Systemische Therapie, ein psychotherapeutisches Richtlinienverfahren

Das Lehrbuch „Klinische Psychologie und Psychotherapie“ stellt die zentralen Inhalte des reformierten Masterstudiengangs dar. Alle psychotherapeutischen Richtlinienverfahren werden im Buch vorgestellt, dabei wird die Systemische Therapie (ST) von Prof. Dr. Kirsten von Sydow behandelt. Im Interview hat sie Fragen zu den Besonderheiten und Anwendungsbereichen der ST beantwortet und beleuchtet den besonderen Reiz des Verfahrens.  

Systemische Therapie Figuren, die miteinander vernetzt sind ST als Richtlinienverfahren

Im Lehrbuch „Klinische Psychologie und Psychotherapie“ stellen Sie die Systemische Therapie vor. Wie würden Sie das Besondere des Ansatzes beschreiben, die systemische Sichtweise?

Systemische Therapie (ST) fokussiert auf die Wechselwirkungen zwischen Symptomatik/Problem und dem Kontext. Hier geht es besonders um den partnerschaftlich-familiären und soziokulturellen Kontext, aber auch um innerpsychische und biologisch-somatische Faktoren. Betroffene und Angehörige werden durch eine ressourcen- und lösungsorientierte Grundhaltung eingeladen zu einer möglichst guten Zusammenarbeit.

Entwickelt hat sich die Systemische Therapie (ST) aus der Paar- und Familientherapie, bei welchen Störungen ist sie erfolgreich anwendbar?

Systemische Therapie hat ja erfolgreich einen strengen zweifachen Prüfprozess durchlaufen: Schon 2008 wurde ST wissenschaftlich anerkannt durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) und dann auch sozialrechtlich anerkannt durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und damit zum Richtlinienverfahren der Erwachsenenpsychotherapie (seit 2020) und der Kinder- und Jugendpsychotherapie (seit 07/2024). Die Entscheidung des G-BA beruhte auf umfangreichen Recherchen und Metaanalysen des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Auf dieser Grundlage wurde vom G-BA die Wirksamkeit von ST für verschiedene Störungen des Erwachsenenalters (affektive Störungen, Angst-/Zwangs-, Substanzkonsum-, Essstörungen sowie Schizophrenie/psychotische Störungen) und des Kindes- und Jugendalters (Angst-/Zwangsstörungen; hyperkinetische Störungen; Essstörungen; Substanzkonsumstörungen; gemischte Störungen) anerkannt.

Können Sie kurz die grundlegenden Aspekte des therapeutischen Vorgehens beschreiben?

Wesentliche Interventionen sind systemisch-lösungsorientierte Fragen, positive Umdeutungen, Genogramm und Skulpturarbeit. Das Vorgehen der ST fokussiert auf Wechselwirkungen zwischen Symptomatik und Kontext, auf sich selbst verfestigende Interaktionsmuster ("Teufelskreise"), strukturelle Merkmale von Familien wie Nähe/Distanz und Hierarchien, Machtunterschiede und die Relevanz größerer kultureller Kontexte. Eine ganze Reihe von systemischen Manualen sind auf die Behandlung spezifischer Störungen zugeschnitten.

Welche Rolle spielt die Ressourcenorientierung in der ST?

Die Ressourcenorientierung spielt eine große Rolle in der ST – gerade, weil es darum geht, belastete Menschen, Paare und Familien anzusprechen. Wenn Verhalten als „sehr sorgfältig“ beschrieben wird, fühlen sich Betroffene meist stärker positiv angesprochen, als wenn sie als „hochgradig zwanghaft“ beschrieben werden. 
 

In der Systemischen Therapie wird nicht nur in Einzel- oder Gruppentherapie gearbeitet, sondern auch mit Mehrpersonensettings, wie wichtig ist die Planung des Behandlungssettings?

Das Behandlungssetting ist in der ST bedeutsam. Bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen ist es sehr wichtig, dass auch die Zusammenarbeit mit den Eltern gelingt, das muss aber nicht immer in gemeinsamen Sitzungen geschehen, z.B. Jugendliche und ihre Eltern können auch in getrennten Sitzungen behandelt werden. Bei Erwachsenen wird auch häufig die Option „Mehrpersonensetting (MPS)“ (z.B. mit Partner*in, Eltern und/oder Kindern) vorgeschlagen – hier ist die konkrete Settinggestaltung aber stärker geprägt durch die Anliegen und Wünsche der Indexpatient*innen und ihres Umfeldes. Weitere Optionen sind Gruppentherapie oder Multifamilientherapie, also die Kombination aus MPS und Gruppentherapie.

Eine wichtige Methode in der ST ist das Reframing. Könnten Sie uns hierzu ein Beispiel geben?

Eltern lassen sich besser erreichen, wenn z.B. ihr Erziehungsverhalten als „sehr besorgt“ beschrieben wird denn als „intrusiv und überängstlich“ – Partner*innen fühlen sich wahrscheinlich wohler damit, dass Verhalten, das sich auch als kontrollierend und überwachend beschreiben ließe, als Hinweis darauf verstanden wird, dass ihnen der Partner oder die Partnerin sehr wichtig ist und sie die andere Person nicht verlieren wollen.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Kirsten von Sydow

Prof. Dr. Kirsten von Sydow, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin (Systemische Psychotherapie und Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie) und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Supervisorin (ST). Studium der Psychologie in Bonn. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Bonn, Augsburg, München (LMU), Gießen, Max-Planck-Institut für Psychiatrie München. Promotion 1991. DFG-Habilitationsstipendium. Habilitation 2002. Vertretungsprofessorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an den Universitäten Duisburg-Essen und Hamburg. 2010-2013 Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin (PHB, 50%). Seit 2005 eigene Psychotherapiepraxis in Hamburg (TP und ST). Seit 2022 Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Schwerpunkt Systemische Therapie an der Medical School Hamburg (MSH, 50%). Arbeitsschwerpunkt: Psychotherapieforschung, besonders zur Systemischen Therapie, Bindungstraumata, sexuelle Entwicklung. 
Foto: ©Janine Guldner



 

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