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Geringe Literalisierung bei Erwachsenen

Von Prof. Dr. Jascha Rüsseler.

Lesen und Schreiben als Kulturtechniken haben in unserer modernen Gesellschaft eine überragende Bedeutung. Ob Bus- oder Zugfahrpläne, das Fernseh- oder Kinoprogramm, Arbeitsanweisungen oder Formulare – ständig stehen wir im Alltag vor Anforderungen, die die Aufnahme und das Verständnis von schriftlichen Informationen erfordern. Häufig stehen wir dabei auch unter großem Zeitdruck. In Deutschland können etwa 6,2 Millionen Erwachsene nicht ausreichend lesen, um diese im Alltag auftretenden schriftsprachlichen Herausforderungen zu bewältigen. Etwa 55% dieser Personen haben Deutsch als Erstsprache (leo.-Studie 2018, Grotlüschen et al., 2019). Sie werden als gering literalisierte Erwachsene oder gelegentlich auch als funktionale Analphabet*innen bezeichnet.

Alphabetisierung Erwachsene Lernende üben Schreiben Analphabeten gering Literalisierte Bild: getty images

Beschreibung von Lesekompetenzen – die Alpha-Levels

Um alltagsrelevante Lesekompetenzen gut erfassen zu können, wurden die sogenannten Alpha-Levels entwickelt (Dessinger, 2011). Insgesamt werden sechs Alpha-Levels für das Lesen vorgestellt, wobei Erwachsene, deren Kompetenzen das dritte Level nicht überschreiten, als gering literalisiert angesehen werden. 
Alpha-Level 1 beschreibt prä- und paraliterales Lesen auf der Buchstabenebene. Personen auf diesem Level können Grapheme benennen, Konsonant-Vokal-Konsonant (KVK)-Wörter mit bis zu fünf Graphemen phonologisch benennen, synthetisieren und konstruierend decodieren. Alpha-Level 2 beschreibt konstruierendes Lesen auf der Wortebene. Unter konstruierendem Lesen wird verstanden, dass jedem Graphem (kleinste bedeutungstragende Einheit der Schriftsprache, z.B. einzelne Buchstaben wie g, e, i; Buchstabenkombinationen wie sch, ei, au) in einem Wort ein Lautwert bzw. Phonem zugeordnet wird. Dies erfordert häufig die vollständige Konzentration der lesenden Person, sodass zum inhaltlichen Verständnis nicht mehr genügend kognitive Kapazität zur Verfügung steht. Personen auf Alpha-Level 2 können Wörter mit ansteigender Komplexität (Konsonantenhäufung) und Zeitpläne sinnentnehmend lesen. Alpha-Level 3 beschreibt das sinnentnehmende Lesen auf der Satzebene. Hier können überwiegend einfache Sätze, die aus bekannten Standardwörtern bestehen, gelesen werden. Einzelne Wörter können im Satzkontext erlesen werden. Orthografisch komplexere Wörter können im Satzkontext und einzeln gelesen werden, Satz-Bild-Verknüpfungen werden vorgenommen, einfache Anweisungen können gelesen und befolgt werden. Ab Alpha-Level 4 wird das zunehmend komplexer werdende Lesen von Texten in den Blick genommen. Gering literalisierte Personen erreichen die Textebene nicht oder können maximal einfache, kurze Textabschnitte sinnentnehmend lesen.   

Grundbildungsangebote und Teilnehmendengewinnung

Aktuell besuchen nur etwa 150.000 Personen Kurse für Erwachsene, in denen Grundbildungskompetenzen, darunter auch Lesen und Schreiben, vermittelt werden. Der größte Anbieter derartiger Kurse sind in Deutschland die Volkshochschulen. Dazu kommen Teilnehmende an Integrationskursen, die andere Erstsprachen als Deutsch haben. Diese Zahlen machen deutlich, dass nur ein Bruchteil der gering literalisierten Personen an Bildungsangeboten teilnimmt. Um die Teilnahme an Grundbildungskursen zu erhöhen, sind im Rahmen der Dekade für Alphabetisierung (2016 bis 2026), die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ausgerufen wurde, eine Reihe von Anstrengungen unternommen worden, die darauf abzielen, die betroffene Personengruppe zu charakterisieren und Strategien zu entwickeln, wie diese zur Teilnahme an Grundbildungskursen gewonnen werden kann. 

In der Umfeldstudie (Buddeberg, 2016) wurden in Hamburg 1511 Personen telefonisch befragt. Davon gaben 37,2% an, eine oder mehrere Personen zu kennen, von denen sie wissen, dass diese Probleme beim Lesen oder Schreiben haben. Diese „Mitwissenden“ sind vor allem im Freundes- und Bekanntenkreis (39 %), im beruflichen Kontext (28 %) und in der Familie (15 %) zu verorten. Sie sollten in die Anwerbung von Teilnehmenden an Grundbildungsangeboten verstärkt einbezogen werden. Allerdings geben nur 36,5 % der Mitwissenden an, mit den Betroffenen über das Problem zu sprechen. Als häufigste Gründe dafür, dies nicht zu tun, geben 58,3 % der Befragten an, dass das Verhältnis zu der betroffenen Person keinen Raum biete, darüber zu sprechen; 53,9 % sind der Ansicht, dass sie „das nichts angehe“; 48,8 % sagen, dass sie die betroffene Person kaum kennen; 38.1 % geben an, sich ein solches Gespräch unangenehm vorzustellen (Mehrfachnennungen waren möglich; Quelle: Universität Hamburg, Umfeldstudie, n=263 Mitwissende, die mit der betroffenen Person nicht über das Problem sprechen; Buddeberg, 2016). Weiterhin geben 62,3 % der Mitwissenden an, zu wenig Wissen über Kursangebote zu haben. Lernangebote können übrigens nach Postleitzahl sortiert auf der Webseite https://alfa-telefon-suche.de abgerufen werden, die vom Bundesverband Alphabetisierung betrieben wird. Das Alfa-Telefon (0800-53334455) bietet darüber hinaus kostenlose und anonyme telefonische Beratung für Betroffene und für Menschen, die Betroffene kennen.

Aus der Umfeldstudie geht hervor, dass Mitwissende vor allem im beruflichen und sozialen Umfeld der gering literalisierten Erwachsenen zu finden sind. Wesentliche Gelingensfaktoren der Ansprache von Mitwissenden und Betroffenen im Sozialraum sind (Lück, Redder, 2022):

  • Auswahl geeigneter Lernorte für Lernen und Werbung im Sozialraum;
  • Aufbau und Pflege eines Netzwerkes der relevanten Einrichtungen im Sozialraum und von Multiplikator*innen;
  • Nach Zielgruppen möglichst passgenau konzipierte Materialien für die Öffentlichkeitsarbeit/ Werbung;
  • Möglichst viele Kommunikationskanäle aufeinander abgestimmt nutzen (Plakate, Flyer, Social Media, Webseite, lokale Presse, lokales TV und/oder Radio);
  • Ggf. bundesweite Kampagnen mit lokalen/regionalen Angeboten verbinden;
  • Wenn möglich Lernende/Betroffene als Expert*innen mit einbeziehen;
  • Wiedererkennungswert durch Nutzung von Logos und Slogans schaffen.

Im Kontakt mit Betroffenen und bei der Bewerbung von Bildungsangeboten hat es sich als sinnvoll erwiesen, nicht sofort das Problem geringer Lese- und Schreibkompetenzen anzusprechen, sondern zunächst überhaupt einmal mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Hier hat sich das Alfa-Mobil als hilfreiche Unterstützung erwiesen. Das Alfa-Mobil ist ein seit vielen Jahren vom BMBF gefördertes Projekt der aufsuchenden Bildungsarbeit des Bundesverbandes Alphabetisierung e.V. Um gering literalisierte Personen zu erreichen und Grundbildungsangebote zu bewerben, kooperiert das Alfa-Mobil mit Bildungsträgern vor Ort und bewirbt in der aufsuchenden Beratung deren Bildungsangebote. Dies geschieht in Form eines mobilen Infostandes, der einschließlich Personal angefordert werden kann. In der Regel sind hier auch Betroffene beteiligt, die einen leichteren Zugang zu ebenfalls betroffenen Personen haben

Konzepte für den Alphabetisierungsunterricht

Neben einer Reihe von niederschwelligen Lernangeboten liegen Curricula für länger andauernde Alphabetisierungskurse vor. Niederschwellige Lernangebote wollen Lernenden zielgerichtet Lese- und Schreibkompetenzen vermitteln, die zur Bewältigung bestimmter Alltagssituationen erforderlich sind. Als Beispiel sei hier die Kompetenz genannt, wichtige von unwichtigen Briefen zu unterscheiden (z.B. Rechnungen von Werbung) und diese dann – ggf. mit Hilfe anderer – bearbeiten zu können. Ein anderes Beispiel ist das Lesen und ggf. Schreiben von Rezepten im Rahmen eines Kochkurses, womit Schriftsprachkompetenzen in einem sinnstiftenden Kontext und in fast spielerische Weise vermittelt werden.   

Im Rahmencurriculum Lesen und Schreiben des Deutschen Volkshochschulverbandes (DVV; https://www.grundbildung.de/downloads/lesen/lesen-schreiben-grundlagen-rc.pdf) werden für vier Lesestufen zentrale Kompetenzen beschrieben und konkrete Aufgaben zur Übung dieser vorgestellt. Diese sind an den oben genannten Alpha-Levels orientiert. 

Bei Alpha-Plus handelt es sich um ein umfangreiches Alphabetisierungs- und Grundbildungsprogramm, das modular aufgebaut ist und in kontrollierten empirischen Studien auf seine Effektivität hin geprüft wurde (Boltzmann et al., 2015; Rüsseler et al., 2013). Die einzelnen Module können auch ohne den Gesamtkurs im Alphabetisierungsunterricht eingesetzt werden. Hier wird vor allem mit Lernelementen wie selbstgesteuertem Lernen bei kontinuierlicher Lernberatung in Kleingruppen gearbeitet. 

Weitere Informationen zu den angesprochenen Themen, insbesondere zu Lernkonzepten, Lernberatung und Ansprachemöglichkeiten für Betroffene, können dem gerade im Hogrefe-Verlag erschienenen Buch „Analphabetismus und geringe Literalität bei Erwachsenen. Grundlagen und Praxis“ von Jascha Rüsseler entnommen werden.

Zitierte Literatur:

Boltzmann, M, Aulbert-Siepelmeyer, A, Rüsseler, J, Warnke, R Menkhaus, K, Overlander, O (2015). AlphaPlus. Ein Alphabetisierungsprogramm zur Förderung der Schriftsprachkompetenzen Erwachsener. Bielefeld: wbv.

Buddeberg, K (2016). Hauptergebnisse der quantitativen Teilstudie. In: W Riekmann, K Buddeberg, A Grotlüschen (Hrsg.)., Das mitwissende Umfeld von Erwachsenen mit geringen Lese- und Schreibkompetenzen. Ergebnisse aus der Umfeldstudie. S. 61-78. Münster: Waxmann.

Dessinger, Y (2011). Kompetenzmodelle des Schriftspracherwerbs. In: A Grotlüschen, R Kretschmann, E Quante-Brandt, KD Wolf (Hrsg.), Literalitätsentwicklung von Arbeitskräften. 69-85. Münster: Waxmann. 

Grotlüschen, A, Buddeberg, K, Dutz, G, Heilmann, L, Stammer, C (2019). LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität. Presseheft. leo.blogs.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/2022/09/LEO2018-Presseheft.pdf (Zugriff am 09.04.2025).   

Lück, A, Redder, MM (2022). Ansprechen – aber wie? Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren für die Ansprache gering literalisierter Erwachsener in der Lebenswelt. Ein Gespräch der projekte aktiv-S, Knotenpunkte für Grundbildung, mittendrin, ALFA-Media und Neustart St. Pauli. In: U Jahannsen, B Peuker, S Langemack, A Bieberstein (Hrsg.), Grundbildung in der Lebenswelt verankern. Praxisbeispiele, Gelingensbedingungen und Perspektiven. 115-127. Bielefeld: wbv 

Rüsseler, J, Boltzmann, M, Menkhaus, K, Aulbert-Siepelmeyer, A (2013). Evaluation eines neuen Trainingsprogramms zur Verbesserung der Lese- Rechtschreibfähigkeiten funktionaler Analphabeten. Empirische Sonderpädagogik, 3, 237-249.

Prof. Dr. Jascha Rüsseler

Prof. Dr. Jascha Rüsseler ist Diplom-Psychologe und Professor für Kognitions-, Emotions- und Neuropsychologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seit ca. 20 Jahren beschäftigt er sich in seiner Forschung mit den neurobiologischen und kognitiven Grundlagen des Lesens und Schreibens sowie mit Problemen beim Schriftspracherwerb. Er ist Mitglied im Netzwerk Leseforschung. Im Rahmen der vom BMBF geförderten Dekade für Alphabetisierung und des AlphaBundes hat er mehrere Projekte zu geringer Literalisierung Erwachsener geleitet.

Empfehlung des Verlags

Analphabetismus und geringe Literalität bei Erwachsenen Grundlagen und Praxis von  Jascha Rüsseler
Dieses Buch richtet sich an: Psycholog:innen; Pädagog:innen; Erwachsenenbildung; Studierende (Psychologie, Pädagogik, Erwachsenenbildung, Lehramt) und Praktiker:innen (Kursleiter:innen von Grundbildungs- und Alphabetisierungskursen)Etwa 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig le…