Wenn „ES“ nicht mehr klappt – Männer mit sexuellen Funktionsstörungen haben in der psychotherapeutischen Praxis oft Probleme, über ihr Leiden zu sprechen oder sie glauben an sexuelle Mythen, ihnen fehlt die realistische Vorstellung davon, was „normal“ ist. Wie geht man mit solchen Situationen um, wie kann Kommunikation gefördert und Scham abgebaut werden? Autor Umut C. Özdemir gibt in unserem Gespräch und im neuen Band „Sexuelle Funktionsstörungen bei Männern“ praxisnahe Tipps.
Wann spricht man von einer sexuellen Funktionsstörung?
Eine sexuelle Funktionsstörung ist gegeben, wenn die sexuelle Reaktion nicht so abläuft, wie sie erwartbar wäre oder wie die betroffene Person selbst sie erwarten würde. Voraussetzung ist, dass das Problem seit mindestens 6 Monaten besteht, um auch vorübergehende Phänomene nicht zu stark zu pathologisieren. In Zeiten von Trauer oder beruflichem Stress kann es durchaus sein, dass man sexuelle Probleme hat, aber die sollten, wenn diese Phase vorbei ist, auch vorübergehen. Sexuelle Funktionsstörungen können sich auf verschiedenste Bereiche beziehen: fehlende Lust, fehlende genitale Reaktionen, den Orgasmus, die Phase nach dem Orgasmus. Die ICD-10 erwähnt seltsamerweise den Leidensdruck nicht, in der Praxis berücksichtigen wir diesen Leidensdruck aber natürlich. Wo kein Leid, da braucht es ganz oft auch keine Diagnose, jedenfalls in diesem Bereich.
Wie ist das Zusammenspiel von psychischen und physischen Faktoren?
In der Psychologie gehen wir momentan vom biopsychosozialen Paradigma aus. Biologie, Psychologie und soziale Faktoren spielen alle drei eine Rolle, gerade im sexuellen Bereich, sowohl in der Entstehung als Grund für sexuelle Störungen als auch in der Aufrechterhaltung. Es kann z.B. sein, dass sexuelle Funktionsstörungen ein Hinweis auf somatische Probleme sind. Wir differieren ja noch zwischen Soma und Psyche, in der ICD-11 wird diese Differenzierung aufgehoben. Es kann beispielsweise sein, dass sich koronare Herzkrankheiten ankündigen und eine sexuelle Funktionsstörung das erste Symptom ist. Oder es kann sein, dass sexuelle Funktionsstörungen eine Folge von Diabetes sind, oder anderen körperlichen Problemen.
"Wenn man etwa eine Krebsdiagnose hat und eine Chemotherapie macht, schlägt sich das natürlich auf die Sexualität nieder, einerseits wegen der invasiven Methoden, andererseits aber auch – das wäre ein aufrechterhaltender Faktor – wegen der psychischen Verarbeitung einer solchen Diagnose. Was macht das mit mir als Mensch? Mit dem Bezug zu meinem Körper, mit meiner selbst wahrgenommenen Attraktivität, was macht es mit meiner Partnerschaft, wenn eine besteht?"
Wenn man etwa eine Krebsdiagnose hat und eine Chemotherapie macht, schlägt sich das natürlich auf die Sexualität nieder, einerseits wegen der invasiven Methoden, andererseits aber auch – das wäre ein aufrechterhaltender Faktor – wegen der psychischen Verarbeitung einer solchen Diagnose. Was macht das mit mir als Mensch? Mit dem Bezug zu meinem Körper, mit meiner selbst wahrgenommenen Attraktivität, was macht es mit meiner Partnerschaft, wenn eine besteht? Möglicherweise ist es das erste Mal, dass man damit konfrontiert ist, dass die*der Partner*in sterblich ist, krank und man der Person nicht wehtun will. Deswegen würden wir auch wirklich immer Patient*innen mit sexuellen Funktionsstörungen vorher fachärztlich untersuchen lassen. Das muss abgeklärt sein und es müssen körperliche Faktoren ausgeschlossen sein.
Welche Rolle spielen Komorbiditäten, z.B. Depressionen oder Angsterkrankungen, gibt es hier besonders häufig auftretende Kombinationen?
Psychische Faktoren können genauso eine Rolle spielen. Bei Depression kann es z.B. ein Kriterium der Depression sein, dass die Lust auf Sexualität abgenommen hat. In dem Fall würden wir zuerst die Depression behandeln, weil wir davon ausgehen, dass die Konsequenz aus der ersten Diagnose verschwindet, wenn diese Diagnose behandelt ist. Bei Angststörungen wissen wir, dass es eine hohe Korrelation gibt, unter anderem durch die kognitiven Aspekte der Angst: Wir machen uns Sorgen, wir grübeln, wir sind gedanklich in diesem Teufelskreislauf und das wirkt sich auch auf andere Lebensbereiche – in diesem Fall Sexualität – negativ aus.
Es wird viel über den Druck gesprochen, den vermeintlich perfekte Körperbilder in den Medien auf Frauen haben, betrifft das Männer ebenso und hat dies Einfluss auf die sexuelle Funktion?
Wir sind uns selbst gegenüber viel kritischer als anderen Menschen gegenüber. Es kann sein, dass, wenn wir unzufrieden sind mit unserem Körper, unsicher werden, uns diese Unsicherheiten kognitiv beschäftigen und wir deswegen sexuelle Funktionsstörungen ausbilden. Bei Männern mit einer Erektionsstörung hört man oft den Satz: Ich funktioniere nicht mehr richtig. Hier kommt indirekt das Körperbild zum Tragen, weil im Kopf die Assoziation da ist: Ein Mann muss eine Erektion haben, wenn das nicht funktioniert, dann bin ich kein richtiger Mann mehr. Bei jeder sexuellen Begegnung ist dann die Sorge da: Wird es heute funktionieren? Man konzentriert sich die ganze Zeit auf den eigenen Körper, ist gedanklich natürlich ganz woanders, als man sein sollte in dem Moment. Auch wenn ich meinen Körper okay finde, aber dass, was ich als normale Funktion ansehe, nicht klappt, führt das dazu, dass ich frustriert bin. Und dann möglicherweise die sexuelle Aktivität abbreche, damit aber indirekt meine Problematik aufrecht erhalte, weil ich für das nächste Mal erwarte, dass es wieder schief gehen wird. Das führt wiederum dazu, dass ich mich nicht entspannen kann und es nicht zu einer Erektion kommt.
Wie wichtig ist das Wissen über den eigenen Körper und Sexualität bei sexuellen Funktionsstörungen?
Das ist insofern wichtig, als viele Menschen an sexuelle Mythen glauben! Das beginnt bei: Sex ist gleich Penetration, oder: Ich als Mann muss eine Erektion haben, nur dann ist es auch Sex. Oder: Sex muss immer im Orgasmus enden. Es sind Vorstellungen von Sexualität, die nicht der Wahrheit entsprechen. Männer vergleichen sich z.B. mit Darstellern in Pornofilmen, was nicht realistisch sein kann. Als Therapeut muss ich dann manchmal sagen: Wollen Sie zur nächsten Sitzung mal andere Quellen nutzen? Dann sieht der Patient, dass Penisse ganz unterschiedlich aussehen und sein Penis vielleicht durchschnittlich groß ist. Dabei spielt natürlich eine Rolle, dass Männer weniger reden über das, was sie belastet.
Eine wichtige Rolle spielt Kommunikation – sowohl in der Paarbeziehung als auch in der Begegnung von Therapeut*in und Patient – was gibt es hierbei zu beachten?
Das sind zwei große Bereiche! Wir wissen, dass Kommunikation in der Partnerschaft ein Schutzschild gegen sexuelle Funktionsstörungen ist. Das ist auch logisch: Wenn ich etwas thematisiere, dann fühle ich mich wahrscheinlich auch sicherer in meiner Partnerschaft und traue mich deswegen es anzusprechen. Gleichzeitig kann ich erst dann etwas verändern, wenn ich angesprochen habe, dass ich mir etwas anderes wünsche. Das braucht Mut, weil Sexualität so ein intimes Thema ist, wir sind das nicht gewöhnt. Vielleicht wird etwas aus Scham oder aus der Befürchtung, mein*e Partner*in könnte mich unmännlich finden, mich verlassen, nicht angesprochen. Oder es gibt nie „den richtigen Augenblick“ – aber den gibt es vielleicht wirklich nie und man sollte dennoch reden. Dabei sollten aber auch Kommunikationsregeln beachtet werden – Ich-Botschaften sollten gesendet werden und die Situation sollte passend sein. Es ist besser, nicht direkt in der Situation nackt im Bett, sondern vielleicht am Esstisch oder auf der Couch sitzend zu sprechen.
In der therapeutischen Situation ist es wichtig, dass vor allem wir Behandler*innen Dinge ansprechen. Wir wissen aus Befragungen, dass Menschen mit sexuellen Diagnosen zu ca. 80% sagen: Wenn mein*e Behandler*in es nicht angesprochen hätte, hätte ich nicht drüber gesprochen. Einerseits, weil das Wissen oft gar nicht da ist, dass man eine Psychotherapie in Anspruch nehmen kann, andererseits vielleicht, weil man nicht weiß: Ist es zu viel, was ich hier bespreche?
"Es ist auch unsere Aufgabe als Behandler*innen, dass wir wertfreie Kommunikation vornehmen, was Sexualität angeht. Wir sollten als Vorbild fungieren und in Alltagssprache nachfragen."
Es ist auch unsere Aufgabe als Behandler*innen, dass wir wertfreie Kommunikation vornehmen, was Sexualität angeht. Wir sollten als Vorbild fungieren und in Alltagssprache nachfragen. So dass ich auch zeigen kann: Es ist total in Ordnung, darüber zu sprechen. Ich schicke zwischen den Zeilen die Botschaft: Wir können uns wie zwei erwachsene Menschen darüber unterhalten, ohne das ins Lächerliche zu ziehen, ohne dass ich Sie dafür beschäme, weil Sie darüber sprechen möchten.
Wie kann in einer Therapie mit Scham- und Schuldgefühlen umgegangen werden, ist es wichtig, diese zu thematisieren?
Wenn ich den Eindruck habe, dass Patient*innen sich schämen, dann würde ich es vorwegnehmen und vielleicht sagen: Das ist für viele Menschen ein schambesetztes Thema, das ist total in Ordnung, weil wir das Sprechen darüber nicht so eingeübt haben. Wenn ich merke, dass sehr große Scham besteht, würde ich fragen: Was kann ich als Psychotherapeut dazu beitragen, dass Sie etwas freier sprechen können? Man muss unterscheiden: Wenn Menschen wegen sexueller Probleme einen Termin vereinbaren, schaffen Sie meist schon, ein wenig darüber zu sprechen. Aber es sind vielleicht einzelne Begriffe, bei denen Scham herrscht oder die man umschreibt, z.B. „Dann hat ‚es‘ nicht mehr funktioniert“. Hier kann ich mit der Zeit versuchen, Angebote zu machen: Meinen Sie Penetration, meinen Sie Geschlechtsverkehr, meinen Sie Oralverkehr – um zu zeigen: Ja, man darf das benennen! Bei Patient*innen, die wegen anderer Diagnosen Termine vereinbaren, kann auch erstmal Verwunderung oder größere Scham entstehen, wenn wir nach Sexualität fragen. „Warum fragen Sie das? Ich bin doch jetzt hier wegen meiner Zwangsstörungen?“ Da würde ich meine Absicht erklären und das erläutern: „Sie sind hier wegen Ihres Waschzwangs, deswegen möchte ich nachfragen, ob Sie sich auch vor den eigenen Körperflüssigkeiten ekeln.“ Oder: „Sie haben Angst vor Krankheiten, wie machen Sie das denn bei Sexualität?“ Es gibt verschiedenste Diagnosebereiche, wo Sexualität mit eine Rolle spielt. Ich glaube, dass wir als Vorbild fungieren können und zeigen können: Es ist total in Ordnung, darüber zu sprechen und das zu thematisieren.
Ist bei sexuellen Funktionsstörungen immer einer Therapie notwendig, oder kann z.B. auch eine Sexualberatung ausreichend sein?
Ganz allgemein: Wenn wir eine Beratung machen, dann kommen wir natürlich in Abrechnungsprobleme in Deutschland, das ist leider so. Und wir haben diagnostische Probleme. Letztere werden sich mit der ICD-11 ändern, weil wir dann z.B. auch die Möglichkeit bekommen, medikamenteninduzierte sexuelle Funktionsstörungen zu diagnostizieren. Aktuell, in der ICD-10, ist das ein Ausschlusskriterium. Aber wir wissen, dass sich manche Medikamente negativ auf die sexuelle Funktion auswirken können und die Menschen leiden ja trotzdem darunter, auch wenn ich es momentan nicht diagnostizieren kann. Das kann durchaus dazu führen, dass Patienten selbstständig ihre Medikation absetzen und eine Verschlechterung der ursprünglichen Diagnose in Kauf nehmen, um partnerschaftliche Sexualität erleben zu können. Betroffene wissen ja oft auch nicht, dass Sie eine*n Psychiater*in fragen können, ob man z.B. auf ein anderes Medikament umsteigen könnte. Wir werden in der ICD-11 auch die Möglichkeit haben, eine Diagnose zu vergeben, wenn die sexuelle Funktionsstörung die Folge einer anderen Störung ist, was bisher nicht geht.
Welche Rolle spielt es, ob eine Therapie aus eigener oder Fremdmotivation angestrebt wird?
Wir Psychotherapeut*innen sagen natürlich immer, dass eine Eigenmotivation am günstigsten ist. Es kommen aber manchmal Menschen fremdmotiviert in eine Psychotherapie, dann ist es meine Aufgabe als Psychotherapeut, herauszufinden, ob es zumindest ein wenig Eigenmotivation gibt. Die Frage ist ja, ob es nicht doch irgendeinen Grund gibt, warum die Person gekommen ist. War vielleicht das, was wir zunächst als Fremdmotivation bezeichnet haben, eher eine Art Druck von Partner*in und der Druck war so unangenehm, dass die Scham nicht mehr so unangenehm war. Dass man sich doch überwunden hat, darüber zu sprechen. Wir können natürlich nur mit Menschen arbeiten, die etwas verändern wollen, das stimmt absolut, deshalb hoffen wir immer auf die Eigenmotivation. Aber ich glaube schon, dass man in der Regel etwas finden kann als Motivation und man an den Punkt gelangt, an dem der Patient sagt: Ja, stimmt, ich will dagegen etwas machen – ob das dann Psychotherapie ist, entscheidet die betroffene Person selbst. Die fehlende Eigenmotivation kann vielleicht auch Ausdruck dafür sein, dass jemand fast schon aufgegeben hat. Letztlich kann ich als Psychotherapeut aber nur Angebote aussprechen und Patient*innen entscheiden, ob sie meine Angebote annehmen. Gerade im sexuellen Bereich gehen Menschen erstmal zu fachärztlichen Kolleg*innen, z.B. in die Urologie. Und bedauern vielleicht, dass es nichts Körperliches ist, das sich durch eine Spritze oder eine Tablette beheben lässt. Psychotherapie ist Arbeit! Das ist natürlich anstrengender.
Sollte immer der*die Partner*in einbezogen werden in die Therapie?
Man braucht nicht immer eine Paartherapie, um sexuelle Funktionsstörungen zu therapieren, eine Einzeltherapie ist auch ausreichend. Wir haben in der Einzeltherapie die Möglichkeit, Sitzungen unter Einbezug von Partner*in zu machen, das kann sinnvoll sein, wenn es z.B. um Übungen für zuhause geht, dass man die einmal miterklärt. Wir können aber auch – das machen wir bei anderen Diagnosen ja genauso – wenn Patient*innen unsicher sind, wie sie etwas ansprechen sollen, das in der Therapie in einem Rollenspiel üben und damit eine Kommunikation über Sexualität fördern. Es ist meistens förderlich, wenn Partner*innen mal dabei sind, es gibt aber auch Patient*innen die sagen, ich möchte in der Therapie lieber allein bleiben. Ich möchte hier meinen Raum für mich haben zum Reden. Nicht zuletzt ist das ja auch eine finanzielle Frage: Paartherapien werden nicht von den Krankenkassen übernommen und nur Patient*innen mit bestimmtem sozioökonomischen Status können sich diese leisten.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Umut C. Özdemir
Dipl.-Psych. Umut C. Özdemir, geb. 1986. 2006 – 2012 Studium der Psychologie in Würzburg. 2014 – 2020 Tätigkeit als klinischer und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin. 2013 – 2015 Curriculäre Weiterbildung in Sexualtherapie. 2015 – 2021 postgradualer Weiterbildungsstudiengang in Psychologischer Psychotherapie (Verhaltenstherapie) am Zentrum für Psychotherapie der Humboldt-Universität zu Berlin (ZPHU). 2018 – 2020 Zusatzqualifikation Gruppenpsychotherapie. Seit 2020 Dozent in der Ausbildung Psychologische Psychotherapie sowie Aufklärung zu sexualpsychologischen Themen in klassischen und sozialen Medien (Instagram und TikTok: @umut_oezdemir sowie Twitter: @U_Oezdemir). Seit 2022 in eigener Praxis in Berlin niedergelassen.