DeutschPflege und Health professionals

Psychopharmaka und Pflege

Thomas Hax-Schoppenhorst im Gespräch mit Hilde Schädle-Deininger und Christoph Müller

Das „Praxisbuch Psychopharmaka und Pflege“, das Hilde Schädle-Deininger und Christoph Müller herausgegeben haben, ist ein weiterer Diskussionsbeitrag in der mehr als notwendigen Auseinandersetzung mit einem schwierigen Thema. Thomas Hax-Schoppenhorst hat das Gespräch mit den beiden psychiatrischen Pflegefachpersonen gesucht.

Pfllge und Psychopharmaka - eine Hand mit Pillen

Die Herausgeberschaft eines derart umfangreichen Buches, das zudem noch ein kontrovers diskutiertes Thema aufgreift, setzt einen langen Atem und eine hohe Motivation voraus. Wie gelang es, das gesteckte Ziel zu erreichen?

Die Anregung kam aus der Beteiligung an Gremien, die sich mit dem Thema befassen, auf der Basis von Diskussionen in Verbänden wie der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e. V. (DGSP) und aus dem eigenen Erleben, dass im Alltag häufig weniger über das Thema nachgedacht und sich ein eigenes Bild gemacht wird. Zuversichtlich konnte das Vorhaben angegangen werden, weil es individuell trägt, mit Betroffenen, Angehörigen seelisch erkrankter Menschen und vielen psychiatrisch Tätigen vernetzt zu sein. Viele der angesprochenen Personen konnten von dem Konzept überzeugt werden, haben Beiträge zugesagt und eingebracht. Darüber hinaus haben wir bei der gemeinsamen Gestaltung eines Schwerpunkts „Psychopharmaka“ einer Pflege-Fachzeitschrift die Erfahrung gemacht, dass unglaublich viele Facetten angesprochen werden können.

Das Buch ist nicht das einzige zum Einsatz von Psychopharmaka auf dem Markt. Worin unterscheidet sich Ihr Buch von anderen?

Das Buch soll vor allem viele unterschiedliche Aspekte zusammenbringen und anregen, sich mit dem Thema näher zu befassen sowie vermitteln, dass es ganz unterschiedliche Erfahrungen und Einschätzungen gibt, wenn das Thema trialogisch (von Betroffenen, Angehörigen und professionellen Helfern) und nicht nur sachlich-fachlich betrachtet wird. Wichtig war dabei, das Setting und die Rahmenbedingungen zu sehen und die Lebensspanne mit im Blick zu behalten. Es sollte zudem ein Buch aus der Praxis und dem subjektiven Erleben für die Praxis sein.

„…, manches widerspricht sich auch“, kommentiert Markus Witzmann in seinem Vorwort. Widersprüche vermeidet man in aller Regel, um Lesende nicht in Verwirrung zu bringen. Bei diesem Thema ist es unumgänglich. Ist dieser Eindruck richtig?

Bei diesem pressanten Thema lässt es sich nicht vermeiden, dass Lesende sich dem breiten Fächer der Thematik stellen sollten oder müssen. Ob sich in den Buchtexten etwas widerspricht oder ob es eher die subjektive Sicht ist, soll dem Leser überlassen werden. Beabsichtigt ist, dass das Buch Dinge nebeneinanderstehen lassen kann.

Gleichzeitig ist die Gefahr bei den Diskursen über Psychopharmaka groß, dass die Auseinandersetzung ideologisch stattfindet. Wir haben für uns deutliche Positionen, wenn es um Psychopharmaka geht. Aus Sicht Pflegender legen wir Wert darauf, dass Berufskolleginnen und Berufskollegen markante Fragestellungen in den Blick nehmen und Medikamentenfragen regelmäßig im multiprofessionellen Team reflektieren und zusammenarbeiten.

Psychopharmaka bestimmen die psychiatrische Versorgung derzeit sehr. Von den einen werden sie als Heilsbringer betrachtet, andere sehen ein großes Behandlungsrisiko. Wie positioniert man sich im Angesicht einer solch deutlichen Kontroverse?

Der Spannungsbogen zeigt schon das Problem auf. Es geht nicht „schwarz-weiß“, um „gut und schlecht“, um „pro und contra“. Aufgabe aller Beteiligten ist es, individuelle Lösungen zu erarbeiten, was in der jeweiligen Situation des Patienten hilfreich sein könnte und welcher Weg gemeinsam beschritten werden kann. Da geht es oft darum, Medikamente in verantwortbarer Weise im gemeinsamen Aushandeln auszuprobieren sowie Nutzen und Schaden abzuwägen. Es wird immer vom Befinden und der aktuellen Situation bestimmt werden, wie viel Freiraum bleibt oder ob akut gehandelt werden muss. Dass Psychopharmaka nicht die Krankheit ursächlich behandeln, sondern der Symptomreduzierung und -erleichterung dienen, sollte dabei immer mitbedacht werden.

Es heißt an einer Stelle, ein funktionierendes multiprofessionelles Team könne zum Teil Medikamente ersetzen bzw. reduzieren. Wie kann man sich dies konkret vorstellen?

Gute Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen und damit das Angebot verschiedener Zugangswege zu Patienten wirken auf das Wohlbefinden des Einzelnen durch unterstützende Hilfsangebote. So können beispielsweise durch Entspannungsverfahren oder psychotherapeutische Gespräche, eine kreative Tätigkeit oder die Struktur bei alltäglichen Notwendigkeiten von den quälenden oder sich kreisenden Gedanken ablenken, so dass diese in den Hintergrund treten. Der Patient erfährt zum Beispiel, dass er trotz seiner Hoffnungslosigkeit eine kleine Figur aus Ton formte oder beim Spazierengehen mit Hilfe die Umgebung mehr wahrgenommen hat.

Für Psychiatrieerfahrene stehen vielfach verschiedene, zum Teil erhebliche Nebenwirkungen im Zentrum der Kritik. Wie gelingt es, gerade bei bestehender Notwendigkeit der Einnahme, Betroffene ins Boot zu holen?

Es gilt die unerwünschten Wirkungen ernst zu nehmen und nicht zu verharmlosen. Eine tragfähige Beziehung und das Ringen um eine vertrauensvolle Zusammenarbeit sind dafür Grundlage, sich gemeinsam mit dem Betroffenen und ggf. mit dem sozialen Umfeld auseinanderzusetzen. Es besteht sonst die Gefahr, dass die Medikamente selbstständig abrupt abgesetzt werden, was in der Regel zu raschen Rückfällen führt.

Im Kontakt gilt es immer wieder gemeinsam abzuwägen, wo Psychopharmaka Krankheitssymptome erleichtern, welche Nebenwirkungen besonders gravierend sind und ob es Möglichkeiten gibt, diese abzumildern. Dazu braucht es eine individuelle und kontinuierliche Begleitung. Das gilt auch für das Reduzieren und Absetzen.

Ein fundiertes Wissen über Wirkungen und unerwünschte Wirkungen sind deshalb in der professionellen Pflege Voraussetzung und regelmäßige Ergänzung und Aktualisierung. Die Reflexion der eigenen Einstellung zu Psychopharmaka kann Annäherungen unterstützen.

Werden alternative Behandlungsmöglichkeiten hinreichend ausgeschöpft bzw. wo sind (aktuell) klare Grenzen?

Im pflegerischen Alltag werden häufiger alternative Pflegemethoden aus Zeitgründen nicht angewandt oder gar belächelt. Erfahrungen und Anwendungsergebnisse sind selten Gegenstand in Fachzeitschriften. In den Aufgabenbeschreibungen und damit Finanzierungsgrundlagen der Pflege haben diese Methoden bisher praktisch keinen Eingang gefunden. Fort- oder Weiterbildungen in entsprechenden Methoden spielen im Bewusstsein der Pflege eine untergeordnete Rolle. Die unsägliche Trennung zwischen Grund- und Behandlungspflege tut sein Übriges. Psychiatrische Pflege ist nicht teilbar! Alternative Pflegemethoden können vielfache Pflegeziele verfolgen und so als Türöffner genutzt werden, unter anderem, um mit einem katatonen Patienten in Kontakt zu kommen, mehr über Bedürfnisse und Bedarfe oder auch Möglichkeiten und Grenzen des Einzelnen zu erfahren oder auch unerwünschte Wirkungen erträglicher machen.

Rolle und Funktionen von Pflegenden bei der Psychopharmaka-Behandlung gilt es zu klären. So heißt es im Buch. Was bedeutet dies im Detail?

Wenn wir von den im Buch angesprochenen derzeit geltenden Rahmenbedingungen ausgehen, geht es darum, dass Pflegende sich bei der Medikamentengabe ihrer Durchführungsverantwortung bewusst sind. Beispielsweise auch die Verantwortung und damit eine Medikamentengabe ablehnen können, wenn dies begründet ist. Zudem muss ein Psychopharmaka-Grundwissen vorhanden sein, um auf Wirkungen und unerwünschte Wirkungen im Kontakt mit Betroffenen einzugehen.

Über erweiterte Befugnisse im Kontext von Psychopharmaka, wie in anderen Ländern praktiziert, müsste erst breit diskutiert werden, um zu einer Tendenz oder einem Ergebnis zu kommen, inwieweit z. B. die Kompetenz der „Folge-Verordnung“ von Medikamenten als pflegerische Aufgabe angesehen wird und darüber Konsens besteht.

Psychosoziale Hilfen verschiedenster Art zur Stabilisierung und Gesundung geraten nicht zuletzt durch ökonomische Schieflagen zunehmend in Not. Was bedeutet dies für den Einsatz von Psychopharmaka auf lange Sicht?

Die Frage intendiert ja, dass durch die angesprochene Schieflage mehr Psychopharmaka zum Einsatz kommen, um Defizite anderer Unterstützungen auszugleichen. Das ist aus unserer Sicht ein Behandlungs- und Pflegefehler. Eine Gegenfrage: Müsste nicht mehr in den Mittelpunkt gestellt werden, dass ein Gesundheits- und Sozialwesen nicht unter privatwirtschaftlichen Maximen betrachtet werden kann, obwohl es ökonomisch im Sinne des Gemeinwohls arbeiten muss? Gesundheit ist keine Ware, sondern gehört in die Daseinssorge der Öffentlichkeit, des Staates.

 

Das Interview erschien auf pflege-professionell.at