DeutschMedizin

Mit einem Bein bereits im Himmel

Mit dem Band Mit einem Bein bereits im Himmel schrieb PD Dr. med. habil. Kai-Uwe Kern das erste deutschsprachige Buch zum Thema 'Phantomwahrnehmungen'. Dass diese sehr viel mehr umfassen als die relativ bekannten Phantomschmerzen, welche Rolle das Gehirn und unsere Sinne dabei spielen und was ihn an dem Thema so fesselt, hat der Autor uns in einem Gespräch verraten.

Herr Dr. Kern, Sie haben Ihrer Einleitung den Satz „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle“ von Albert Einstein vorangestellt. Ist die Beschäftigung mit der Welt der Phantomwahrnehmungen und die Arbeit an diesem Buch für Sie positiv gewesen?
Oh ja, absolut. Ungeklärte Dinge und schwer verständliche, aber stattfindende Phänomene erzeugen doch unsere Neugierde und haben eine große Faszination. Wie ich in den ersten Worten ‚Zur Entstehung des Buches‘ darlege, hat mich tatsächlich ein einziges klinisches Ereignis und die Schilderung eines einzigen Patienten dazu gebracht, mich über so viele Jahre mit Phantomen zu befassen. Mein Staunen über all das, was ich dabei erfahren durfte, hat über die Jahre nicht nachgelassen. Und es war letztlich Triebfeder für die Arbeit an diesem Buch. Natürlich ist ein Buch zu schreiben viel Arbeit, kostet viel Zeit und erfordert viel Disziplin. Aber wenn die Faszination groß genug ist, erlebt man es nicht als Last, sondern als das gute Gefühl von Flow und somit als ein Geschenk.


Meist denkt man vor allem an Phantomschmerzen, aber es gibt zahlreiche Phantomempfindungen, welche Unterschiede gibt es hier und wie häufig treten sie auf?
Das ist richtig, Phantomschmerzen sind mit Abstand das bekannteste Phänomen. Aber Phantome können vieles mehr. Sie treten bei ca. 75 % der Amputierten auch einfach als ‚nur wahrgenommenes Phantomgefühl‘ auf, ohne zu schmerzen. Etwa jeder zweite Amputierten kann das wahrgenommene Phantom sogar mental bewegen und bei 25-30% der Betroffenen ‚schrumpft‘ das Phantom sozusagen und zieht den Fuß oder die Hand näher an den Amputationsstumpf heran. Dies nennt man ‚Teleskoping‘. Unsere Fantasie sollte aber gar nicht auf Phantome nach Extremitäten-Amputationen begrenzt bleiben. Unser Gehirn ist in der Lage, Phantomwahrnehmungen nach fast jedem längeren Entzug sensorischer Reize auszubilden, nicht nur aus dem Bewegungsapparat. So gibt es auch visuelle und auditive Phantomwahrnehmungen, ja - sogar Phantomwahrnehmungen falscher Gerüche (Phantosmie) oder das Gefühl dauerhafter Gleichgewichtsstörungen können auftreten. Und nicht zuletzt hinterlässt auch die Entfernung innerer Organe manchmal Phantomwahrnehmungen: Einige Menschen ohne Nieren und Harnblase haben dennoch Harndrang und einige Frauen trotz Entfernung der Gebärmutter weiterhin Periodenschmerzen. Sie sehen also, meine Faszination kann ja überhaupt nicht nachlassen.


Leser*innen der Krimis von Fred Vargas kennen den Nachbarn von Kommissar Adamsberg, der sich noch den Spinnenbiss an seinem amputierten Arm kratzen muss – gibt es solche Phänomene tatsächlich?
Ja, dies gibt es und wie Sie sehen, haben solche Phänomene wegen ihrer Faszination auch Eingang in die Literatur gefunden. Sogenannte ‚Präamputationserinnerungen‘ sind anhaltende vorbestehende Wahrnehmungen einer Extremität auch noch nach einer Amputation. So können mentale Nägel einwachsen, Verletzungen weiterhin wehtun oder, wie im geschilderten Fall, ein Juckreiz im Phantom bestehen bleiben. Nur weiß der Kommissar Adamsberg wahrscheinlich noch nicht, dass er auch den Arm eines Fremden an dieser Stelle hätte mit Erfolg kratzen können, - das Gehirn und seine Phantome sind eben unergründlich.


Welchen Einfluss haben Prothesen auf Phantomempfindungen?
Prothesen und Phantome haben eine sehr enge Beziehung. Das Tragen einer Prothese und ihre funktionelle Nutzung kann durchaus Phantomschmerzen lindern. Hierbei spielt für das Gehirn neben der optischen Ergänzung der Extremität auch eine Verbesserung des sensorischen Inputs eine große Rolle. Umso mehr ist zu erwarten, dass zukünftige Prothesen mit entsprechenden Sensoren auch Phantomschmerzen weiter verbessern können. Umgekehrt scheint aber auch das Vorhandensein von Phantomen und einer möglichst guten Phantommotorik Einfluss auf einen leichteren Umgang mit einer Prothese zu haben.


Seit einigen Jahren kennt man den Begriff der Plastizität des Gehirns. In wieweit spielt dies auch bei Phantomschmerzen eine Rolle?
Die Neuroplastizität beschreibt die Fähigkeit, eines Gehirnes, sich an neue Bedingungen anzupassen. Die ausbleibende Sensorik nach einer Amputation ist für das Gehirn tatsächlich eine Herkulesaufgabe, bei der es bzgl. seiner Anpassung manchmal scheitert. Phantomschmerzen sind die Konsequenz. Da Kinder und Jugendliche eine höhere Plastizität ihres Gehirns aufweisen, ist diese Schmerzart bei Ihnen Gott sei Dank deutlich seltener zu finden.


„Mit einem Bein bereits im Himmel“ ist ein sehr ungewöhnlicher Titel. Haben Sie durch die Beschäftigung mit Phantomphänomenen eine andere Einstellung zum Verhältnis von Körper und Geist und zu nicht auf Anhieb erklärbaren Vorgängen gewonnen?
Ich denke, ich war schon immer recht aufgeschlossen gegenüber jenen Dingen, die wir noch nicht erklären können. Schließlich gab es diese zu jeder Zeit und nur die Neugier hat dazu geführt, dass wir heute vieles erklären können. Als mir aber eine sehr gläubige Betroffene einmal sagte, sie sei ja ‚irgendwie schon mit einem Bein im Himmel‘ habe ich tatsächlich noch mal andere Aspekte hinzugewonnen. Religiöse und philosophische Betrachtungen zu diesem Thema sind mir damals dann näher gerückt. Die Trennung in Körper, Psyche und Geist halte ich zwar für zunächst hilfreich bezüglich Forschung und Wissenschaft, in meinem schmerztherapeutischen Alltag sitzt mir aber immer nur ein einziger Mensch gegenüber. Und der besteht eben nun einmal ‚aus allem‘ und löst somit künstliche Einteilungen einfach auf. Insofern haben für mich Körper und Geist gar kein ‚Verhältnis‘ zueinander, sondern sind in ihrer Gesamtheit ein faszinierendes Gebiet, um weitere Erkenntnisse zu suchen.


Herr PD Dr. med. habil. Kai-Uwe Kern, vielen Dank für das Gespräch!

Video zum Buch

PD Dr. med. habil. Kai-Uwe Kern

PD Dr. med. habil. Kai-Uwe Kern, geb. 1957, ist Facharzt für Anästhesiologie und Allgemeinmedizin, als niedergelassener Schmerztherapeut leitet er eine Schmerzpraxis und das Institut für Schmerzmedizin in Wiesbaden. Außerdem arbeitet er als Hochschullehrer der Klinik für Anästhesiologie zum Thema ‚Chronische Schmerzen‘ an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.