Sind Mann und Frau ein Auslaufmodell?
Der Neurowissenschaftler Prof. Dr. Lutz Jäncke befasst sich in seinem neuen Buch “Mann und Frau – ein Auslaufmodell?” mit viel diskutierten Themen. Er stellt sich der Frage, ob Geschlecht ein starres Konzept oder Teil eines flexiblen Kontinuums ist. Lutz Jäncke zeigt, wie erstaunlich formbar unser Gehirn im Umgang mit Geschlechterrollen sein kann – und wo diese Anpassungsfähigkeit an ihre Grenzen stößt. Mit Expertise, Klarheit und feinem Humor liefert er Orientierung in einer Debatte, die oft emotional und kontrovers geführt wird.
Von Prof. Dr. Lutz Jäncke.
Zwischen Steinzeit und Zukunft – Geschlecht, Biologie und Interpretation
Eine der kontroversesten Debatten unserer Zeit betrifft die Frage, ob es nur zwei Geschlechter gibt oder ob das Spektrum vielfältiger ist. Diese Diskussion wird nicht nur mit wissenschaftlichen Argumenten, sondern mit großer Emotionalität geführt. Das überrascht nicht: Geschlechtsrollen sind tief in unseren sozialen Normen und Identitäten verankert. Wer sie infrage stellt, berührt grundlegende Vorstellungen von Zugehörigkeit, Partnerschaft und gesellschaftlicher Ordnung.
Dabei lohnt ein nüchterner Blick zurück in die Steinzeit. Oft wird behauptet, Männer hätten gejagt und Frauen gesammelt – und daraus seien starre Rollen entstanden. Doch diese simple Vorstellung hält der Realität nicht stand. Kleine Menschengruppen mussten alle Kräfte nutzen: Wer jagen konnte, jagte; wer sammeln konnte, sammelte; wer Kinder beruhigen konnte, kümmerte sich darum. Starre Rollen hätten das Überleben gefährdet.
Biologie und kulturelle Ordnung
Unbestreitbar ist, dass sich Männer und Frauen biologisch unterscheiden – genetisch, hormonell, morphologisch. Diese Unterschiede prägen Körperbau, Aussehen, Kraft und bestimmte physiologische Abläufe. In Bereichen wie Fortpflanzung, Attraktivität und Brutpflege zeigen sich sogar tief verankerte, instinktive Mechanismen: Männer und Frauen erkennen einander als potenzielle Partner, ohne es lernen zu müssen. Ebenso verfügen Menschen über grundlegende Fürsorgeinstinkte, die das Überleben des Nachwuchses sichern.
Doch wie weit reichen diese Unterschiede ins Denken, Fühlen und Verhalten hinein? Bestseller, die fundamentale Differenzen zwischen Männern und Frauen behaupten, sind beliebt, weil sie vermeintlich Gewissheiten stützen. Doch die Forschung zeigt: Die meisten Unterschiede sind klein. Unterschiede im Sozialverhalten, im Multitasking oder in kognitiven Leistungen existieren, sind aber statistisch moderat und für den Einzelfall wenig bedeutsam.
Gehirne, Rollen und Plastizität
Das menschliche Gehirn ist plastisch. Es lernt, passt sich an und übernimmt kulturelle Regeln, oft unbewusst. Diese enorme Anpassungsfähigkeit macht uns zu Kulturwesen, die nicht nur biologische Grundlagen leben, sondern ständig neue Rollenbilder entwickeln und verinnerlichen. Genau deshalb können wir auch neue Geschlechtsidentitäten denken, erfinden und leben.
Dennoch bleibt die biologische Basis bestehen. Wir können Geschlecht nicht einfach „weginterpretieren“. Fortpflanzung und Brutpflege beruhen auf uralten Mechanismen. Gleichzeitig erlaubt uns unser Stirnhirn, Sexualität von der reinen Fortpflanzung zu entkoppeln. So wurde Sexualität beim Menschen zum Selbstzweck, zur Quelle von Vielfalt, Bindung und Kultur. Homosexualität etwa ist keine Abweichung, sondern eine normale Variante des Verhaltens, die auch im Tierreich weitverbreitet ist.
Geschlecht als Balance von Natur und Kultur
Die spannende Frage lautet also nicht, ob Biologie oder Kultur „recht“ haben, sondern wie beide ineinandergreifen. Biologische Unterschiede sind eindeutig vorhanden, doch unser Gehirn erlaubt es uns, Rollen, Normen und Identitäten zu interpretieren, zu verändern und neu zu leben.
Die Konsequenz: Für berufliche Leistung, Kreativität und gesellschaftliches Engagement ist das Geschlecht letztlich irrelevant. Was zählt, sind Motivation, Fähigkeiten und Chancen zur Entfaltung. In einer Welt voller Herausforderungen benötigen wir alle Talente – unabhängig vom Geschlecht oder der individuellen Identität.
Fazit
Geschlecht ist einerseits tief biologisch verankert, andererseits kulturell und individuell formbar. Wir sind Tiere mit Instinkten – und zugleich Kulturwesen mit Fantasie und Plastizität. Wer das versteht, kann die aktuelle Debatte jenseits von Ideologie betrachten: als Balance zwischen Natur und Interpretation, zwischen evolutionärem Erbe und menschlicher Freiheit.
Prof. Dr. Lutz Jäncke
Lutz Jäncke ist seit 2002 Ordinarius für Neuropsychologie und seit dem 1. August 2025 Professor emeritus an der Universität Zürich. 2020 wurde er in den wissenschaftlichen Beirat des Hans-Albert-Instituts berufen. Im November 2023 verlieh ihm die Universität Luzern die Ehrendoktorwürde. Er studierte in Bochum, Braunschweig und Düsseldorf Biologie und Psychologie und war Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft. In der Folge arbeitete er als Senior-Researcher am Kernforschungszentrum Jülich, als Professor an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, bevor er als Ordinarius nach Zürich wechselte. Seine Forschungsschwerpunkte sind die funktionelle Plastizität des menschlichen Gehirns ebenso wie die neuronalen Grundlagen des Lernens und Gedächtnisses. Lutz Jäncke gehört zu dem 1% der am häufigsten zitierten Wissenschaftler weltweit. Er ist ein häufig gefragter Fachmann für Fragen der Neurowissenschaft und Psychologie bei internationalen Forschungsgremien und öffentlichen Medien und ein beliebter Keynote-Sprecher zu seinen Forschungsthemen und aktuellen gesellschaftlichen Fragen.
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