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Leistungsträger langfristig ans Unternehmen binden

Von Dr. Alexander Häfner.


Während die Zahl der Arbeitssuchenden in der Hochphase der Corona-Pandemie kontinuierlich anstieg und die Zahl offener Stellen deutlich zurückging, zeigt sich nun seit Monaten wieder ein anderes Bild: die Zahl der Arbeitssuchenden geht zurück und die Zahl offener Stellen nimmt wieder zu. Vor allem Branchen wie Gastronomie, Pflege und IT klagen, dass sie keine oder kaum Bewerbungen für ihre offenen Stellen bekommen. Gleiches gilt im Handwerk und weiten Teilen der Industrie. Auch bei öffentlichen Arbeitgebern, wie der Bundeswehr, ist ein relevanter Anteil an Dienststellen unbesetzt.

Der Langzeittrend am deutschen Arbeitsmarkt ist ungebrochen: seit 2005 hat sich die Zahl der Arbeitssuchenden von ca. 4.9 Millionen auf ca. 2.4 Millionen etwa halbiert (Bundesagentur für Arbeit, 2021). Die Zahl offener Stellen lag im zweiten Quartal 2021 bereits wieder bei 1.17 Millionen (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 2021). Für Unternehmen bedeutet dies, dass sich der Kampf um gute Köpfe weiter verschärft. Fach- und Führungskräfte müssen mühsam gewonnen und dann möglichst lange für das Unternehmen begeistert werden. Ein neuer Arbeitgeber ist oft nur einen Klick weit entfernt. Angesichts dieser Rahmenbedingungen können sich Unternehmen keine hohen Fluktuationsquoten (mehr) leisten.

Eine hohe Fluktuationsquote geht nicht nur mit Kosten für die Nachbesetzung der offenen Stellen und hohem Aufwand für Integration und Einarbeitung der neu eingestellten Mitarbeitenden einher, es sind zudem negative Auswirkungen auf betriebswirtschaftlich hoch relevante Erfolgsfaktoren wie Kundenbindung, Fehlerquote oder Produktivität zu erwarten (z.B. Heavey, Holwerda & Hausknecht, 2013; Knaese & Probst, 2001; Park & Shaw, 2013).

Klar ist: im kommenden Jahrzehnt wird die langfristige Bindung von Leistungsträgern noch viel wichtiger sein, als in den letzten 10 Jahren. Eine gewaltige Herausforderung für Unternehmen, für deren Bewältigung es gute Strategien braucht.
 

Oft unterschätzt: die Bedeutung von besonderen Ereignissen als Auslöser für eine Kündigung

Mitarbeitende kündigen aus ganz unterschiedlichen Gründen. Seit vielen Jahrzehnten werden Ursachen von Fluktuationen beschrieben und erforscht (z.B. March & Simon, 1958), wobei sich die folgenden Faktoren als besonders relevant erwiesen haben (Rubenstein, Eberly, Lee & Mitchell, 2018):

  1. Ein wichtiger Faktor ist die Passung zur Organisation und zur konkreten Stelle. Passen beispielsweise die Interessen, Qualifikationen und Kompetenzen einer Mitarbeiterin zu ihrer konkreten Stelle oder hat sie den Eindruck, dass sie wichtige Kompetenzen nicht einbringen kann und ihr andere Aufgaben mehr Spaß machen würden?
  2. Hohe Relevanz haben auch Anerkennungsformen, die über das normale Gehalt hinausgehen; darunter fallen beispielsweise Weiterbildungs- und Karrieremöglichkeiten.
  3. Ob Beschäftigte über die notwendigen Coping-Strategien verfügen, um mit besonderen Anforderungen bei ihrer Arbeit gut umgehen zu können, ist ebenfalls wichtig für das langfristige Verbleiben in einem Unternehmen.
  4. Schließlich spielen auch verschiedene Zufriedenheitsdimensionen (neben der allgemeinen Arbeitszufriedenheit) eine wichtige Rolle – insbesondere die Zufriedenheit mit der eignen beruflichen Karriere und die allgemeine Lebenszufriedenheit.

Wenn Unternehmen mit ihren Bindungsstrategien in diesen vier Bereichen ansetzen, dann sind positive Effekte auf die Mitarbeiterbindung sehr wahrscheinlich. Dies schließt mit ein, dass sich Unternehmen heute auch Gedanken machen müssen, was sie zur Förderung der allgemeinen Lebenszufriedenheit ihrer Beschäftigten beitragen können. Ein Ansatzpunkt, der möglicherweise noch mehr Aufmerksamkeit verdient.

Was in der Forschung erst später in den Blick genommen wurde und auch in der Praxis leicht übersehen werden kann, ist die Relevanz von Einzelereignissen, die als Auslöser einer Kündigung fungieren (Lee & Mitchell, 1994). Studien zeigen, dass bei 40% bis 60% der Kündigungen besondere Ereignisse als Auslöser fungieren (z.B. Donnelly & Quinn, 2006; Holtom, Mitchell, Lee & Inderrieden, 2005; Morrell, 2005).

Was sind das nun für besondere Ereignisse, die den Fluktuationsprozess in Gang bringen? Es können Ereignisse im privaten (z.B. Trennung vom Partner) oder beruflichen Bereich (z.B. enttäuschte Karrierewünsche) unterschieden werden; ebenso positive (z.B. attraktives Angebot eines Headhunters) und negative (z.B. Kündigungen von geschätzten Kolleginnen und Kollegen) Ereignisse. Um damit umgehen zu können, müssen solche Ereignisse durch Führungskräfte erkannt und dann Möglichkeiten zur Vermeidung der Kündigung ausgelotet werden.

Wichtig für Führungskräfte: feine Antennen für besondere Ereignisse entwickeln

Im Umgang mit solchen Ereignissen kommt den Führungskräften eine besondere Rolle zu. Gerade Teamleiterinnen und Teamleiter, die nah an den Beschäftigten sind, können mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit solche besonderen Ereignisse erkennen. Hierzu einige Impulsfragen für Führungskräfte:

  • Welche potenziell negativen Ereignisse könnten bei meinen Mitarbeitenden im Team zu einer Kündigung führen (z.B. anstehende Veränderungen bei den Arbeitsbedingungen)?
  • Stehen Entscheidungen an, die bei einzelnen Teammitgliedern zu negativen Emotionen führen könnten (z.B. Karriereentscheidungen, Umstrukturierungen)?
  • Welche Ereignisse könnten dazu beitragen, dass Teammitglieder sich unfair behandelt fühlen (z.B. deutliche Unterschiede bei Gehaltssteigerungen, Unterschiede bei der Förderung von Weiterbildungen)?
  • Bei welchen Entscheidungen fühlen sich Teammitglieder möglicherweise nicht hinreichend eingebunden (z.B. Umverteilung von Aufgaben innerhalb eines Teams)?
  • Welche Ereignisse könnten dazu führen, dass der Selbstwert von Teammitgliedern bedroht wird (z.B. öffentliche Kritik in einer Teambesprechung)?
  • Welche positiven Ereignisse könnten zu einer Fluktuation beitragen (z.B. die Entscheidung für ein Vollzeitstudium, Umzug zum Partner)?

Basierend auf diesen Überlegungen können Teamleiterinnen und Teamleiter Maßnahmen ergreifen. Das kann beispielsweise bedeuten, dass sie sich um wertschätzende Führung bemühen, um Abwertungserlebnisse als kritische Ereignisse zu vermeiden. Darüber hinaus können Gespräche mit den Mitarbeitenden sehr wichtig sein, um kritische Ereignisse zu antizipieren. Hierzu ebenfalls einige Anregungen für Fragen, die in Gesprächen gestellt werden können:

  • Was ist dir wichtig, wenn es nun bald zu einer größeren Umstrukturierung der Abteilung kommt?
  • Was darf in unserer Zusammenarbeit nicht passieren?
  • Welche Anliegen und Sorgen hast du mit Blick auf die anstehenden Beförderungen?
  • Welche größeren, privaten Veränderungen stehen bei dir an?
  • Welche Ereignisse bei der Arbeit hast du in letzter Zeit als negativ wahrgenommen? Welche Ereignisse haben dich möglicherweise enttäuscht oder geärgert?

Gute Rahmenbedingungen schaffen: Organisationen so gestalten, dass kritische Ereignisse möglichst selten auftreten

Nicht nur die direkten Führungskräfte können sich darum bemühen, kritische Ereignisse zu erkennen und passende Maßnahmen zu ergreifen. Auch auf organisationaler Ebene kann einiges dafür getan werden, um kritische Ereignisse unwahrscheinlicher zu machen. So kann sich beispielsweise die Geschäftsleitung eines Unternehmens besonders um die Gestaltung von Fairness kümmern. Dazu gehört, dass es für Karriereschritte Entscheidungsprozesse gibt, in denen relevante Kriterien berücksichtigt und Maßnahmen ergriffen werden, um beispielsweise Diskriminierung zu vermeiden. Auch die Frage, wie stark in einer Organisation politische Spiele ausgeprägt sind oder Machtmissbrauch ermöglicht und geduldet wird, spielt für die Vermeidung kritischer Ereignisse eine wesentliche Rolle. Eine Null-Toleranz-Politik bei Übergriffigkeiten durch Führungskräfte (z.B. beleidigende oder anzügliche Äußerungen) wäre ein konkreter Ansatzpunkt.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Unternehmen, denen es nicht gelingt Rahmenbedingungen zu schaffen, die Fluktuationen unwahrscheinlicher machen, in den kommenden 10 Jahren einem starken Druck am Arbeitsmarkt ausgesetzt sein werden. Auf Bewertungsplattformen für Arbeitgeber wird Unzufriedenheit mit Arbeitsbedingungen offen geäußert, Fehlverhalten hoher Führungskräfte wird in Medien maximal transparent gemacht, durch Homeoffice-Möglichkeiten nimmt die Bindung der Beschäftigten an bestimmte Standorte ab – vor diesem Hintergrund wird die Bindung von Leistungsträgern zu einer der wichtigsten Managementaufgaben in Unternehmen.
 

Literatur

Bundesagentur für Arbeit (2021). Registrierte Arbeitslose und Arbeitslosenquote nach Gebietsstand. Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Lange-Reihen/Arbeitsmarkt/lrarb003ga.html
Donnelly, D. P. & Quinn, J. J. (2006). An extension of Lee and Mitchell’s unfolding model of voluntary turnover. Journal of Organizational Behavior, 27(1), 59–77. http://doi.org/10.1002/job.367

Heavey, A. L., Holwerda, J. A. & Hausknecht, J. P. (2013). Causes and consequences of collective turnover: A meta-analytic review. Journal of Applied Psychology, 98(3), 412–453. doi.org/10.1037/a0032380
Holtom, B. C., Mitchell, T. R., Lee, T. W. & Inderrieden, E. J. (2005). Shocks as causes of turnover: What they are and how organizations can manage them. Human Ressource Management, 44(3), 337–352. http://doi.org/10.1002/hrm.20074
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2021). IAB-Stellenerhebung. Verfügbar unter: www.iab.de/de/befragungen/stellenangebot.aspx
Knaese, B. & Probst, G. (2001). Wissensorientiertes Management der Mitarbeiterfluktuation. Zeitschrift Führung und Organisation, 70(1), 35–41.
Lee, T. W. & Mitchell, T. R. (1994). An alternative approach: The unfolding model of voluntary employee turnover. Academy of Management Review, 19(1), 51–89. doi.org/10.2307/258835
March, J. G. & Simon, H. A. (1958). Organizations. New York: Wiley.
Morrell, K. (2005). Towards a typology of nursing turnover: The role of shocks in nurses’ decision to leave. Journal of Advanced Nursing, 49(3), 315–322. http://doi.org/10.1111/j.1365-2648.2004.03290.x
Park, T.-Y. & Shaw, J. D. (2013). Turnover rates and organizational performance: A meta-analysis. Journal of Applied Psychology, 98(2), 268–309. doi.org/10.1037/a0030723
Rubenstein, A. L., Eberly, M. B., Lee, T. W. & Mitchell, T. R. (2018). Surveying the forest: A meta-analysis, moderator investigation, and future-oriented discussion of the antecedents of voluntary employee turnover. Personnel Psychology, 71(1), 23–65. http://doi.org/10.1111/peps.12226

Porträtfoto von Alexander Häfner.

Dr. Alexander Häfner

Dr. Alexander Häfner, geb. 1979. 2000 – 2006 Studium der Psychologie in Würzburg. 2006 – 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. 2012 Promotion. Weiterbildungen als Trainer und Coach. Seit 2012 Leiter Personalentwicklung bei der Würth Industrie Service GmbH & Co. KG. Seit 2014 Mitglied im Vorstand der Sektion Wirtschaftspsychologie des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Arbeitsschwerpunkte: Führungskräfteausbildung, Mitarbeiterbindung, Organisationsentwicklung.

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