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Psychische Gesundheit: Ältere Menschen und die Corona-Krise

Das Bedürfnis nach sozialem Kontakt, nach Austausch und Zugehörigkeit zu einer Gruppe gehört zu den Grundbedürfnissen menschlichen Lebens. Und während viele Menschen in normalen Zeiten eine ausgewogene Balance zwischen „alleine“ und „in Gemeinschaft“ sein anstreben, schliessen sich die meisten Menschen in Krisensituationen sofort mit anderen Menschen zusammen, bilden Gruppen und tauschen sich vermehrt aus. Wieso ist das so?

Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen. (Aristoteles)

Die Theorie des sozialen Vergleiches (Festinger, 1954; nach Jonas, Stroebe & Hewstone, 2014) geht davon aus, dass dieses Verhalten auf dem Bedürfnis beruht, sich mit anderen vergleichen zu können und damit mehr über die eigenen Gefühle und deren Angemessenheit zu erfahren. So erhält man schnell Informationen über die wirksamsten Verhaltensweisen in einer neuartigen Situation. Aus Evolutionsperspektive macht dies Sinn, denn die Überlebenschancen stiegen seit jeher deutlich, wenn man nicht alleine, sondern als Teil einer Gruppe gegen Feinde oder für Nahrung und Schutz kämpfte.

Warum Menschen sich in Krisenzeiten zusammenschließen

In ähnlicher Weise schliessen sich Menschen noch heute ganz automatisch in Stress- und Belastungssituationen zusammen. Auch die Bindungstheorie (Bowlby, 1961; nach Jonas et al., 2014) geht davon aus, dass Menschen in bedrohlichen Situationen Nähe und Schutz suchen, um emotionale Unterstützung, Beruhigung und Trost zu erfahren. Die Argumentationslinie ist ähnlich: Evolutionstheoretisch wurden soziale Herdentiere und Neugeborene mit Bindungssystem stets begünstigt und zeigten deutlich bessere Überlebenschancen als Einzelkämpfer. Affiliation – die Suche nach Nähe und Kontakt – ist entsprechend eine angeborene Verhaltenstendenz, die bereits bei Säuglingen als Reaktion auf Gefahrensignale erkennbar ist und sich im Verlauf des Lebens besonders in schwierigen und unsicheren Situationen deutlich zeigt.

Der Coronavirus verlangt uns ein kontraintuitives Verhalten ab

Eine solche schwierige und unsichere Zeit haben wir jetzt. Dennoch müssen wir uns kontraintuitiv verhalten und Distanz wahren – so viel wie irgend möglich. Droht uns bald ein kollektiver Nervenzusammenbruch, weil wir uns nicht mehr nahe kommen dürfen? Auf den ersten Blick scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Dank der Digitalisierung vernetzen wir uns über die sozialen Medien, erfinden humorvolle, spannende und intelligente Denkanstösse zum gegenseitigen Zeitvertreib und Unterhaltung und bleiben per Videochat, digitalem Quartiernetzwerk und Nachbarschafts-Chat in Kontakt – mit physischem Abstand, aber man gewinnt den Eindruck, nicht unbedingt distanzierter, sondern näher.

Auswirkungen auf die ältere, vulnerable Bevölkerung

Gerade Hochbetagte sollten sich besonders vorsichtig verhalten und auf jeden vermeidbaren Kontakt verzichten. Jüngst hat die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich alle Alters- und Pflegeheime zusätzlich zu den vom BAG verordneten Massnahmen angewiesen, allen Heimbewohner*innen nicht nur Besuche sondern auch das Verlassen der Gebäude zu verbieten. Die vollständige Isolation soll Ansteckungen verhindern und die Pandemie eindämmen, dies vor allem, um die Intensivstationen in den Spitälern nicht zu überlasten.

Wenig digitale Vernetzung

Gleichzeitig sind Hochbetagte mehrheitlich nur wenig digital vernetzt und profitieren entsprechend höchstens geringfügig von den Solidaritätsaktionen in den sozialen Netzwerken. Entsprechend erleben gerade sie, die potentiell am stärksten davon profitieren würden, zu wenig von der neu entstandenen, digital aufbereiteten Solidarität in Form von Nachbarschaftschats, Freiwilligenaustausch und humorvoll aufbereitetem Zeitvertrieb zur Überwindung der Krise.

Die soziale Einsamkeit, die nicht wenige ältere Menschen in ihrem Alltag bereits in normalen Zeiten erleben, wird durch die Krise drastisch verschärft. Zusätzlich zum psychologischen Bedürfnis nach sozialer Verbundenheit, welches durch die verordneten Massnahmen deutlich beeinträchtigt wird, sehen wir nämlich weitere psychologische Schlüsselbedürfnisse, die im Alltagsleben der älteren Bevölkerung stark tangiert werden: Das Bedürfnis nach Kompetenzerleben und das Bedürfnis nach Autonomie. So erleben sich viele Menschen nicht mehr als selbständig Agierende, sondern als fremdgesteuert, fühlen sich in ihren Handlungsspielräumen eingeschränkt und es fehlt ihnen der Spielraum, sich dort zu betätigen, wo sie Freude und Lust empfinden. Die Erfüllung dieser Bedürfnisse wird in der aktuellen Krise bei Menschen aller Altersgruppen eingeschränkt, scheint aber bei der vulnerablen älteren Bevölkerungsgruppe eine besondere Problematik zu sein, da dieser Gruppe wesentliche Instrumente zur Bewahrung von möglichst viel Handlungsspielraum und Selbständigkeit schlichtweg nicht zur Verfügung steht.

Eingeschränktes Hör- und Sehvermögen erschwert Videochats

So können ältere Heimbewohner*innen kaum Dinge online konsumieren, ebenso fehlt ihnen oft die Möglichkeit per Videochat mit ihren Angehörigen in Kontakt bleiben. Das Hör- und Sehvermögen und die erschwerte Kommunikation über diese Kanäle (z.B. verzerrte Stimme, Tonverzögerungen etc.) verunmöglichen häufig bereits einen einfachen Austausch. Besuchsverbote und Ausgangssperren bei Alters- und Pflegeheimen führen dazu, dass Hochbetagte kaum nach draussen kommen und wenig bis keine Kontakte pflegen können.

Entsprechend ist zu erwarten, dass die Sorgen rund um das Coronavirus, die physischen und psychischen Gesundheitsfolgen und die Konsequenzen hinsichtlich sozialer Vernetzung und Eingebundenheit in dieser Altersgruppe besonders ausgeprägt sind. Gleichzeitig kann die ältere Bevölkerung auf einen breiten Lebenserfahrungsschatz zurückgreifen und hat wahrscheinlich schon herausfordernde Zeiten erlebt. Die Erfahrung über eine erfolgreich bestandene Krise und die dabei eingesetzten persönliche Bewältigungsstrategien und Ressourcen können in der aktuellen Krise hilfreich sein. Gleichzeitig berichten viele, auch ältere Menschen, dass die aktuelle Situation auch für sie eine gänzlich neue Erfahrung darstellt, die alles übersteigt, was sie in ihrem Leben erfahren haben.

Lesen Sie ein Interview aus dem Pflegealltag. Sabine Millius, unsere Interviewpartnerin, ist Pflegefachfrau BScN/ MAS Palliative Care. Sie arbeitet als Dozentin für Palliative Care und als Projektmitarbeiterin am Institut Neumünster im Bereich soziale Einsamkeit. Zudem arbeitet sie in Teilzeit als Pflegefachfrau bei der Spitex in Zollikerberg.

Fazit

In Zeiten der Corona-Krise stellen wir fest, dass eine ausserordentlich starke Solidarität zu vermerken ist und viele Menschen zusammenrücken, obwohl sie zu physischem Abstand gezwungen werden. Die Einschränkungen des öffentlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Lebens sind historisch unvergleichbar – dies zum Schutz der vulnerablen Personen in der Schweiz. Dass die allergrösste Mehrheit der Bevölkerung kooperativ ist und die drastischen Alltagskonsequenzen mittragen, ist nicht selbstverständlich und macht deutlich, wie gut unser soziales System im Kern funktioniert, wenn es ernst wird.

Nur ein Wermutstropfen bleibt. Während nun die Solidarität beschworen wird, möchten wir daran erinnern, dass die soziale Einsamkeit, die die meisten von uns nun erstmals im Leben am eigenen Leib erfahren, für viele ältere Menschen in ihren Ein-Personen-Haushaltungen oder in ihrem Pflegeheimzimmer schon lange vor der Corona-Krise eine schmerzliche, bestens bekannte Realität ist. Besuche sind für einige Hochbetagte rar, der Alltag oft wenig strukturiert und es gibt nur wenige Menschen, die Zeit haben für ein echtes Gespräch.

Vielleicht kann die aktuelle Krise dazu beitragen, dass wir besser verstehen, wie einsam sich manche Menschen fühlen können. Nicht über Wochen, sondern über Monate, Jahre, ja bis in den Tod.

Möge die Entschleunigung, ausgelöst durch die Corona-Pandemie, dazu beitragen, dass wir achtsamer im Umgang miteinander werden, dass wir echte Solidarität leben und uns sozial nachhaltig verhalten, nicht nur während dieser Ausnahmesituation. Mögen wir an die vielen stillen Helfer denken, die keinen Applaus bekommen, aber seit Jahren im Alltag dazu beitragen, dass auch in normalen Zeiten viele leidende Personen Unterstützung bekommen. Möge ein Netzwerk an Solidarität auch nach dieser Krise bestehen.

Empfehlungen zur Unterstützung der älteren Bevölkerung

Ansprechpartner sein

  • Pflegen Sie einen vertrauensvollen Umgang mit den betreuten Personen und achten Sie besonders in der Krisenzeit auf die Bedürfnisse der Personen. Kontaktieren Sie entsprechende Stellen bei Bedarf.

Bewegung in den Tagesablauf einbauen

  • Bewegung ist wesentlich für die psychische Gesundheit. Fördern Sie ältere Personen dabei, täglich an die frische Luft zu gehen, natürlich mit dem nötigen Abstand zu anderen Menschen und Vermeidung von potenziell gefährlichen Orten wie der Supermarkt.

In Absprache mit Arzt oder Physiotherapeut überlegen Sie, wie sich die ältere Person in den vier Wänden bewegen kann. Gymnastik oder Yogaübungen zugeschnitten für die ältere Bevölkerung könnten Optionen sein.

Soziale Kontakte & Austausch pflegen

  • Fördern Sie die ältere Bevölkerung dabei, den Kontakt mit dem sozialen Netz telefonisch zu halten.

  • Zeigen Sie der betreuten Person neue, vielleicht bisher unbekannte Kommunikationsmittel (Videochat, Skype). Organisieren Sie ein online Mittagessen oder Nachmittagskaffee-Kuchen mit Angehörigen, Freunden oder Bekannten.

  • Fragen Sie nach, wie Freunden der Betreuten die Zeit in der Krise verbringen – gibt es neue Tätigkeiten, die die betreute Person auch probieren möchte?

Erleben von Autonomie und Kompetenz ermöglichen

  • Wenn Sie mit der betreuten Person ins Gespräch kommen, erkundigen Sie sich, bei welchen Tätigkeiten sie Autonomie & Kompetenz im Alltag erlebt. Unterstützen Sie die ältere Person dabei, diese Tätigkeiten weiterhin auszuführen. Falls die Tätigkeit im Moment aufgrund der Einschränkungen nicht ausführbar ist, überlegen Sie sich, wie es angepasst zur neuen Situation werden kann. Hier einige Beispiele: Malen, Zeichnen, Basteln, Sudoku spielen, Mandala ausmalen, Rätsel lösen, Autobiographisches Schreiben

Jeden Tag schöne Dinge geniessen

  • Auch in Krisensituationen können wir angenehme Tätigkeiten im Alltag geniessen. Achten Sie darauf, dass die von Ihnen betreute ältere Person jeden Tag etwas Angenehmes zu erleben hat. Hier einige Beispiele dazu: ein Hobby nachgehen (Fotografieren, Pflanzen züchten, töpfern, ein Musikinstrument spielen, singen), Kultur erleben (ein Buch lesen, eine Fremdsprache lernen), oder Naturerlebnis (in der Sonne sitzen, eine schöne Aussicht geniessen, Tiere beobachten, Sonnenaufgang-/Untergang oder Wolken beobachten)

Ängste und Sorgen ernst nehmen

  • Die aktuelle Krisensituation beeinflusst das Leben von allen. Sprechen Sie über Ängste und Sorgen ehrlich, zeigen Sie Interesse an den Gefühlen des Gegenübers.

  • Falls Sie die Situation so einschätzen, dass die betreute Person psychologische Fachhilfe benötigt, unterstützen Sie sie darin, Hilfe zu holen und akzeptieren.

Literatur

Andrea Grünenfelder

Dr. phil. Andrea Grünenfelder ist Psychologin und arbeitet in der Stiftung Diakoniewerk Neumünster, beim Institut Neumünster und bei der Abteilung Personal- und Organisationsentwicklung.

Laura Kopacsi

Laura Kopacsi (M.Sc. UZH) ist Psychologin und arbeitet in der Stiftung Diakoniewerk Neumünster, beim Institut Neumünster und bei der Abteilung Personal- und Organisationsentwicklung.

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