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Psychiatrische Pflege – das aktuelle Standardwerk

Das „Lehrbuch Psychiatrische Pflege“ ist seit Jahrzehnten ein Standardwerk. Nun wurde es vollständig überarbeitet und aktualisiert und liegt in der 4. Auflage vor. Was hat sich verändert in den 25 Jahren seit der Erstauflage? Welche Schwerpunkte wurden anders gesetzt und warum lohnt es sich, diesen Berufszweig zu wählen? Wir haben mit Dorothea Sauter und Ian Needham aus dem Herausgeber*innenkreis gesprochen.

Der Ursprung dieses Standardwerks liegt etwa 25 Jahre zurück – eine lange Zeit. Wenn wir mit der vorherigen Auflage vergleichen und mit der 1. Ausgabe, was sind die größten Veränderungen in Ihren Augen?

Wir hatten uns in der Tat vor einem Vierteljahrhundert, 1998, zum ersten Mal im Herausgeberteam getroffen. Die Veränderungen in diesem Zeitraum sind immens und betreffen sowohl die psychiatrische Versorgung als auch die Pflegeprofession und damit verbunden die Ansprüche an ein Lehrbuch.

Zur Versorgung: wir hatten von Anfang an den Anspruch gut zu vermitteln, wie psychiatrisch Pflegende auf Augenhöhe und auf Basis eines authentischen Beziehungsangebots alltagsnahe, ermutigende und befähigende Begleitung anbieten können. Wir hatten jetzt die schöne Entwicklung, dass die Patientinnen und Patienten viel selbstbewusster und kundiger ihr Leben in die Hand nehmen und sowohl ihre Lebensziele als auch ihre Anforderungen an die Professionell Helfenden klarer benennen. Durch die Recoverybewegung und die Zusammenarbeit mit Peers konnten wir alle sehr viel dazulernen. Und jede unserer Neuauflagen spiegelt diese Entwicklung und betont stärker die konsequente Orientierung an den Zielen, Hoffnungen und Stärken der Patientinnen und Patienten. 

Auch die Professionalisierung der Pflege schreitet voran, was dringlich geboten war und ist. Der Anspruch lautet, dass die Hilfeangebote wissenschaftlich gut geklärt und fundiert sind, dass man das eigene Handeln gut begründen kann. Das Fachwissen wächst in immer schnellerem Tempo an, das will in einem Lehrbuch abgebildet sein. Zeichen für diesen Prozess sind neben dem deutlich erweiterten Gesamtumfang des Lehrbuchs und der starken Erweiterung der Teams der Autorinnen und Autoren auch die weitaus längeren Quellenverzeichnisse am Ende jeden Kapitels.

Sprechen wir ein wenig über das „Making of“ der Neuauflage. Wie lange wurde daran gearbeitet? Viele Autor*innen sind dazu gekommen, wie schwierig war die Koordination der vielen Mitarbeitenden?

Ja, es sind jetzt 70 Autorinnen und Autoren, welche die 79 Kapitel geschrieben haben; alles Expertinnen und Experten für ihr Thema. In der ersten Auflage hatten wir Herausgebenden 60 von 67 Kapiteln selbst geschrieben – da gab es entsprechend weniger an unterschiedlichen Arbeitsweisen und Schreibstilen aufeinander abzustimmen. Wir haben sechs Jahre an dieser Neuauflage gearbeitet – genauso lange, wie wir an der ersten Auflage gearbeitet hatten. Natürlich erfordert die Koordination viel Kommunikation, und häufig mussten an sich gute Texte nur deshalb zur neu bearbeitet werden, weil sich beispielsweise Inhalte mit anderen schon vorliegenden Kapiteln doppelten. Wir möchten dabei betonen, dass die Zusammenarbeit mit den vielen Autorinnen und Autoren nicht nur das Buch, sondern auch uns Herausgebende sehr bereichert hat. Wir konnten nicht nur durch die Fülle an Fachkompetenz, sondern eben auch durch die vielen Persönlichkeiten viel Lernen.

Aber wir müssen sagen, dass wir Chris Abderhalden sehr vermissen. Wir hatten im Herausgeberteam eine genussvolle Zusammenarbeit und sein Tod hat uns zunächst gelähmt.

Ist das „Lehrbuch Psychiatrische Pflege“ auch für andere Pflegefachpersonen geeignet?

Unser Buch behandelt den Umgang mit psychosozialen Fragen und Problemen. Psychosoziale Pflegebedarfe gibt es in jedem Handlungsfeld beruflicher Pflege. Wir befassen uns mit Einsamkeit, mit Wohlbefinden, mit Trauer, mit Krisenbewältigung, mit Angst ... alles Themen, die im Zusammenhang mit somatischer Krankheit oder mit anderen Lebensumbrüchen oder mit dem Angewiesensein an sich häufig vorkommen. Wir hoffen sehr, dass dieses Lehrbuch von vielen Pflegefachpersonen entdeckt wird, die in nicht-psychiatrischen Handlungsfeldern tätig sind.

Wir wollen sogar noch weitergehen und sagen, dass auch Nicht-Pflegende Fachpersonen unterschiedlicher Berufsgruppen von unserm Buch sehr profitieren können, wenn Sie Menschen in psychosozialen Krisen bzw. Veränderungsprozessen begleiten. Wir vermitteln psychosoziale Kompetenzen, um den Bedürfnissen dieser Personen gut gerecht zu werden. Das tun auch andere und es gibt oft hohe Schnittmengen zwischen den handelnden Berufsgruppen.

Gerade in den letzten Jahren mit den Erfahrungen von Flucht, Pandemie, Krieg, gab es viele Anlässe für psychische Erschütterungen. Hat sich dadurch etwas im Pflegeprozess, im Pflegealltag geändert und hat es sich im Buch niedergeschlagen?

Wir leben in herausfordernden Zeiten und viele von uns fühlen sich vermutlich bedrohter oder verunsicherter als noch vor wenigen Jahren. Die Pandemie ist eine neue Erfahrung, die Sorgen um das Klima oder um die Bedrohung demokratischer Gesellschaften haben neue Dimensionen bekommen. Wo es relevant ist, sprechen wir im Lehrbuch diese jüngeren Prozesse an. Doch die damit verbundenen Themen wie beispielsweise Angst, Traumaerlebnisse, Ungewissheit, Migrationserfahrung, Vulnerabilität, Krisen (oder auch: Hoffnung, Bewältigung, Autonomie, Ressourcenförderung u.a.) gehören immer schon zu den Erfahrungen der Menschen. Das Lehrbuch bearbeitet den Umgang mit diesen Themen. Es ist dabei meist zweitrangig, ob eine Krise nun durch eine Krankheit oder durch gesellschaftliche Umbrüche verursacht wird.

Übrigens könnten weitere Probleme uns in den nächsten Jahren beschäftigen: der Fachpersonenmangel, die zunehmende Kosten – und folglich Sparbemühungen – im Gesundheitswesen. Alle diese Herausforderungen zeigen, wie wichtig ein beherzter und zielgerichteter Umgang mit den vielfältigen Problemen bleiben wird.

Mit all Ihrem Erfahrungsschatz – warum sollte man das Berufsfeld „Psychiatrische Pflege“ wählen?

Über diese schöne Frage freuen wir uns natürlich.
Wir halten Pflege immer noch für den vielseitigsten, spannendsten und schönsten Beruf, den wir uns vorstellen können. In besonderer Weise ist unser Handeln geprägt von Begegnung, Nähe, Authentizität. Wir begleiten in Krisen und bei Herausforderungen, und wir lernen von den Menschen, die wir unterstützen dürfen – und erleben spannende und sehr berührende Geschichten und Prozesse. Und gerade in psychiatrischen Arbeitsfeldern sind die Themen sehr persönlich und gleichzeitig gesellschaftlich und politisch relevant.

Aber es gibt noch einen weiteren, genauso starken Grund: unter den verschiedenen Berufsgruppen, die sich um Menschen mit psychosozialen Problemen und Herausforderungen kümmern, macht die Pflege ein sehr breites, besonderes und bedeutungsvolles Hilfeangebot – vielleicht das breiteste, besonderste und für viele Nutzende auch bedeutungsvollste. Breit ist unser Hilfeangebot, weil die Themen, um die Pflegefachpersonen sich kümmern und die Art der Hilfen sehr vielseitig sind. Besonders ist es, weil wir alltagsnah Unterstützung und Begleitung und Befähigung bieten, damit der Hilfeempfänger seinen Weg gehen kann; und bedeutungsvoll ist unser Handeln, weil gerade die niedrigschwelligen, beziehungsorientierten, bei Bedarf nachgehenden, bei Bedarf hochfrequenten oder zeitintensiven Hilfen für die Nutzenden sehr wichtig und oft entscheidend für deren Lebensqualität sind. Pflege hat sehr viel Grund, sehr stolz zu sein.

Dorothea Sauter

Dorothea Sauter, MSc., Jg. 1961, Krankenpflegeausbildung 1978–1981. Weiterbildung zur Pflegedienstleiterin 1993–1995, BA-Studium Psychiatrische Pflege (Fachhochschule der Diakonie Bielefeld), 2011–2014, Studium Gesundheits- und Pflegewissenschaften (Martin-Luther-Universität Halle) 2014–2017. Tätig als Leiterin Pflegeentwicklung in der LWL-Klinik Münster. Langjährig berufserfahren als Pflegefachperson, als Pflegedienstleiterin und als Projektbeauftragte in unterschiedlichen psychiatrischen Settings. Lehrende (u. a. in den Studiengängen Psychiatrische Pflege und Community Mental Health an der Fachhochschule der Diakonie), Mitarbeit in Forschungsprojekten, freiberufliche Referentin und Expertin. Gründungsmitglied und seit 2018 Präsidentin der Deutschen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege (DFPP e.V). Mitherausgeberin der Zeitschrift „Psychiatrische Pflege“.
 

Dr. Ian Needham

Dr. Ian Needham, Jg 1953, 1977 Diplom in psychiatrischer Pflege und Anstellung in der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Wil als Psychiatriepfleger und später als Stationsleiter. 1982–1983 Ausbildung zum Lehrer für Pflege mit anschließender Tätigkeit als Weiterbildner und Lehrer. 1992–1994 Ausbildung zum Pflegeexperten höhere Fachausbildung Niveau II (HöFa-II) in Aarau, Schweiz. 1995–2003 Anstellung als Pflegeexperte in der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Wil. 1996–1999 Hauptstudium in Pflegewissenschaft an der Rijksuniversität, Maastricht und am Weiterbildungszentrum für Gesundheitsberufe SRK (WE’G), Aarau, Schweiz. 2003–2006 Leiter des Forschungs- und Dienstleistungszentrums an der Hochschule für Gesundheit in Fribourg, Schweiz. Promotion 2004 an der Rijksuniversität, Maastricht. 2006–2008 Leiter Forschung am Institut für Angewandte Pflegewissenschaft, Fachhochschule St. Gallen. 2008–2011 Anstellung als Pflegeexperte am Psychiatriezentrum Rheinau. 2011 Master-Diplom in forensischer Rechtspsychologie an der Universität Leicester. 2011–2017 Gastprofessur am institut universitaire de formation et de recherche en soins (IUFRS) der Universität Lausanne. Seit Januar 2011 Anstellung an der Psychiatrie St.Gallen Nord, als Leiter Research Pflege und derzeit als Ausbildner Pflege.

Empfehlung des Verlags

Lehrbuch Psychiatrische Pflege herausgegeben von Dorothea Sauter, Christoph Abderhalden, Ian Needham, Stephan Wolff

 

 

 

 

Zeitschrift Psychiatrische Pflege

Die Psychiatrische Pflege widmet sich der fachlichen Weiterentwicklung der verschiedensten Handlungsfelder von Pflegenden in der Psychiatrie. Die Inhalte sind stark auf die Pflegepraxis bezogen. Aktuelle und bestmögliche Methoden werden dargestellt und unterstützen die fachlich fundierte Pflege und deren Weiterentwicklung.