Rolle – wie sieht es in der Praxis aus?
Der Aspekt der genderspezifischen Diagnose und Therapie ist bis heute auch in der Praxis nicht ausreichend etabliert. Unser Wissen beruht auf klinischen Studien, die mehrheitlich Männer eingeschlossen haben und immer noch einschließen. Insofern basieren unsere Erkenntnisse und die davon abgeleiteten Normwerte auf dem männlichen Geschlecht. Weibliche Aspekte werden oft als Normvariante oder als „atypisch“ beschrieben, weil die männliche Norm nicht erfüllt ist. Um diesen geschlechtsspezifischen Unterschieden besser gerecht zu werden und sie zunächst einmal zu verstehen, wäre ein verpflichtendes Fach mit Gendermedizin ausgesprochen zeitgerecht und sehr zu begrüßen.
In der letzten Zeit berichten immer mehr Medien über die Rolle des Geschlechts in Medizin und Versorgung, ist das Thema tatsächlich erst seit kurzem in den Fokus gekommen oder täuscht dieser Eindruck?
Es ist tatsächlich so, dass genderspezifische Aspekte erst seit einigen Jahren in der Politik, Wirtschaft, der Gesellschaft insgesamt und letztlich auch in der Medizin Einzug gehalten haben, wobei die Thematik insbesondere in den vergangenen 4- 5 Jahren zunehmend in den Fokus gerückt ist. Heute ist dieses Thema in aller Munde und dafür wird es höchste Zeit.
Sie sind Kardiologin, beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit Herzrhythmusstörungen – schlagen Frauenherzen anders?
Frauenherzen schlagen anders als was? Ihre Frage impliziert einen Vergleich mit einem Goldstandard, der sich nicht an Frauen orientiert, womit wir wieder beim Thema wären. Frauen repräsentieren 50% der Gesellschaft, weshalb Normwerte für beide Geschlechter benötigt werden. Ich würde die Frage „politisch korrekt“ eher so formulieren: Gibt es geschlechterspezifische Unterschiede beim Herzrhythmus? – und ja, das trifft zu. Frauenherzen schlagen z.B. durchschnittlich schneller als Männerherzen. Interessanterweise haben Frauen trotzdem die höhere Lebenserwartung, damit stellen sie eine Ausnahme im gesamten Bereich der Säugetiere dar, denn normalerweise haben Lebewesen mit einem langsamen Herzschlag die höhere Lebenserwartung (z.B. Wale können 220 Jahre alt werden). Weiterhin unterscheiden sich Leitungsgeschwindigkeiten und Erholungszeiten des elektrischen Systems im Herzmuskel sowie das Aktionspotential selbst zwischen den Geschlechtern. Damit aber noch nicht genug: das elektrische System ändert sich sowohl mit dem Menstruationszyklus als auch dem Lebenszyklus einer Frau.
Sowohl Herzinfarkt als auch das sog. Broken-Heart-Syndrom betreffen vor allem Frauen jenseits der Menopause, welche Rolle spielen Hormone bei der Entstehung?
Hormone spielen eine große Rolle wiederum bei beiden Geschlechtern: Testosteron kann manche Herzerkrankungen begünstigen, wie z.B. die eigentlich autosomal dominant vererbte Arrhythmogene Kardiomyopathie. Östrogene wirken in der Regel protektiv vor Herzerkrankungen, insbesondere bei der koronaren Herzerkrankung, dem Takotsubo Syndrom oder dem Vorhofflimmern. Wenn nach der Menopause der Östrogenspiegel fällt, fehlt der damit assoziierte Schutzfaktor und Frauen können dann auch von diesen Erkrankungen betroffen sein, einfach ca. 10 Jahre später als Männer, wobei beim Takotsubo ohnehin 90% der Betroffenen Frauen sind. Eine ganz besondere Situation bei Frauen ist naturgemäß die Schwangerschaft, die ebenfalls kardiologisch Besonderheiten aufweist. Durch das erhöhte Blutvolumen und die geringere Konzentration an roten Blutkörperchen muss das Herz mehr arbeiten und schlägt schneller. Weiterhin gibt es schwangerschaftsassoziierte Erkrankungen, wie die peripartale Kardiomyopathie. Dies ist eine sehr ernstzunehmende Erkrankung, die durch eine akute oder subakute Herzschwäche charakterisiert ist und während der letzten vier Monate der Schwangerschaft bis fünf Monate postpartal auftreten kann.
Worin sehen Sie die größte Gefahr, wenn bei Diagnose und Behandlung nicht auf das Geschlecht geachtet wird?
Es ist von großer Bedeutung, die geschlechtsspezifischen Unterschiede von Erkrankungen zu kennen, da sonst Beschwerden nicht richtig interpretiert werden können und ggf. nicht die richtige Diagnose gestellt wird. Aufgrund unterschiedlicher Pathophysiologie zwischen den Geschlechtern und der unabdingbaren Notwendigkeit einer individuell angepassten Behandlung (precision medicine), müssen teilweise unterschiedliche Therapiekonzepte angewandt werden. Entscheidend ist auch die teilweise unterschiedliche Prognose einer Erkrankung, weshalb die Risikostratifizierung unterschiedlich ausfallen kann. Bei Vorhofflimmern wird z.B. allein durch das Vorliegen des weiblichen Geschlechts ein zusätzlicher Risikopunkt veranschlagt. Das bedeutet, dass bei dieser in der westlichen Welt endemischen Erkrankung Frauen zwar im Mittel 10 Jahre später als Männer betroffen sind, dann aber das höhere Risiko aufweisen und damit die ungünstigere Prognose haben. Wenn diese geschlechterspezifischen Unterschiede nicht berücksichtigt werden, können Erkrankungen fehldiagnostiziert oder zumindest nicht optimal behandelt werden.
Auch Medikamente wirken bei Frauen und Männern unterschiedlich, worauf ist das zurückzuführen?
Auch hier gibt es vielschichtige Aspekte und komplexe Interaktionen zu beachten. Zunächst liegen bei Frauen i.d. R. andere Größenverhältnisse vor, d.h. ein kleineres Verteilungsvolumen, ein geringeres Gewicht und eine geringere Muskelmasse. Das birgt die Gefahr, dass Medikamente, deren Dosis am männlichen Geschlecht orientiert ist, bei Frauen eine zu starke Wirkung bzw. Nebenwirkung hervorrufen können. In der Pädiatrie gibt es aus diesen Gründen selbstverständlich gewichtsadaptierte Medikamente bzw. Dosierungen. Darüber hinaus können die höhere weibliche Körpertemperatur sowie der unterschiedliche Hormonaushalt zu Einflüssen auf die jeweiligen Medikamente führen mit der Konsequenz einer Wirkungsabschwächung bzw. -verstärkung.
Was würden Sie sich in Hinblick auf die Zukunft von geschlechtersensibler Medizin wünschen?
„Create awareness“, die längst noch nicht überall angekommen ist. Außerdem - und dies ist ganz zentral – dass in zukünftigen Studien eine gleichmäßige Geschlechterverteilung angestrebt wird, denn aus Studien resultiert unser Wissen und auf deren Grundlage werden unsere „Guidelines“ verfasst, auf deren Basis wir unsere Patienten behandeln. Es ist eigentlich selbsterklärend und unabdingbar, dass hier beide Geschlechter zu etwa gleichen Teilen repräsentiert sein müssen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Anja Kütemeyer für den Verlag.
Prof. Dr. med. Corinna Brunckhorst ist Fachärztin für Innere Medizin und Kardiologie mit Weiterbildung an der Charité, am Deutschen Herzzentrum Berlin und an der Harvard University, Boston. Seit 2007 Leitende Ärztin für Kardiologie mit Schwerpunkt Herzrhythmusstörungen am Universitären Herzzentrum Zürich.