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Huch, die Angst ist da!

Die Autor*innen Ulrike Légé und Fabian Grolimund erzählen im Interview über den Sinn und den Ursprung von Ängsten, was ihnen selbst hilft, mit Angst umzugehen und wie man Kinder ermutigen kann, sich ihrem Angstmonster zu nähern. Und das Angstmonster selbst? Meldet sich auch immer wieder zu Wort ….

Wovor hatten Sie selbst als Kind Angst und gibt es diese Ängste vielleicht immer noch?

Ulrike Légè:
Ich habe als Kind gerne Gruselgeschichten gelesen, mich aber dann gefürchtet, dass mir im echten Leben etwas Schlimmes passieren könnte. Ich hatte Angst, jemanden oder etwas, das ich sehr liebhabe, zu verlieren. Diese Kinderangst ist mir deutlich im Gedächtnis geblieben und begleitet mich bis heute. In schönen Momenten habe ich plötzlich das Gefühl „Oh nein, hoffentlich passiert jetzt nichts …“.
In der Schule war ich sehr gut, hatte aber gerade deswegen große Sorge, abgelehnt zu werden. Indem ich gute Freundschaften pflegte oder mich für die ganze Klasse einsetzte, konnte ich diese Angst etwas mildern. Aber die Befürchtung „bin ich vielleicht anders als andere und mögen die mich deshalb nicht?“, spüre ich auch als Erwachsene noch manchmal, wenn ich beispielsweise in neue Teams einsteige.

Fabian Grolimund:
Ich habe mich als Kind sehr schnell geekelt und hatte Angst, etwas Ekliges anzufassen. Ich wollte nicht auf Kindergeburtstage gehen, weil ich Angst hatte, dass wir da ein Schokokuss-Wettessen machen müssen. Ich hatte oft die Befürchtung, in eine Situation zu kommen, wo etwas Ekliges passiert und ich nicht gut darauf reagieren kann.

 

Das Angstmonster:
Iiiiiiih, bääääh – Schokoküsse sind ja auch sooo eklig schleimig! Gleich werden sie allen Geburtstagsgästen richtig braun-weiß glitschig und pappig auf der Wange und den Fingern kleben …

Fabian Grolimund:
Brrr, ja, ich sehe schon eine Horde Kinder vor mir, die schmatzen, sabbern und sich die Hände und den Mund verschmieren!

Auch als Erwachsener merke ich, dass ich mich schnell ekle. Von meinem Vater hatte ich als Kind oft gehört: “Fass das nicht an, das ist doch eklig - da könnte etwas passieren!“ Deshalb habe ich sehr darauf geachtet, die gleiche Angst nicht auch noch an meine Kinder weiterzugeben.
Als Jugendlicher kamen bei mir Prüfungsängste dazu. Selbst besser zu lernen, wie man mit diesen umgeht, hilft mir heute bei meiner Arbeit als Lerncoach mit Kindern, die darunter leiden.

Angst hat ja auch einen Sinn – wie wichtig ist es, dass Kinder verstehen, wie Ängste uns in einigen Situationen schützen können?

Ulrike Légé:
Als meine kleine Tochter sieben Jahre alt war, fragte sie mich: „Mama, Angst zu haben ist so doof und es wäre doch viel schöner ohne sie. Warum muss es sie überhaupt geben?“. Diese Situation hatte unser Buch inspiriert …

Das Angstmonster:
Moment, mal – ich bin kein Stück doof! Ganz im Gegenteil … also, wenn ich so was höre, da könnte ich mich richtig aufregen und groß aufplustern!

Ulrike Légé:
Stopp, Angstmonster, Du kannst ruhig klein bleiben! Wir sehen das ja auch anders. Wir finden es wichtig, dass unsere Kinder verstehen: Angst ist nichts Unnatürliches und schon gar nichts Dummes, für das man sich schämen müsste. Die Angst ist eine wichtige Stimme in uns, auf die man durchaus hören soll.

Das Angstmonster:
Ganz genau! Ich warne kleine und große Menschen immer, wenn es für sie brenzlig werden könnte. Ich sage ihnen, dass sie lieber erstmal abwarten, nachdenken oder andere fragen sollen, statt fix irgendetwas Riskantes zu tun. So versuche ich, Kindern und Erwachsenen beizubringen, gut auf sich aufzupassen.

Ulrike Légé:
Als Biologin ist mir bewusst, dass wir Menschen als eine sehr verwundbare Spezies dieses Frühwarnsystem der Angst wirklich zum Überleben brauchen. Uns schützen ja weder Reißzähne noch Panzer. Spannend finde ich aber, dass die Angst uns ja nicht nur vor physisch bedrohlichen Situationen bewahrt. Sie warnt uns auch im sozialen Miteinander, denn Menschen konnten früher nur in Gruppen überleben und psychisch gesund bleiben.
Es ist essenziell wichtig, dass wir gut einschätzen können: Wie verhalten wir uns in einer ganz neuen Situation oder Umgebung? Wie können wir uns so anpassen, dass wir in eine Gruppe gut integriert werden? Ist jemand, der uns ganz neu gegenübertritt und komisch vorkommt, nur seltsam oder bedrohlich? Im günstigsten Falle nähern wir uns anderen etwas aufmerksamer, schlimmstenfalls fühlen wir uns gelähmt.

Fabian Grolimund:                                                                                                
Auch heute ist es nicht anders: Wenn wir bei der Arbeit in unserem Team nicht ankommen, andere uns loswerden wollen, oder unsere Kinder in der Schule, in der Klasse ausgegrenzt werden, dann sind das nach wie vor bedrohliche Situationen. Es ist für Menschen schlimm, wenn sie keinen Anschluss finden können an ihre Mitmenschen. Daher sind unsere sozialen Ängste so ausgeprägt, dass uns andere vielleicht nicht mögen und nicht als ein wertvolles Mitglied der Gruppe wahrnehmen könnten.

Warum hat man aber auch manchmal in Situationen Angst, wo sie gar keinen Sinn macht, z.B. vor Spinnen oder Aliens?

Das Angstmonster:
Oooooh, Spinnen sind doch ganz schrecklich furchtbar! Und Aliens erst recht! Und am aller-, allerschlimmsten sind natürlich riesige mutierte Alien-Spinnen …

Fabian Grolimund:
Jetzt bläst Du die Spinnen aber viel zu groß auf, Angstmonster! Und sich vor Aliens zu fürchten, das ist ja echtes Kopfkino …

Tiere wie Spinnen oder Schlangen haben im Lauf der Evolution vielen Menschen das Leben gekostet und es war hilfreich, sie zu vermeiden. Das hat sich bis heute gehalten, denn unser biologisches System ist nicht so fein eingestellt, dass es uns sagen könnte: Ich lebe heute und in Mitteleuropa, wo es kaum noch giftige Spinnen gibt
Ängste werden zudem sozial vermittelt und schnell über Modelllernen weitergegeben. Es gibt viele Menschen, die Angst haben vor Spinnen oder Schlangen, von denen wir uns diese Angst abschauen können. Auch in Filmen oder in der Literatur wird ja häufig mit dieser Angst gespielt, so dass wir viele Modelle haben. Bei sozial lebenden Tieren ist es sinnvoll, dass sich jedes Individuum Ängste von anderen Gruppenmitgliedern abschauen kann. Sonst müsste ja jedes Tier zuerst selbst schlechte Erfahrungen machen und zum Beispiel von einer Schlange gebissen werden, damit es eine Angst davor entwickelt.
 

Wie kommt es eigentlich, dass so viele Kinder – und letztlich auch Erwachsene – Angst vor der Dunkelheit haben?

Ulrike Légé: 
Wenn es dämmrig oder ganz dunkel ist, können wir Menschen schlecht sehen, große Beutegreifer dagegen sehr gut. Sie gingen genau in dieser Zeit auf Jagd. Daher ist die Nacht evolutionär gesehen die Zeit, in der Menschen am meisten bedroht waren.
Wer in dieser Zeit unbesorgt draußen umherlief, hatte ein hohes Risiko, gefressen zu werden – wer in der Höhle blieb, konnte überleben, sich fortpflanzen und seine Neigung zu vorsichtigem Verhalten an die Nachkommen weitergeben. So hat die Angst vor der Dunkelheit fürs Überleben Vorteile gebracht und sich dementsprechend durchgesetzt.
Alle Menschen sind als „Rudelschläfer“ gerade nachts darauf angelegt, die Nähe von anderen zu suchen. Bei Kindern ist das am stärksten ausgeprägt. Wenn wir ein Kind nachts allein in sein eigenes Zimmer legen, können auch noch so teure Baby-Phones und Kameras seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen. Es spürt: „Es wird dunkel, ich möchte bei denen sein, die mich beschützen können!“.

Als Eltern geraten wir oft in einen Konflikt, wenn wir in Erziehungsratgebern lesen: Jedes Kind MUSS mit drei Monaten durchschlafen, schon als Kindergartenkind die ganze Nacht allein bleiben können im eigenen Zimmer - sonst haben wir bei der Erziehung versagt. Dem dürfen wir mutig entgegenhalten: Jedes Kind DARF sich in der Dunkelheit nach Nähe sehnen! Das ist für alle eine entlastende Botschaft.

Das Angstmonster:
Wenn Kinder ihre nächtlichen Ängste mitteilen und vielleicht sogar einmal Detektiv spielen und suchen dürfen, was es im Dunklen so alles gibt – dann helfe ich gern mit! Meistens merken Kinder dann schnell: Meine Eltern sind ja auch nachts für mich da und bei uns zu Hause gibt es wirklich nichts zu fürchten.

Wir kennen vermutlich alle Sätze wie „Stell dich nicht so an!“ Muss man die Ängste eines Kindes immer ernst nehmen? Was passiert, wenn man es nicht tut?

Fabian Grolimund:
Oft steckt dahinter eine Hilflosigkeit der Erwachsenen: Man möchte seinem Kind die Angst ersparen. Sie hat vielleicht auch keinen „richtigen“ Grund, denn das haben Ängste ja oft nicht. Dann sagen wir schnell so etwas wie “Davor brauchst du doch keine Angst zu haben!“. Das nützt unseren Kindern aber nichts.
Problematisch ist, dass wir ihnen damit sagen, wie sie sich zu fühlen haben, und den Kindern ihre Wahrnehmung absprechen. Wir können aber niemanden zwingen, so zu denken und zu fühlen, wie wir das gern hätten. Das Kind langsam aus der Angst herauszuführen, klappt nur, wenn wir uns erst einmal gemeinsam mit ihm auf seine Welt einlassen.

Ulrike Légé:
Aus Sicht des Kindes entsteht sonst ein Vertrauensbruch. Es hat ja etwas gemacht, was sehr mutig ist, nämlich zu sagen: „Diese Situation macht mir Angst, bitte hilf mir!“. Wenn ich das als Erwachsener einfühlsam annehmen kann, zeige ich meinem Kind auf deutliche Weise: „Deine Gefühle - genauso, wie du sie fühlst! - haben einen Platz in unserer Beziehung. Wenn du sie mit mir teilst, dann behandele ich sie wie etwas Wertvolles und Wichtiges und versuche nicht, sie kleinzureden.“
Wir dürfen uns als Erwachsene sagen: Mein Job ist es, mein Kind durch die Angst zu begleiten – nicht dieses unangenehme Gefühl dem Kind zu ersparen oder es möglichst schnell zu beenden! Nur dann fühlt sich unser Kind in der Situation ernst genommen. So wird unsere Bindung gestärkt und wir können mit einer größeren Zuversicht und Mut gemeinsam mit dem Kind durch die nächsten Angstprobleme gehen.

Fabian Grolimund:
Viele Eltern verunsichert die Bewegung des positiven Denkens, wenn sie zum Imperativ wird: Du MUSST immer positiv denken! Ich finde es wichtig, dass Eltern wissen: Ja, es ist hilfreich, wenn man eher optimistisch bleibt. Aber Mensch sein, heißt vollständig sein und alle Gefühle erleben zu dürfen.

Wenn unsere Kinder sagen, „ich schaffe das nicht“, wollen sie nicht von uns hören „doch, du schaffst das schon!“. Stattdessen sollten wir sie fragen: „Was könnte denn passieren, wenn du es nicht schaffst, wovor genau hast du Angst?“
Sind die schlimmsten Befürchtungen einmal offen ausgesprochen und zu Ende gedacht, dann können wir unserem Kind sagen „Schau, selbst wenn das passiert, stehe ich zu dir und wir überlegen, wie es weitergeht, wenn du das jetzt nicht schaffst“. So zeigen wir: Auch das darf im Leben vorkommen, es muss nicht immer alles gut laufen. Man kann lernen, mit Schwierigkeiten umzugehen.
Sobald ein Kind spürt, „meine Eltern können meine Emotionen aushalten und sind weiter verlässlich für mich da“, können sie ihre Ängste abbauen. Aber wenn die Kinder das Gefühl haben, „meine Eltern können sich gar nicht mit meinen Ängsten auseinandersetzen, das stresst die total“, sprechen sie nicht mehr mit uns darüber und ihre Ängste können sich verstärken.  

Ulrike Légé:
Bei Angst hilft unseren Kindern statt positivem Denken viel eher ein positives Erleben. Dazu können wir mit ihnen gemeinsam überlegen: „Wenn Du vor dieser großen Situation Angst hast, was wäre denn ein kleiner erster Schritt, bei dem Du Dich noch wohlfühlen würdest?“.
Also etwa, statt gleich den ganzen Schulweg allein zu bewältigen, nur erstmal den letzten Abschnitt ohne die Eltern zu laufen, dafür mit Freunden. So können wir unseren Kindern helfen, sich ihrer Angst sicher gebunden in kleinen Schritten zu stellen. Und dabei jedes Mal zu erleben, wie ihr Mut und Selbstbewusstsein ein Stückchen stärker werden.

Das Angstmonster:
Ja, ganz genau! So bleibe ich eine kleine, hilfreiche Angst – und werde nicht riesig und lähmend!

Ihr Buch ist ein „Mitmachbuch“, in dem man selbst etwas zeichnen, kritzeln, schreiben kann – wie wichtig ist es, dass die Kinder selbst aktiv sein können?

Fabian Grolimund:
Ängste lösen oft den Impuls aus, etwas zu vermeiden oder davor zu fliehen. Jede Strategie, die sich als wirksam erwiesen hat, besteht aber darin, dass wir uns irgendwie mit der Angst auseinandersetzen, indem wir darüber sprechen, schreiben oder malen.
So setzen wir uns mit der Situation, die Angst auslöst, auseinander, schauen unsere Gedanken an und überprüfen sie. Denn Angst bewältigen wir immer dann, wenn wir auf sie zugehen und sie mit der Realität abgleichen: Stimmen denn meine Befürchtungen, könnte das wirklich eintreten? Und selbst wenn es eintritt, könnte ich das aushalten?

Das kleine Angstmonster: 
Also, ich freue mich wirklich, wenn ihr mich nicht immer gleich wegschickt, sondern sogar mal willkommen heißt und ein Weilchen da sein lasst. Ich bleibe dann auch ganz klein und gar nicht so lange da – nur bis der Kuchen alle ist, versprochen!

Ulrike Légé:
Wenn wir mit unserem Kind über Ängste sprechen oder ein Buch einfach nur vorlesen, ist das schon wertvoll. Aber wenn unsere Kinder selbst anfangen, kreativ zu werden und sich auszudrücken, hat das einen deutlich nachhaltigeren und ganzheitlicheren Effekt.
Die Kinder kommen richtig herein in ihr Gespür: Wie fühlt sich meine Angst eigentlich an? Wo sitzt sie in meinem Körper? Was sagt sie zu mir? Und was will ich ihr sagen?
So haben sie die Möglichkeit, als ganzer Mensch – also nicht nur mit dem Kopf aufwärts! – zu lernen, mit ihren Gefühlen umzugehen. Und das ist, denke ich, ein sehr wichtiger Schritt, um sich ihrer Angst zu nähern, sich mit ihr auszusöhnen, vielleicht sogar anzufreunden und sie dann auch wirklich zu bewältigen. 

Können Eltern und andere Bezugspersonen mit diesem Buch auch etwas gegen ihre eigenen Ängste tun oder diese besser verstehen?

Ulrike Légé:
Wir hoffen das sehr, denn es war auch für Fabian und mich eine Reise. Wir haben gemerkt: Um als Eltern die Ängste der Kinder gut begleiten zu können, sollten wir auch die eigenen kennen und wissen, mit welchen Botschaften über Ängste wir selbst aufgewachsen sind. Wir geben in unserem Buch daher auch für Eltern viel Raum zum Reflektieren: Wo und wann spüre ich meine Angst, wie gehe ich mit ihr um? Was für Sätze höre ich in meinem Kopf, was habe ich von meinen Eltern gehört?
Das sind sehr wichtige Prozesse, um sich den eigenen Ängsten als Erwachsener nähern zu können und auch, um unsere Kinder begleiten zu können. Deshalb hat der Buch-Teil für Eltern ein größeres Gewicht bekommen, als wir es am Anfang eigentlich dachten. Gerade für ein Kind, das sich intensiv mit seinen Ängsten auseinandersetzt, kann es hilfreich sein, zu spüren: Auch meine Eltern sind auf einem Weg.
So können wir als ganze Familie das Klima zu schaffen: Bei uns darf man über seine Angst sprechen! Wir müssen sie nicht immer toll finden, aber wir haben uns mit ihr genügend ausgesöhnt, dass wir sagen: Ja, Angst, du bist ein Familienmitglied. Vielleicht nicht das beliebteste, aber du gehörst bei uns mit dazu. Wir alle setzen uns mit dir auf eine konstruktive Weise auseinander. Ich denke, dann ist man auch als Familie auf einem guten Weg.

Das Angstmonster: 
Oh, das fände ich richtig toll. Da wird mir ganz warm um mein Monsterherz – und so kann ich Eltern und Kindern sicher helfen, gut auf sich aufzupassen!

Fabian Grolimund:
Alle Strategien zum Umgang mit der Angst, die wir im Kinder-Teil vom Buch vorstellen, kann man sehr gut auch auf jede Angst, die man als Erwachsener hat, übertragen und genauso anwenden. Ob kleiner oder großer Mensch, wir sollten alle ein Instrumentarium, einen Werkzeugkoffer haben, um unseren Ängsten zu begegnen.
So machen wir uns vertraut mit der Dynamik von Angst. Wir wissen, wie wir wieder selbstwirksam werden und unseren Ängsten auf eine gute Art begegnen können. Wir können sie ein Stück weit in unser Leben integrieren und sagen: Ja, ich habe manchmal Angst, das ist in Ordnung, das darf sein. Wenn meine Angst einmal überhandnimmt, dann weiß ich, wie ich wieder ins Handeln kommen kann, damit ich ihr nicht hilflos ausgeliefert bin. Diese Möglichkeiten haben alle, die das Buch gelesen haben, Eltern und Kinder.

Vielleicht können Sie uns beide jeweils Ihre Lieblingsstrategien gegen Angst nennen?

Ulrike Légé:
Auf der rein körperlichen Ebene hilft mir die tiefe Bauchatmung, denn diese aktiviert sofort den Vagus Nerv. Der sendet als längster Hirnnerv unseres parasympathischen Nervensystems eine Entwarnung an den gesamten Körper. Er meldet aus dem Bauch ans Gehirn „Gefahr vorbei, wir sind in Sicherheit!“. Neurobiologisch gesehen können wir so bewusster umschalten von dem entwicklungsgeschichtlich ältesten Teilen unseres Gehirns, der Amygdala, die einen Angst-Alarm ausgelöst hat, zu unserem höher entwickelten Cortex, der beim durchdachten Bewältigen einer Situation hilft. Beim Atmen denke ich oft an den englischen Spruch „stop your lizard brain, start your wizard brain!“
Um nicht in einem sorgenvollen Grübeln stecken zu bleiben, kombiniere ich die Bauchatmung gern mit einer klassischen Wahrnehmungs-Übung gegen Panikattacken: Was sind fünf Dinge, die ich jetzt sehen kann? Vier, die ich hören kann? Drei, die ich riechen und zwei, die ich ertasten kann? So muss sich mein Gehirn achtsam auf neutrale Sinneswahrnehmungen konzentrieren und ich komme wieder ins Hier und Jetzt.
Mental hilft mir, was ich als Kind beim Reitunterricht immer gehört habe: „Gleich zurück in den Sattel!“ Wenn ich etwas Schlimmes erlebt habe, wie im vollen Galopp vom Pferd zu fallen, dann hilft es mir, mich der angsteinflößenden Situation sehr zeitnah, in kleinen Schritten wieder zu stellen, beispielsweise direkt danach wenigstens wieder Schritt zu reiten. So kann ich Angsteindrücke, die meine Amygdala sonst speichern würde, gleich wieder überschreiben.

Auch im Alltag hilft mir dieses Prinzip, rasch Gegeneindrücke zu schaffen statt angstbesetzten Situationen auszuweichen. So schiebe ich beispielsweise unangenehme Konfrontationen nicht vor mir her oder nehme schwierige Themen rasch wieder auf.
Eine weitere Strategie ist, mir für Situationen, vor denen ich mich fürchte, rechtzeitig vertrauensvolle Begleitung zu suchen. Da wir soziale Wesen sind, aktiviert Angst ja auch bei Erwachsenen unser Bindungssystem und wir suchen nach Nähe. Ich finde es hilfreich, dies zuzulassen und mir zu sagen, dass ich mich nicht allem ganz allein stellen muss.

Fabian Grolimund:
Ich mag Expositions- bzw. Konfrontationsstrategien, bei denen man zum Beispiel eine angstbesetzte Situation oder Sorge mehrmals gedanklich durchzuspielen, bis man sich daran gewöhnt hat.
Noch lieber arbeite ich mit der kognitiven Umstrukturierung. Dabei schreibt man sich seine Sorgen auf, nimmt sie dann ganz genau unter die Lupe und fragt sich: Hilft es mir, so zu denken? Stimmt das überhaupt? Und was wäre denn das Schlimmste, das mir passieren könnte?
Als ich mir gleich nach dem Studium teilweise selbständig gemacht habe, fanden das viele Menschen um mich herum eine ausgesprochen bescheuerte Idee. Die anfänglichen Misserfolge und die kritischen Fragen gingen mir unter die Haut und bald dachte ich selbst: „Bin ich einfach zu jung dafür? Habe ich überhaupt die nötige Erfahrung? Was ist, wenn ich es nicht schaffe?“ und vieles mehr.
Ich habe mir diese Gedanken dann ganz genau angeschaut und neue, wahre, aber konstruktive Gedanken formuliert. Zum Beispiel: „Es ist nicht gesagt, dass du es schaffen wirst. Aber momentan lernst du jeden Tag so viel dazu – das kann dir niemand nehmen, ob es am Ende klappt oder nicht – und falls es nicht funktioniert, kannst du dir jederzeit eine Stelle suchen.“ Oder „Ja, du bist jung und du hast wenig Erfahrung. Das Gute daran ist: Du hast noch keine Familie, die du ernähren musst. Dir reicht ein kleines Studio und du darfst experimentieren. Erfahrung gewinnst du genau dadurch, dass du jetzt dranbleibst.“

Das Angstmonster:
Hey, Ulrike und Fabian – so klappt das doch prima mit uns!Ihr wisst, was Ihr tun könnt, damit ich klein und freundlich bleibe; ich weiß, Ihr hört auf mich, wenn’s nötig ist. Es war echt schön für mich, dass Ihr Euch mal so richtig intensiv mit mir befasst habt …

 

Liebe Frau Légé, lieber Herr Grolimund, liebes Angstmonster - herzlichen Dank für das Gespräch!

 

Alle Illustrationen im Artikel stammen aus dem Buch "Huch, die Angst ist da" und sind von René Amthor.

Ulrike Légé

Warum ist die Welt, warum sind wir, wie wir sind? Spannenden Fragen hinterher zu forschen und darüber zu schreiben, hat Ulrike Légé, geboren 1971, schon als Schülerin geliebt. Um ihre Freude daran zum Beruf zu machen, hat sie an der Universität Hamburg ihr Studium der Biologie und Kommunikationswissenschaft abgeschlossen und mit einem MBA am INSEAD ergänzt. Ulrike arbeitete im Bereich Journalismus, Public Relations, Unternehmensberatung und Marketing. Seit 2014 ist sie freie Autorin und hat sich spezialisiert auf Familienthemen für Printmedien und Blogs.

Fabian Grolimund

Fabian Grolimund, geboren 1978, ist Psychologe und leitet gemeinsam mit Stefanie Rietzler die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Besonders gern setzt er seine Kreativität und Fantasie ein, um etwas Neues entstehen zu lassen: eine spannende Geschichte, einen hilfreichen und praktischen Ratgeber, ein interessantes Seminar oder Kurzfilme für Eltern, Lehrkräfte, Kinder und Jugendliche. Dazu sitzt er am liebsten in einem gemütlichen Café.