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Transgender und non-binäre Menschen in der Psychotherapie

Viele Psychotherapeut*innen lehnen eine Behandlung von Transgender oder non-binären Menschen ab – oft aus Unsicherheit. Marcus Rautenberg will mit seinem Buch Mut machen, diese Klient*innen therapeutisch zu begleiten. Wir haben mit ihm über seine Erfahrungen und Empfehlungen gesprochen.

Bunte Fenster zeigen Vielfalt Transgender

Was war der Grund für dieses Buch, wen wollen Sie damit erreichen?

Nach meiner Approbation 2006 habe ich begonnen, in der psychotherapeutischen Forschungsambulanz der Universität in Landau zu arbeiten, was ich neben meiner eigenen Praxis bis heute tue. Vor einigen Jahren gab es dort eine Anfrage einer Transfrau, ob wir als Ambulanz die psychotherapeutische Begleitung im Transitionsprozess eines Transmenschen anbieten. Ich wurde gefragt, ob ich dies übernehmen könne und habe spontan zugesagt. Ich hatte zwar zuvor schon einmal in einem anderen Kontext mit einer Transfrau gearbeitet, die psychotherapeutische Begleitung des Transitionsprozesses war jedoch auch für mich damals „Neuland“. Auch gab es damals noch relativ wenig Literatur zur konkreten psychotherapeutischen Arbeit mit Transmenschen. Gemeinsam mit meiner Klientin habe ich mich in die Thematik eingearbeitet. Heute gibt es zwar weitaus mehr Literatur zur Thematik, ein Handbuch bezüglich des konkreten Vorgehens im Transitionsprozess mit Vordrucken und Materialien gibt es bisher meines Wissens nicht. Gleichzeitig sind die Anfragen von Transmenschen an mich in den letzten Jahren deutlich angestiegen, weil es offensichtlich nur wenige Kolleg*innen gibt, die mit der Thematik vertraut sind. Transmenschen sind oftmals in den sozialen Medien sehr gut vernetzt oder informieren sich erstmals über ihre Problematik im Internet. So kommt es, dass sich viele dann bei mir melden. Mit Fortbildungsveranstaltungen und nun auch mit meinem Buch will ich meinen Kolleg*innen einerseits „Mut“ machen, mit dieser sehr dankbaren Klientel zu arbeiten und gleichzeitig darüber informieren, wie genau diese doch sehr andere Art von Psychotherapie funktionieren kann.

Wie kann man sich die Identitätsdiffusion einer Transgender oder non-binären Person vorstellen?

Wir leben in einer binär-geschlechtlichen Gesellschaft, in welcher uns bis heute in fast allen Fällen immer noch bei der Geburt eines von zwei Geschlechtern zugewiesen wird. Dieses zugewiesene Geschlecht ist dann in der Folge in ebenso fast allen Fällen verbunden mit sozialen Erwartungen und Zuschreibungen. Unser Geschlecht und damit auch unsere Geschlechtsidentität, also unsere eigenen Sichtweise darauf, welchem Geschlecht wir uns zuordnen, ist ein ganz wesentlicher Bestandteil unserer Persönlichkeit und unserer Identität. Wenn wir mit Transgender oder non-binären Menschen in Kontakt kommen, dann begegnen wir einem Menschen, der in diesem letzteren Bereich eine Identitätsdiffusion erlebt. Seine Sex-Identität, die Zuschreibung zu einem Geschlecht aufgrund äußerlicher Geschlechtsmerkmale, weicht von seiner subjektiv empfundenen Geschlechtsidentität ab. Der Mensch sieht in den Spiegel, sieht einen Mann, das ist aber nicht sie, denn sie ist der tiefen Überzeugung, dass sie eine Frau ist oder zumindest sicher, sie sei kein Mann. Die Person jedenfalls, die sie im Spiegel betrachtet, ist nicht sie, ist nicht die Person, von der sie denkt, dass sie es sei. Es ist „irgendwie“ jemand anderes, eine andere Identität. Alle Betroffenen berichten spätestens ab der Pubertät, also mit dem Einsetzen der typischen geschlechtlichen Entwicklung von einem Gefühl des „Falsch-Seins“, welches – auch wenn es manchmal über Jahre verdrängt wird – früher oder später zu einem unerträglichen Leidensdruck führt.

In den letzten Jahren haben sich einige prominente Persönlichkeiten als Transgender zu erkennen gegeben, hat dies vor allem positive Wirkung?

Wenn sich in einer Gesellschaft bestimmte Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und überwiegend positiv bewertet werden, bezüglich der Zugehörigkeit zu einer sogenannten Normvariante der Gesellschaft offenbaren, so hatte und hat dies erfahrungsgemäß zunächst positive Effekte hinsichtlich der gesellschaftlichen Akzeptanz und Toleranz gegenüber dieser Normvariante. So wird über das „Phänomen“ verstärkt geredet, das Wissen über das Phänomen nimmt zu, es entwickelt sich ein breiteres gesellschaftliches Verständnis und das Phänomen wird oft mehr und mehr auch als normal betrachtet. Dies sind klassische psychologische Vorgänge, wir bewerten Menschen positiv und dann auch deren Eigenschaften. Diese positiven Effekte konnten wir auch beim Thema „Transgender“ beobachten. Allerdings wird leider in den letzten Monaten und Wochen das Thema in den Medien oftmals sehr polarisierend diskutiert. Dies geht so weit, dass Transmenschen unterstellt wird, sie würden einem gesellschaftlichen „Hype“ unterliegen, es handele sich um eine „Modeerscheinung“. Es wird diskutiert, was eine „richtige“ Frau sei usw. In meiner Wahrnehmung wird dabei oftmals unterstellt, jemand würde quasi aus einer Laune heraus seine Geschlechtsidentität in Frage stellen. Ich kann Ihnen versichern, dass während all der Jahre, in denen ich nun mit Transmenschen arbeite, mir kein einziger begegnet ist, bei dem es so war. Alle hatten bereits seit ihrer frühen Kindheit dieses oben beschriebene Gefühl des „Falsch-Seins“ und alle hatten einen langen Leidensweg hinter sich. Trans ist keine Laune, Trans-Sein ist ein Fakt und nach allem, was wir bis heute wissen, gibt es keine sozialen oder psychogenen Ätiologien. Trans oder auch non-binär erscheint – wenn überhaupt – dann als eine „Laune der Natur“, eine hirnphysiologische Intersexualität, also eine biologisch und hirnphysiologisch determinierte Entwicklung. Natürlich gibt es eine Zunahme von Transmenschen in der Öffentlichkeit, in den Beratungsstellen, Schulen und auch in den Praxen der Gesundheitsberufe. Das sagte ich ja bereits. Aber wir wissen auch, dass gesellschaftliche Normative und Werte einem ständigen Wandel unterliegen. Werden aus irgendwelchen Gründen (s.o.) bestimmte menschliche Phänomene neu und sogar toleranter bewertet, dann hat dies auch Einfluss auf die Bereitschaft der Betroffenen, sich bezüglich eines solchen Phänomens zu offenbaren. Dies haben wir bei vielen – früher stigmatisierten – heute toleranter bewerteten Phänomen bereits beobachtet. Auch dort gab es in Folge der gesellschaftlichen Akzeptanzzunahme eine gewisse Zunahme der erlebten Häufigkeit.

Während das Wissen über transgeschlechtliche Menschen gewachsen ist, ist weniger klar, was unter non-binär zu verstehen ist, könnten Sie dies kurz erklären?

Wir sollten hier zunächst die Begrifflichkeiten kurz definieren. In vielen – auch wissenschaftlichen – Publikationen wird die non-binäre Geschlechtsidentität dem Trans-Begriff subsumiert, also auch als trans bezeichnet. Ich vermeide dies ganz bewusst, denn es „passt“ einfach nicht und wird den non-binären Menschen nicht gerecht. Wenn wir von trans reden, so bedeutet dies für mich „Übergang“, wir reden ja auch von Transition, also von einem zum anderen Geschlecht. Transgender bleibt somit immer noch in der Binärität der Geschlechter. Die Non-Binärität der Geschlechtsidentität ist ein relativ neu diskutiertes Phänomen. Aber auch hier gilt, wie oben bereits erläutert: Nur weil sich die Anzahl der sich offenbarenden Menschen erhöht, bedeutet dies nicht zwingend, dass es dies zuvor nicht in gleicher Häufigkeit schon gab. Auch hier vermute ich, dass eine insgesamt offenere Gesellschaft die Bereitschaft sich zu öffnen erhöht hat. Non-binäre Menschen können sich keinem der beiden vorgegebenen Geschlechter zuordnen. Ihre Diffusion bezüglich ihrer Geschlechtsidentität ist letztlich noch viel tragischer als die der Trans-Betroffenen, denn ihnen bleibt nicht einmal der Weg der Transition.

Für die Kostenübernahme einer Transition, ist eine Diagnose durch approbierte Fachkräfte aus Psychotherapie oder Psychiatrie notwendig. Empfinden Transmenschen dies nach Ihrer Erfahrung als eher belastend oder eher hilfreich?

Dies ist die sicher am kontroversesten und wohl auch am heftigsten diskutierte Frage. Folgen wir den Aussagen vieler Betroffener und ihrer Verbände, so gäbe es diese verpflichtende Indikationsstellung für einzelne Maßnahmen auf dem Weg der Transition nicht. Folgen wir dagegen den Fachleuten und schließlich der AWMF-S3-Leitlinie, so bleibt eine begleitende Psychotherapie zumindest eine dringliche Empfehlung. Fakt ist, die psychotherapeutische Begleitung wird wohl noch lange eine verpflichtende Voraussetzung für die Kostenübernahme durch die Krankenkassen bleiben. Wie sie dann letztlich bewertet wird, hängt meines Erachtens ganz wesentlich davon ab, wie wir uns als Begleiter*innen sehen. Wenn wir uns wirklich als „wohlwollende*r Begleiter*in“ verstehen und die Betroffenen nicht in Frage stellen und ihnen das Gefühl geben, sie müssten uns etwas beweisen, dann kann es gelingen, dass die Begleitung als hilfreich und auch entlastend erlebt wird.

Wie häufig sind komorbide Störungen?

Keine Frage, psychische Erkrankungen sind bei Transgender und non-binären Menschen extrem häufig zu diagnostizieren. Bis zu 80 Prozent der Betroffenen schildern Selbstwertprobleme, Ängste, Depressionen oder andere psychische Symptome. Die meisten Betroffenen beschreiben depressive Phasen, weil sie unter ihrem „Falsch-Sein“ leiden, den Körper bzw. vor allem die typisch gegengeschlechtliche Entwicklung ablehnen und sich selbst nicht mehr betrachten können. Ebenso häufig treten Angsterkrankungen auf, weil sich die Betroffenen von ihrem Umfeld abgelehnt erleben oder gar nicht mehr unter Menschen trauen. Viele Betroffene leiden dann vor allem unter einem so genannten „schlechten Passing“. Natürlich gibt es auch in dieser Personengruppe psychische Erkrankungen, welche ganz unabhängig vom Trans-Sein zu betrachten sind und dann natürlich auch einer entsprechenden Behandlung bedürfen. Aber vieles deutet darauf hin, dass der Großteil des psychischen Leidens reaktiv ist. Langzeitstudien zeigen, dass das psychische Wohlbefinden der Transgender-Menschen im Verlauf des Transitionsprozesses deutlich zunimmt und gegen Ende sogar über dem einer Kontrollgruppe liegen kann.

Brauchen Psychotherapeut*innen für die Arbeit mit Transgender oder non-binären Menschen besondere Fähigkeiten oder Voraussetzungen?

Neben der Psychotherapieausbildung und der damit dann verbundenen Approbation benötigen wir formal gesehen keine weiteren Voraussetzungen. Eine Fort- oder Weiterbildung mag zwar sinnvoll sein, verpflichtend ist sie nicht. Aber, wir müssen verstehen, dass die psychotherapeutische Herangehensweise im Umgang mit Transgender und non-binären Menschen sich substanziell von einer „klassischen“ Psychotherapie unterscheidet. Transgender oder Non-Binärität sind keine Störungen, keine psychischen Erkrankungen und auch keine seelischen Konflikte, wenn wir von dem Leidensdruck, den sie auslösen, absehen. Dies stellt sowohl die AWMF-S3-Leitlinie als schließlich auch die ICD-11 klar. Wem es gelingt und wer dazu bereit ist, die Geschlechtsidentitätsdiffusion als eine entpathologisierte Normvariante zu betrachten, wer offen ist, sich auf eine sehr andere Art von Psychotherapie einzulassen, der kann und sollte mit dieser sehr dankbaren Klientengruppe arbeiten und wird es sicher nicht bereuen.

Was haben Sie durch Ihre Arbeit mit Transgender und non-binären Menschen gelernt?

Vieles, eigentlich alles, was ich hier und auch in meinem Buch geschrieben habe. Ich habe sicher viel an Fachliteratur gelesen und in Unmengen von Fachliteratur zur Vorbereitung des Buches recherchiert. Aber am meisten habe ich durch die Arbeit mit meinen Klient*innen gelernt. Ich habe Offenheit für ein auch für mich anfangs befremdliches Thema gelernt, ich habe eine andere Art von Psychotherapie gelernt und ich habe viel Dankbarkeit erfahren. Letztlich aber bin ich meinen Klient*innen dankbar für die Erfahrungen, die ich bei ihrer Begleitung machen durfte.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Dipl.-Psych. Marcus Rautenberg

Dipl. Psych. Marcus Rautenberg, geb. 1968. 1990–1997 Studium der Psychologie in Landau. Niedergelassener Psychotherapeut in eigener Praxis, Schwerpunkt: Verhaltenstherapie. Rechtspsychotherapeutischer Gutachter, Supervisor und Dozent im Rahmen der Ausbildung zur Psychotherapie. Arbeitsschwerpunkt: Transsexualismus, Persönlichkeitsstörungen, Kriminalpsychologie.

Seminarempfehlung

Webinare zur Psychotherapie für Transgender und non-binäre Menschen

Erhalten Sie einen Einblick in die Besonderheiten der psychotherapeutischen Begleitung für Transgender und non-binäre Menschen.

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