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Gewalt bei Paaren – wirkungsvolle Interventionen

Guy Bodenmann und Corinne Bodenmann-Kehl geben im Band „Gewalt bei Paaren“ aus der Reihe „Fortschritte der Psychotherapie“ einen umfassenden Überblick über das Phänomen, seine Diagnostik und die möglichen Interventionen, die helfen können, wenn es zu einem sich gegenseitig aufschaukelnden Prozess von Gewalt in der Paarbeziehung gekommen ist. Wir haben mit ihnen über das Buch und die Möglichkeiten der Paartherapie gesprochen.

Paare und Gewalt Paarbeziehung gewalttätig Collage aus Händen und Köpfen Abbildung: © shutterstock / Berit Kessler

Wie definieren Sie „Gewalt“ in der Partnerschaft, geht es vor allem um körperliche Gewaltausübung oder welche Formen fallen darunter?

Guy Bodenmann: 
Gewalt bei Paaren hat verschiedene Gesichter. Neben der verbalen oder psychischen Gewalt, bei welcher man den Partner/die Partnerin massiv abwertet, einschüchtert, erniedrigt, bloßstellt oder herabsetzt, Drohungen ausstößt oder Verleumdungen in die Welt setzt, unterscheidet man körperliche Gewalt (Schubsen, Stoßen, Treten, Schlagen etc.) sowie sexuelle Gewalt, wozu sexuelle Belästigung, Nötigung oder Vergewaltigung zählen. 

Corinne Bodenmann-Kehl: 
Zu dieser Form der Gewalt gehört auch der Zwang zu sexuellen Praktiken, welche der Partner/die Partnerin nicht möchte, beispielsweise gewisse Stellungen, Einfordern von Oral- oder Analsex, Gruppensex, Besuch von Swingerclubs etc. Häufig erfolgt die sexuelle Gewalt kombiniert mit verbaler Gewalt.

Guy Bodenmann: 
Aber auch ökonomische und soziale Gewalt oder Vernachlässigung bilden Formen der Gewalt bei Paaren ab, welche durch Kontrolle, Einschüchterung und Verbote Angst und Leiden verursachen.

Tabellentexte entnommen aus "Gewalt bei Paaren"

Sie beschreiben auch eine Typologie von Gewalt, welche Typen unterscheidet man hier? Werden sie unterschiedlich therapiert?

Corinne Bodenmann-Kehl: 
Wir stellen eine Typologie vor, in welcher drei Formen von Gewalt in Partnerschaft unterschieden werden. Die erste Form beschreibt dyadische Gewalt als ein reziprokes Geschehen, in dessen Verlauf es zu einem unheilvollen gegenseitigen Aufschaukeln der Aggression und einer Eskalation kommt, die sich in Gewalt entlädt. Zu dieser Form der Gewalt tragen beide durch ihr jeweiliges Verhalten bei. Die zweite Form tritt meist unerwartet und abrupt auf, da das Paar bislang zu Konfliktvermeidung tendierte, wodurch sich die negative Energie über längere Zeit angestaut hat und auf einmal eruptiv entlädt. Diese Gewaltdurchbrüche können äußerst heftig sein. Die dritte Form stellt Gewalt dar, welche mit der Persönlichkeit des Partners/der Partnerin im Zusammenhang steht. Meist spielen hier Psychopathologien eine Rolle (z.B. Antisoziale Persönlichkeitsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Narzisstische Persönlichkeitsstörung) oder internalisierte kulturelle Normen und gewaltbejahende Einstellungen. 

Guy Bodenmann:
Während beim ersten und zweiten Typ Paartherapie indiziert ist, ist dies beim dritten Typ nicht der Fall. Bei den ersten beiden Typen werden mit dem Paar die Gründe für Gewalt analysiert, Einsicht in die Dynamiken geschaffen, sowie u.a. Kommunikationsfertigkeiten (emotionale Selbstöffnung, Zuhören) und Impulskontrolle trainiert.

Wie häufig ist Gewalt in Paarbeziehungen und wie ist die Verteilung der Geschlechter hierbei?

Corinne Bodenmann-Kehl: 
Leider ist Gewalt bei Paaren sehr häufig. Rund ein Fünftel bis ein Viertel der Frauen erfahren körperliche Gewalt durch den Partner/die Partnerin, bei der psychischen Gewalt sind es sogar noch weit mehr. So berichten in Deutschland rund 50 % der Frauen von psychischer Gewalt. Dabei handelt es sich um Lebenszeitprävalenzen, d.h. in irgendeiner Partnerschaft im Verlauf des Lebens Gewalt zu erfahren. 

Guy Bodenmann:
Häufig handelt es sich dabei nicht um massive Gewalt. Stoßen, Schubsen, einen Gegenstand nachwerfen sind die häufigsten Formen. 

Corinne Bodenmann-Kehl: 
Gewalt ist zudem bei jungen Paaren genauso vertreten. 

Guy Bodenmann:
Während häusliche Gewalt in Polizeirapporten, Krankenhausakten oder Statistiken von Frauenhäusern in der Regel männliche Gewalt gegenüber Frauen ist, finden wir keine signifikanten Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Häufigkeit von Gewalt in repräsentativen Studien. Bei einem wechselseitigen Aufschaukeln tragen beide zur Gewalteskalation bei. 

Corinne Bodenmann-Kehl: 
Interessant ist auch, dass Gewalt am häufigsten gegenüber bisexuellen Frauen stattfindet und auch Frauen in lesbischen Beziehungen häufiger von Gewalt in der Partnerschaft berichten als Frauen in heterosexuellen Beziehungen. 

Guy Bodenmann:
Gewalt ist bei Paaren in Paartherapie ein häufiges Thema. Mehr als die Hälfte berichten von physischen Gewalterfahrungen.

Es gibt verschiedene Ansätze zur Erklärung von Gewalt bei Paaren, welchen Ansatz halten Sie für besonders schlüssig?

Guy Bodenmann: 
Es gibt eine Reihe von Erklärungsmodellen. Einige verorten Gewalt stärker in Geschlechtsrollen und Sozialisationsbedingungen, andere in ökologischen oder strukturellen Faktoren. Für die Paartherapie am relevantesten sind dyadische Ansätze, welche Gewalt als ein reziprokes, prozessuales Geschehen konzeptualisieren. Diese Ansätze haben auch die breiteste wissenschaftliche Fundierung und können als die Erklärungsmodelle betrachtet werden, welche für die therapeutische Praxis die wertvollsten Impulse in Bezug auf Psychoedukation wie auch bezüglich konkreter Interventionen bieten. 

Welche Interventionsmöglichkeiten bei Gewalt in der Partnerschaft gibt es?

Corinne Bodenmann-Kehl: 
Je nachdem, welche Form von Gewalt vorliegt (siehe verschiedene Typen von Gewalt) gestaltet sich die Intervention unterschiedlich. Zu Beginn wird die Gewalt mittels funktionaler Bedingungsanalyse (SORCK) sorgfältig analysiert und herausgearbeitet, welche Situationen zu welchen behavioralen, kognitiven, emotionalen und physiologischen Reaktionen der beiden Partner*innen führen und welche Konsequenzen für Partner*in A, Partner*in B und das Paar erfolgen. Dabei werden auch die Kompetenzen (z.B. Emotionsregulation, Impulskontrolle, Frustrationstoleranz), Einstellungen gegenüber Gewalt, Machtverhältnisse im Paar, Bindungsstile und psychologische Variablen (Selbstwert, Kontrollüberzeugungen, Attributionsstil) beider Partner*innen einbezogen. In Abhängigkeit des SORCK werden die konkreten Interventionsziele und Methoden festgelegt. 

Guy Bodenmann:
Beim ersten und zweiten Typ Gewalt beinhalten die Methoden vor allem die Förderung der emotionalen Kommunikation mittels SaGeBe-Methode, die Stärkung der Selbstkontrolle und Emotionsregulation sowie der Impulskontrolle, Erhöhung der Frustrationstoleranz und Abweichungstoleranz.

Könnten Sie die SaGeBe-Methode kurz schildern? Was soll damit erreicht werden?

Corinne Bodenmann-Kehl: 
Die SaGeBe-Methode basiert auf dem klassischen Kommunikationstraining. Es geht darum, statt den Partner/die Partnerin zu beschuldigen und anzugreifen, bei sich zu bleiben, in sich hinein zu spüren und zu formulieren versuchen, was das Verhalten des anderen bei einem auslöst, welche Gefühle entstehen und warum diese hochkommen. Es geht im Wesentlichen um eine tiefere emotionale Selbstöffnung. D.h. die Sachlage soll nur kurz geschildert werden (Sa: „Dass du mich gleich beschuldigt hast, dass ich es vergessen habe, war unfair“), danach sollen insbesondere die Gefühle exploriert werden (Ge: „Das hat mich verärgert, aber auch nachdenklich und traurig gemacht. Es macht mich hilflos, dass ich dich nicht vom Gegenteil überzeugen kann“), um zu erkennen, weshalb diese so stark hochkommen und welche Bedürfnisse nicht befriedigt oder verletzt werden (Be: „Ich wünsche mir gehört und fair behandelt zu werden“).

Regeln für Sprecher*in

1. Konkret: Es soll eine konkrete Situation oder ein konkretes Verhalten angesprochen werden, das einen stört. Zu vermeiden sind Verallgemeinerungen, Pauschalisierungen, Charakterzuschreibungen und das Abschweifen in andere Themen oder das Aufwärmen „alter Geschichten“.

2. Ich-Botschaften: Die Mitteilungen erfolgen in der Ich-Form.

3. Gefühle und Bedürfnisse ansprechen: Anstatt auf Fakten soll auf das Erleben und die Gefühle in der Situation oder im Zusammenhang mit dem Verhalten eingegangen werden. Dabei sollen auch Gedanken, die zu diesen Gefühlen führen, mitgeteilt werden. Nachdem die Gefühle in der Situation oder im Zusammenhang mit dem Verhalten ausgedrückt wurden, soll auf die Bedürfnisse eingegangen werden und geäußert werden, was man sich wünschen würde.

Regeln für Zuhörer*in

1. Aktiv und engagiert zuhören: Damit ist eine offene, zugewandte und Interesse zeigende Haltung gegenüber dem Partner bzw. der Partnerin gemeint, die sich in der Sitzhaltung und Ausrichtung (Blickkontakt) zum Partner bzw. zur Partnerin äußert und Respekt und Achtung ausgedrückt. Mit verbalem und nonverbalem Feedback (z. B. „Mhm“, Nicken etc.) wird das interessierte Zuhören signalisiert.

2. Zusammenfassen: Wichtige Inhalte (insbesondere Gefühle) des Sprechers bzw. der Sprecherin werden regelmäßig zusammengefasst. Dabei ist auf neutrale oder wohlwollende Gestik und Mimik sowie einen angemessenen Tonfall zu achten.

3. Offene Fragen stellen: Bei Unklarheiten werden offene Fragen gestellt (d. h. Fragen, die nicht Ja oder Nein als Antwort zulassen, sondern dem Partner bzw. der Partnerin die Möglichkeit geben, sich frei und ungezwungen auszudrücken).

Mit der SENF-Methode lässt sich der aggressive Aufschaukelungsprozess herunterregeln, wie wird sie angewendet?

Guy Bodenmann:
Die SENF-Methode soll dem Paar eine Möglichkeit an die Hand geben, den aggressiven, eskalativen Aufschaukelungsprozess zu verhindern. Dabei soll bei einer hohen physiologischen Aktivierung und starker Wut innegehalten und das Gespräch abgebrochen werden (Stopp). Beide Partner*innen sollen sich, wenn möglich in getrennten Räumen herunterregulieren (Entspannen). Es ist nicht erlaubt, den anderen aufzusuchen und zu bedrängen. Im Time-out soll mit ruhigem Kopf analysiert werden, was genau zu dieser starken Wut geführt hat (Nachdenken). Erst wenn beide sich beruhigt haben, wird das Gespräch wieder aufgenommen und gemäß der SaGeBe-Methode darüber geredet, was einen stört (Formulieren).

Ein wichtiges Thema ist Prophylaxe. Was können Paare tun, um erneute Gewalt zu vermeiden?

Corinne Bodenmann-Kehl: 
Ja, Prophylaxe ist äußerst wichtig. Damit diese gelingt, erweisen sich zwei weitere Elemente als nützlich: das Repair-Gespräch und Versöhnungsrituale. Beim Repair-Gespräch geht es darum, Verletzungen, die während des hitzigen Konflikts stattgefunden haben, anzusprechen, zu validieren und sich dafür zu entschuldigen. Dadurch kann negative Energie abgebaut und Zündstoff für ein nächstes eskalierendes Gespräch reduziert werden. Beim Versöhnungsritual geht es darum, Verantwortung für zugefügte Verletzungen zu übernehmen, sich dafür ehrlich und authentisch zu entschuldigen und sich dafür einsetzen zu wollen, dass es nicht mehr zu solchen Entgleisungen und Verletzungen kommt. Auf dieser Grundlage erst kann Verzeihen und Versöhnen stattfinden. In Form eines persönlich vom Paar gestalteten Rituals wird diese schwierige Episode versöhnlich zu beenden versucht, um den Weg zu einer neuen Zukunftsperspektive zu eröffnen.

Wie wirksam ist Paartherapie bei Paaren mit einer Gewaltproblematik, sind die Erfolgsaussichten trotz der schwierigen Ausgangssituation gut?

Guy Bodenmann:
Paartherapie ist bei Gewalt in Partnerschaften in der Regel wirksamer als ein Individuum-orientierter Ansatz, bei dem nur mit dem gewalttätigen Menschen gearbeitet wird. Beim ersten und zweiten Typ Gewalt sollten dyadische Strukturen, Beziehungsformen, Kommunikationsmuster und Interaktionsdynamiken verändert werden, wozu nur Paartherapie in der Lage ist. Studien belegen die Wirksamkeit von Paartherapien bei Gewalt. Die Effektstärke liegt bei d = .84, was ermutigend ist. Allerdings sehen wir keine oder nur eine minimale Wirkung, wenn es sich um die persönlichkeitsbezogene Form (Persönlichkeitsstörung bei einem Partner) handelt. Hier stößt jedoch auch die individuelle Psychotherapie oftmals an ihre Grenzen.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Guy Bodenmann

Prof. Dr. Guy Bodenmann ist ordentlicher Professor für Klinische Psychologie mit Schwerpunkt Kinder/Jugendliche und Paare/Familien an der Universität Zürich. Zuvor leitete er während 14 Jahren das Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Fribourg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Stress und Partnerschaft, Partnerschaft und psychische Störungen, Partnerschaftskonflikte und die Entwicklung von Kindern sowie die Prävention und Therapie von Beziehungsstörungen.

Dr. Corinne Bodenmann-Kehl

Dr. Corinne Bodenmann-Kehl ist Psychotherapeutin und Paartherapeutin an der Hochschulambulanz Zürich (zuvor Fribourg), Paarlife-Trainerin und –Ausbildnerin sowie Supervisorin. Ihre Praxis- und Forschungsinteressen beziehen sich auf Paar- und Familienkompetenzen sowie familiäre Resilienzfaktoren. Sie unterstützt Paare in der Paartherapie auch gezielt in Bezug auf Erziehungsfragen. Mit dem Programm KIO (Konflikt ist okay) bietet sie Eltern evidenz-basierte Hilfestellungen im Umgang mit Streiten an. 

Empfehlung des Verlags

Gewalt bei Paaren von Guy Bodenmann, Corinne Bodenmann-Kehl