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Orthorektisches Ernährungsverhalten – wenn gesund essen zum Zwang wird

Kann der Wunsch, sich besonders gesund zu ernähren, ein Problem werden? Ja, wenn darunter z.B. Sozialkontakte leiden oder der Zwang, sich „richtig“ zu ernähren, das Leben komplett beeinflusst. Wir haben mit Autorin Friederike Barthels darüber gesprochen, was sich hinter orthorektischem Ernährungsverhalten verbirgt, wer gefährdet ist und ob es sich um ein eigenständiges Störungsbild handeln könnte.

Nur gesunde Lebensmittel werden akribisch aufgeschrieben Orthorexie

Wie kann man orthorektisches Ernährungsverhalten beschreiben und wann und warum überhaupt ist es problematisch?

Unter orthorektischem Ernährungsverhalten versteht man eine Fixierung auf eine besonders gesundheitsbewusste Ernährungsweise. Das Besondere ist, dass die Betroffenen sich nicht unbedingt an allgemeinen Empfehlungen zur gesunden Ernährung orientieren, sondern anhand ganz eigener – teilweise auch sehr extremer – Vorstellungen ihre Ernährungsweise kreieren. Dann kann es dazu kommen, dass die Ernährungsweise letztendlich gar nicht mehr gesund ist. D.h., man hat zwar das Gefühl, etwas besonders Gutes für die Gesundheit zu tun, aber unter Umständen ist eben das Gegenteil der Fall, weil die Ernährung beispielsweise sehr einseitig wird.

Auch auf der psychischen Ebene können sich Einschränkungen zeigen, denn Essen ist ja auch eine soziale Angelegenheit. Wir feiern Feste mit bestimmten Essensritualen oder wir treffen uns mit Familie und Freund*innen zum Essen – wenn man dann sagt: Das möchte ich nicht, da gibt es nur Sachen, die ungesund sind, die will ich nicht essen, dann kann das problematisch sein. Es kann dazu führen, dass man sich eingeschränkt fühlt. Man merkt, ich kann nicht mehr essen gehen, ich werde vielleicht von anderen ausgeschlossen oder komisch beäugt. Und bin dann vielleicht gar nicht mehr so glücklich und zufrieden mit meiner Ernährungsweise.

Seit wann beschäftigt sich die Forschung mit orthorektischem Ernährungsverhalten, ist es ein neues Phänomen?

Steven Bratman und David Knight haben das Phänomen im Jahr 2000 im Buch „Health food junkies: overcoming the obsession with healthful eating“beschrieben und als Orthorexia nervosa benannt, vorher gab es auch schon einen kurzen Artikel zu dem Thema von Bratman. Aber ich habe in eigenen Recherchen in einem ernährungspsychologischen Buch auch eine Beschreibung gefunden von Personen, die man heute durchaus mit dem Begriff „orthorektisch“ bezeichnen könnte. Das Buch wurde von Diedrichsen verfasst und stammt aus dem Jahr 1990. Es ist also gar nicht so einfach zu sagen, wann das orthorektische Ernährungsverhalten das erste Mal in den Blick gekommen ist.

Die Forschung beschäftigt sich noch nicht sehr lange damit, nach dem Erscheinen des Buchs von Bratman und Knight gab es erstmal nur wenige Studien. Erst in den letzten 5 - 7 Jahren wurde die Forschung dazu zahlreicher. Unsere Arbeit und unsere Studien waren einige der ersten, die es dazu gab.

Es ist schwierig zu sagen, ob es sich um ein neues Phänomen handelt. Sicherlich spielt unsere Lebensweise eine Rolle, beispielsweise, dass es in Supermärkten eine Vielzahl von Lebensmitteln aus aller Welt gibt. Das Internet ist eine riesige Quelle von richtigen und falschen Informationen – das gab es ja in der Form vorher nicht. Auch die Lebensmittelskandale der letzten Jahre dürften eine Rolle gespielt haben, verunreinigte Lebensmittel, Krankheitserreger - die Menschen sind ängstlicher und skeptischer geworden.

Wie kann man es z.B. mit der Anorexia nervosa, der Magersucht, vergleichen, bzw. wie sind die Unterschiede?

Es gibt einige Überschneidungen, z.B. wenn man bedenkt, dass gesunde Lebensmittel meistens auch kalorienarme Lebensmittel sind, es ist daher manchmal schwer auseinanderzuhalten, was das eigentliche Motiv hinter dem Essverhalten ist. Auch Personen, die eher ein orthorektisches Ernährungsverhalten zeigen, haben teilweise Bestrebungen, schlank zu sein, weil ein höheres Körpergewicht häufig mit verschiedenen Krankheiten assoziiert ist und deshalb als ungesund gilt.
Es gibt eine theoretische Unterscheidung, die logisch ist: Bei der Anorexie geht es um die Menge, um die Quantität und bei der Orthorexie geht es um die Qualität, die Art der Lebensmittel. Aber in der Praxis gibt es viele Überschneidungen, die wir im Buch aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Das ist auch einer der Gründe, warum die Orthorexie nicht als eigenständiges Störungsbild anerkannt ist.

Die Empfehlungen für gesunde Ernährung sind national unterschiedlich und es werden teils sich widersprechende Studien veröffentlicht. Ist diese Unsicherheit auch eine Gefahr, was die Entwicklung von Essstörungen angeht?

Für die Forschung ist es schwierig herauszufinden, was gesunde Ernährung ausmacht, denn viele andere Faktoren – Umwelt, Sport, bestehende Krankheiten usw. – spielen mit hinein. Dass es Unterschiede zwischen Ländern gibt, hat natürlich auch verschiedene Ursachen: Kulturelle Hintergründe oder welche Lebensmittel in welchen Ländern verfügbar, regional anbaubar oder besonders günstig sind z. B..

Es ist nachvollziehbar, dass Menschen in einer schwierigen Lebensphase verunsichert sind, was gesunde Ernährung und richtiges Essverhalten angeht. Z.B. junge Menschen, die von zu Hause ausziehen und sich das erste Mal selbst ums Essen und Kochen kümmern müssen.

Ich denke schon, dass es schwierig sein kann, für sich einen Weg zu finden, aber ich würde immer dafür plädieren, sich an den Empfehlungen im eigenen Land zu orientieren. Hier gibt es in der Regel nationale Studien, die Hinweise geben, welche Ernährungsweise für die jeweilige Bevölkerung sinnvoll ist.

Man kennt im Fall der Anorexia nervosa das Phänomen, dass sich Betroffene z.B. in Internet-Foren austauschen, gibt es ähnliche Phänomene auch beim orthorektischen Ernährungsverhalten? Welche Rolle spielen die sozialen Medien?

Ich denke, dass die Heterogenität der Orthorexie dazu führt, dass es hier eher nichts Vergleichbares gibt. Für junge Frauen mit Anorexie, die sich in solchen Foren aufhalten, ist das Abnehmen wie eine gemeinsame Challenge. Bei der Anorexie ist es leicht, sich auf den gemeinsamen Nenner, das Abnehmen, zu fokussieren oder zu einigen, aber das haben wir bei der Orthorexie in der Form nicht. Es gibt viele sehr individuelle Ernährungsmodelle und eben keine eindeutige Richtung, es könnte höchstens in Foren Grundsatzdiskussionen geben, welche Ernährungsweise die richtige ist, aber da würde es wahrscheinlich kaum keine Einigung geben.

Gibt es Erkenntnisse darüber, welche Risikofaktoren es gibt? Wer ist gefährdet, ein orthorektisches Ernährungsverhalten zu entwickeln?

Leider fehlen zum Thema insbesondere Längsschnittstudien, so dass man sagen muss, dass die Studienlage hier noch nicht eindeutig ist. Es gibt zwar Hinweise, dass Frauen gefährdeter sind, aber man hat bislang keinen eindeutigen Geschlechterunterschied bei der Orthorexie festgestellt.

Was man aus verschiedenen Fallbeispielen und eher theoretischen Überlegungen ableiten kann, ist, dass Lebensphasen, in denen man sich im Umbruch oder sehr im Stress befindet, orthorektisches Ernährungsverhalten begünstigen können. Weil das eigene Ernährungsverhalten etwas ist, was ich zu jederzeit für mich ganz allein kontrollieren kann. Ernährung ist daher für manche ein mächtiges Tool, um Stress zu regulieren und das Gefühl zu bekommen: Ich habe Dinge im Griff, was sicherlich auch ein bedeutender Mechanismus bei der Anorexie ist.

Ein weiterer Punkt, den man als Entstehungsfaktor bezeichnen kann, ist die Angst vor Krankheiten. Menschen, die ausgeprägte Angst vor Krankheiten haben, haben oft höhere Orthorexie-Werte, weil sie versuchen, mit der Ernährung vorzubeugen. Was ja auch möglich ist, aber nicht in dem Maße, wie es sich Menschen mit orthorektischen Verhaltensweisen vorstellen.

Es ist noch unklar, ob es sich beim orthorektischen Ernährungsverhalten um ein eigenständiges Störungsbild handelt. Sie forschen schon lange zum Thema – wie würden Sie es aus Ihrer Sicht einschätzen?

Das ist eine sehr schwierige Frage, denn es hat Vor- und Nachteile, wenn psychische Phänomene als Störungsbild definiert werden. Einerseits könnte es sinnvoll sein, weil Betroffene leichter Hilfe bekommen können. Weil Therapeut*innen dann mehr Informationen zur Verfügung haben, um den Menschen zu helfen. Auf der anderen Seite muss man aufpassen, dass nicht jede besondere Verhaltensweise als psychische Störung deklariert wird. Es müssen mehr Faktoren hinzukommen, es muss beispielsweise Leidensdruck hervorrufen. Das war aber auch in unseren Studien nicht immer der Fall. Es gab Menschen, die gelitten haben, die einzelne Aspekte beschrieben haben, die im Alltag schwierig waren oder zu Konflikten mit Familie oder Freund*innen geführt haben. Aber es gab auch Betroffene, die vollkommen glücklich und zufrieden waren mit ihrem Verhalten.

Ich würde mir wünschen, dass die Orthorexie mehr Berücksichtigung findet und bekannter wird. Ich glaube, es wäre schon mal ein erster Schritt, wenn mehr Informationen darüber sammelt und Fachkräften zur Verfügung gestellt werden. Beispielsweise wäre es sinnvoll, im Rahmen einer Anorexie-Diagnose abzuklären, inwieweit orthorektisches Ernährungsverhalten eine Rolle spielt.
Auch wenn sie bislang nicht als eigenständige Störung in ICD oder DSM steht, wäre es gut, wenn die Orthorexie im Sichtfeld bleibt, beispielsweise als Forschungsdiagnose in der Diskussion. Dann kann die weitere Entwicklung beobachtet werden.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Dr. Friederike Barthels

Dr. Friederike Barthels, geb. 1986. 2005-2010 Studium der Psychologie in Düsseldorf. 2010 -2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Klinische Psychologie des Instituts für Experimentelle Psychologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Orthorektisches Ernährungsverhalten und psychische Grundbedürfnisse. 2014: Promotion. Seit 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung IFT-Nord, Kiel.

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