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Menschsein im Krisengebiet

Andreas Friedrich Lutz war mit Ärzte ohne Grenzen als Gesundheits- und Krankenpfleger im Südsudan. In unserem Interview berichtet er über seine Erfahrungen und beschreibt, wie der Aufenthalt seinen Blick auf Beruf, Umwelt und Klima geprägt hat.

Herr Lutz, wie kam es zu Ihrer Entscheidung, mit Ärzte ohne Grenzen als Pflegeperson in den Südsudan zu gehen, einem Gebiet, das von jahrzehntelangem Krieg zerrüttet ist, einem Gebiet, das Gefahr bedeutet auch für die Menschen, die dort in der humanitären Hilfe tätig sind?

Die Arbeit in der humanitären Hilfe stellt eine ganz einzigartige Möglichkeit dar, sich als Gesundheits- und Krankenpfleger für Menschen in Not einbringen zu können. Das wollte ich tun, das erschien mir als eine zutiefst sinnerfüllte Tätigkeit.

Hinsichtlich der persönlichen Gefährdungssituation ist es dabei ein großer Unterschied, ob man sich freiwillig für einen begrenzten Zeitraum in einen instabilen Sicherheitskontext begibt, oder ob man dort das gesamte eigene Leben bestreiten muss, wie es die Menschen im Südsudan tun. Im Falle einer ernsten Verschlechterung meines Gesundheitszustandes oder einer Eskalation gewaltsamer Konflikte hätte es die Möglichkeit gegeben, von Ärzte ohne Grenzen evakuiert zu werden. Das gilt für die einheimischen Menschen vor Ort viel weniger.

Gab es so etwas wie einen normalen Arbeitsalltag, einen typischen Tagesablauf?

Ärzte ohne Grenzen betreibt dort ein Krankenhaus in einer sehr ländlichen abgelegenen Region. Für die Menschen im Umkreis von 80 Kilometern ist dies die einzige Möglichkeit, eine stationäre medizinische Gesundheitsversorgung zu erlangen. Ich war dort mit der Leitung des Pflegedienstes betraut, eine sehr abwechslungsreiche Tätigkeit, die ich schnell liebgewonnen habe. Das beinhaltete neben der großen Personalverantwortung für 80 Mitarbeiter*innen aber auch Aufgaben in der direkten Patientenversorgung oder Trainings für das Personal zu organisieren. Es gab einige feste Elemente im Tagesablauf, die morgendliche Patientenübergabe, Visiten oder Meetings, ein Mal pro Woche auch einen nächtlichen Bereitschaftsdienst für Notfälle in der Klinik. Der Fokus der Arbeit richtete sich stets nach den humanitären Bedürfnissen der Menschen vor Ort und dies konnte sich sehr schnell ändern, als etwa verheerende Überflutungen eintraten oder uns die Corona-Pandemie erreichte.

Der Arbeitsalltag in der Pflege ist ohnehin stets abwechslungsreich, das gilt für viele Orte dieser Erde. Wenn man auf der Suche nach einem lebensnotwendigen Tuberkulose-Medikament in der Krankenhausapotheke aber erst einmal einen großgewachsenen Waran mittels Strohbesen zwischen den Regalen herausscheuchen muss, ist einem die Freude eines kurzweiligen Arbeitsalltages dabei stets garantiert (Lutz, 2021).

Sie beschreiben sehr eingängig, wie man einerseits mit verletzten Kindern, mit gefolterten Soldaten, mit jeder Art von Gewalt konfrontiert wird, andererseits auch wieder positive Erlebnisse wie die Geburt von gesunden Kindern erlebt. Wie würden Sie es jetzt aus der Erinnerung beurteilen, wie diese beiden Seiten Sie geprägt haben, wie konnten Sie die Schrecken verarbeiten?

Da haben Sie Recht, es sind sehr vielfältige Eindrücke, die tagtäglich bei der Arbeit in diesem Setting auf einen selbst hereinprasseln. Für mich war es wichtig, stets die Einzigartigkeit der Menschen im Blick zu haben. Wir waren dort, um Menschen in großer Not Zugang zu medizinischer Hilfe zu ermöglichen, da erlebt man natürlich sehr viele Schicksale; schöne Geschichten, wie auch traurige. Ich bin der Überzeugung, dass sich gerade in schwierigen Situationen eine besondere Sinnerfüllung erfahren lässt. Sicherlich lassen sich mit der Arbeit in der medizinischen Nothilfe für die Menschen im Südsudan nicht alle existenziellen Probleme lösen. Aber für den Moment, in dem man dort ist, kann das für viele Menschen in Not einen großen Unterschied ausmachen, oft auch den Unterschied zwischen Überleben und Tod. Sich für Menschen in Not gemeinsam einzusetzen, das hat uns als Team angetrieben, das habe ich als eine unheimlich schöne Erfahrung erlebt.

Während Ihres Aufenthalts im Südsudan breitete sich Corona aus, was bedeutete das für die ohnehin schon schwierige Situation?

Als der erste Corona-Fall im Südsudan nachgewiesen wurde, da gab es im gesamten Südsudan für elf Millionen Menschen gerade einmal vier (!) Beatmungsgeräte. Die Pandemie hat viele andere humanitären Krisen und die ohnehin so prekäre Lage vor Ort weitaus verschärft. Der internationale Handel stand still, wir waren stark vom Import abhängig, um Medikamente und Materialien zu erhalten. Auch ein Lockdown hat für die Bevölkerung viel existenziellere Folgen: Zuhause in der Lehmhütte zu bleiben und sich zu isolieren kommt für niemanden in Frage, wenn es dort bei Temperaturen um 45° C kein Wasser gibt oder die Menschen am Abend das Wenige essen, was sie tagsüber verdienen konnten.

Wie hat sich der Blick auf Ihren Beruf als Gesundheits- und Krankenpfleger durch die Zeit im Südsudan gewandelt?

Für mein Berufsbild als professionell Pflegender was diese Zeit eine sehr bereichernde Erfahrung. Prägend war dabei vor allem, wie Pflege auch in einem völlig anderen kulturellen Kontext und völlig verschiedenen Rahmenbedingungen gelingen kann. Natürlich war auch das gesellschaftliche Verständnis von Pflege und „Care“ ein sehr unterschiedliches im Vergleich zu Europa. Doch egal wo, Pflege beinhaltet im Kern immer das Gestalten einer zwischenmenschlichen Beziehung.

Wenn diese Beziehung gelingt, ist das der beste Weg, um andere Menschen einen selbstbestimmten Umgang mit ihrer Erkrankung zu ermöglichen. Auch wenn 20 Patient*innen und nochmals so viele Angehörige in einem einzigen Patientenzimmer liegen und die drückende Hitze unter dem Wellblechdach steht: die menschlichen Interaktionsformen und die Art und Weise wie Vertrauen entstehen kann, das verhält sich dabei völlig gleich.

Ein Thema, das im Buch immer wieder deutlich wird, sind die Auswirkungen des Klimawandels, die im Südsudan schon deutlich zutage treten und den Alltag der Menschen zusätzlich erschweren. Wie äußert sich das und wie hat das Ihr Bild von der Klimakrise beeinflusst?

Die verheerenden Auswirkungen der Klimakatastrophe erschweren nicht nur den Alltag der Menschen im Südsudan, sondern sind eine existenzielle Bedrohung für das menschliche Leben. Während meiner Zeit im Südsudan zerstörten unsagbare Überflutungen die einfachen Lebensgrundlagen der Menschen, die Malaria grassierte, die Ernten der Bevölkerung wurden zerstört. Monate später verwandelte sich die Landschaft während der Trockenzeit zu einer völlig ausgedörrten, lebensfeindlichen Umgebung. Bei Temperaturen von 45–50° C degenerieren nicht nur die Ackerböden, was die Mangelernährung vieler Menschen weiter verschlimmert. Vielmehr werden unter diesen Bedingungen Punkte erreicht, unter welchen menschliches Leben schlicht nicht möglich ist. Das ist die Realität in einer 1,1–1,2° C wärmeren Welt. Wie soll unser Leben dann auf einer 3,5–4° C heißeren Erde aussehen? Jetzt wo ich das mal selbst erlebt habe, welch ungeheuerlichen Risiken die Klimakatastrophe für menschliche Gesundheit heute schon bedeuten, kann ich Eckhart von Hirschhausen (2021) nur mit äußerster Vehemenz beipflichten, wenn er sagt: „Wir müssen nicht das ‚Klima‘ retten, sondern uns selbst.“

Ich käme als Pflegender nie auf die Idee, eine Notfallsituation zu erkennen und dann nicht entsprechend zu handeln. Aber genau das passiert im Moment in Bezug auf unsere Lebensgrundlagen und das Klima. Entschlossenes Handeln ist überlebensnotwendig, das gilt nicht nur in der humanitären Hilfe (Lutz, 2021), sondern gilt für die Verhaltensweisen von uns allen. Um etwas so Wertvolles wie das Geschenk des eigenen Lebens zu bewahren, lohnt es, sich mit Mut und Entschlossenheit für Veränderungen einzusetzen.

Könnten Sie in einem Satz sagen, was der Einsatz im Südsudan für Sie bedeutet hat?

Angesichts der zutiefst beeindruckenden Erlebnisse dieser Zeit im Südsudan lässt sich das nur schwer in einem Satz sagen, aber deshalb habe ich ja ein ganzes Buch geschrieben.

 

Herr Lutz, herzlichen Dank für das Gespräch!

 

 

Literatur

Hirschhausen, v., E. (2021). Von Hirschhausen: „Wir müssen nicht ‚das Klima‘ retten, sondern uns“. Verfügbar unter
www.rnd.de/wissen/von-hirschhausen-wir-muessen-nicht-das-klima-retten-sondern-uns-W74AQKW2MPSBSTPIUA4VSROOYY.html

Lutz, A. (2021). Menschsein im Krisengebiet. Erfahrungsbericht eines Gesundheits- und Krankenpflegers über die humanitäre Hilfe mit Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Südsudan. (siehe unten)

Andreas Friedrich Lutz

Andreas Friedrich Lutz, geboren 1994, ist durch die Arbeit als Gesundheits- und Krankenpfleger sehr nahe dran am Leben vieler Menschen. Nach dem Staatsexamen begann er 2016 seine berufliche Laufbahn zunächst am Universitätsklinikum für Neurochirurgie in Tübingen, wo er bis zu seinem Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Südsudan tätig ist. Auf einer Reise per Anhalter durch Osteuropa begegnet er eher zufällig großer menschlicher Not in einer Klinik in Odessa, Ukraine. Später sagt er, diese Begegnung hat ihn in Folge dazu bewegt, den Weg mit MSF in die humanitäre Hilfe einzuschlagen. Pflege versteht er auch dabei stets als eine eigenständige Profession, die durch die Begegnungen und die Nähe zu Menschen ein Verständnis vom Menschsein und des Lebens entstehen lässt, gerade und besonders in krisenhaften Situationen wie der Klimakrise oder der Pandemie.

Kontakt:
E-Mail: andreas-friedrich-lutz@t-online.de
www.linkedin.com/in/andreas-friedrich-lutz-829b06212/
Portrait-Interview und weitere Informationen/Videos über den Einsatz im Südsudan:
www.instagram.com/tv/CI07CLgi2Iv/
www.swr.de/heimat/mediathek/unsaegliches-leid-neben-der-schoen_heit-des-lebens-andreas-war-fuer-aerzte-ohne-grenzen-im-suedsudan-104.html
 

Foto: ©Theresa Krampfl

Menschsein im Krisengebiet

Erfahrungsbericht eines Gesundheits- und Krankenpflegers über die humanitäre Hilfe mit Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Südsudan

von Andreas Friedrich Lutz