DeutschPflege und Health professionals

Transitional Care - die pflegerische Begleitung von Übergängen

Übergangssituationen können zu einer großen Herausforderung werden, z.B., wenn es nach einem langen Klinikaufenthalt zurück nach Hause geht oder aber in ein Pflegeheim. Damit solche Übergänge gelingen können, ist eine erfolgreiche Übergangspflege von großer Bedeutung. Wir haben mit Claudia Bernhard-Kessler, Autorin des neuen Buches „Übergangspflege – Transitional Care“ über die großen Chancen dieser Form der individualisierten Pflege gesprochen.

Übergangspflege Seniorin zuhause beraten nach Klinikaufenthalt

Könnten Sie kurz skizzieren, was man unter Übergangspflege – Transitional Care verstehen kann?

Sinngemäß bedeutet Übergangspflege, analog zum englischen Begriff „Transitional Care“, die pflegerische Begleitung von Übergängen. Insbesondere geht es dabei um Passagen im Leben eines Menschen, die mit Gesundheit und Krankheit sowie veränderten Lebenssituationen in Verbindung stehen und einen Unterstützungsbedarf zur Bewältigung erfordern.

Konkret kann eine pflegegeleitete Übergangspflege insbesondere zum Einsatz kommen, um betroffenen Menschen die Rückkehr vom Krankenhaus in das häusliche Umfeld zu erleichtern. Gemäß der Transition Theory nach Meleis (2001) verfolgen dabei die professionellen Interventionen immer das Ziel eines gesunden und gelungenen Übergangs, sowohl für den Betroffenen selbst als auch für seine involvierten Zu- und Angehörigen. Die Besonderheit liegt in der Berücksichtigung der unterschiedlichen Sichtweisen, die einen Übergang als „gelungen“ definieren, zumal jeder Mensch gemäß seiner individuellen Lebenswelt und Persönlichkeit diesen Zustand nach eigenen Maßstäben wahrnimmt und bewertet. Daraus ergibt sich eine große Herausforderung für die professionelle Begleitung, die geübt werden will und automatisch mit Wertehaltungen und ethischen Überzeugungen konfrontiert. Übergangspflege kann hier zur Lösung auf einen schon vielfach bewährten methodischen Prozess zurückgreifen.

Damit Sie einen besseren Einblick bekommen, möchte ich diesen Prozess kurz vorstellen. Obwohl organisatorisch immer derselbe Ablauf befolgt wird, gestaltet sich das inhaltliche Vorgehen individuell auf die betroffene Person und Situation bezogen. Ausgehend davon, dass Übergangspflege in einer stationären Einrichtung verortet ist, in der sich Patient*innen mit Risikofaktoren befinden, die sich negativ auf den Übergang nach Hause auswirken können, beginnt nach erfolgter ärztlicher Zuweisung ein erstes Kennenlernen auf der Station und die Planung eines differenzialdiagnostischen Ausgangs zur Erfassung der tatsächlichen Situation im häuslichen Umfeld. Darauf aufbauend wird das Ziel einer begleiteten Entlassung verfolgt, immer im Austausch im multiprofessionalen Team der Patient*innenversorgung. Da ein Übergang aber nicht mit der Entlassung, sondern erst mit einer Stabilisierung im häuslichen Umfeld endet, werden die Unterstützungsleistungen und professionellen Interventionen im Rahmen einer ambulanten Weiterbetreuung von mindestens einem Monat fortgeführt.

Gemäß dem ressourcenorientierten Ansatz „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist das Ziel ein weitgehend selbstbestimmtes, selbstständiges Leben zu führen, das natürlich Hilfen, Hilfsmittel usw. nicht ausschließt, jedoch immer in Hinblick darauf, die Lebensbewältigung der Betroffenen zu fördern und nicht durch gutgemeinte Unterstützungen einzuschränken.
 

Übergangspflege arbeitet unter anderem mit der Biografie der Klient*innen, wie wichtig ist in diesem Sinne die individualisierte Pflege im Konzept?

Wie Eingangs angesprochen, hat jeder Mensch seinen eigenen Lebensentwurf und definiert je nach dem, was in seinem Leben als positiv oder negativ bewertet wird. Eine Pflege, die auf Individualisierung ausgerichtet ist, muss sich automatisch mit der Lebensgeschichte des betroffenen Menschen beschäftigen - woran sonst sollen sich die gesetzten Maßnahmen orientieren? Oder noch wichtiger – wie sollen Verhaltensweisen richtig gedeutet werden?

Stellen Sie sich zum Beispiel folgende Situation von Herrn D. vor. Nach einem Sturz im häuslichen Umfeld liegt er mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenbett und wird nach mehrfachen Versuchen selbst aufzustehen medikamentös beruhigt. Auffällig ist, dass er auch nach Beendigung der Bettruhe und Absetzen der Medikation, sich plötzlich verweigert aufzustehen, obwohl er funktional dafür wieder in der Lage wäre. Aus seiner Biografie geht hervor, dass er sein Leben lang hart gearbeitet hat, schon in seiner Kindheit gab es keine Krankheit, die ihn länger ins Bett zwang. Begleitet vom Aphorismus seines Vaters: „Im Bett sterben die Leit“.  Hingegen scheint Frau E.,  die ebenfalls durch eine Fraktur kurzzeitig immobil wird, die Bettruhe gut zu tun. Sie befolgt auch beflissentlich die Anweisungen der Pflege und Therapeut*innen, um wieder mobil zu werden, aber eben nur in deren Anwesenheit. Denn schon ihre Mutter habe sie immer liebevoll bei Krankheit gepflegt und genau gewusst, was gut für sie ist. Im Gegensatz zu Herrn D., der vermutlich seine gezwungene Inaktivität als Versagen wertet und aufgibt, können sich die pflegerischen Umsorgungen für Frau E. positiv auf ihre Bedürfnisbefriedigung auswirken, jedoch reduzieren sie gleichzeitig ihre Selbstständigkeit und -entscheidung. Obwohl sich durch die ähnliche Kausalität beider Situationen, die medizinischen und pflegerischen Maßnahmen zur Grundversorgung sowie die Zielorientierung im Krankenhaus kaum voneinander unterscheiden werden, sind im Sinne einer Individualisierung, differenzierte Herangehensweisen nötig, die sich an der Biografie orientieren. Zumal sowohl Frau E. als auch Herr D. zukünftig wieder ihr Leben zu Hause bewältigen möchten. Die Interventionen im Rahmen der Begleitung des Übergangs werden sich demnach bei Frau E. auf Förderung ihrer Selbsttätigkeit durch positive Verstärkung und klare Anleitung beziehen, hingegen wird Herr D. eher auf eine Reizanflutung ansprechen, die ihn aus seiner Lageorientierung holt. Zum Beispiel wäre der oben genannte  Aphorismus aus der Biografie von Herrn D. dafür vielversprechend.

Übergangspflege gehört zu aktivierenden bzw. reaktivierenden Pflege, dabei spielt Motivation eine große Rolle, wie gelingt es, diese zu wecken und können damit auch demente Menschen erreicht werden? Können Sie uns ein Beispiel geben?

Die Beschäftigung mit den Hintergrundtheorien menschlicher Motivationen nimmt in meiner Publikation einen gewichtigen Stellenwert ein. Schon allein deshalb, weil Motivation als ein zielgerichtetes Handeln in Verknüpfung mit individuellen Persönlichkeitsvariablen definiert wird und demnach ein selbstgesteuerter Prozess ist (Heckhausen & Heckhausen, 2018). Im Gegensatz dazu kann eine Motivierung auch als Fremdbestimmung gesehen werden (Sprenger, 2014). Natürlich muss diese Aussage differenziert betrachtet werden und soll nicht die Bedeutung der Motivationsarbeit in der Pflege schmälern, aber es zeigt auf, dass die Auseinandersetzung mit der Motivation sowie mit den Begriffen „Aktivierung“, „Reaktivierung“ vs. „Versorgung“, nicht nur Wissen erfordert, sondern zugleich mit persönlichen Hintergrundhaltungen konfrontiert.

Stellen Sie sich weiterführend zum oben genannten Fallbeispiel folgenden Eintrag in der Pflegedokumentation vor: „… Herr D. verweigert heute trotz Motivierung im Rahmen der aktivierenden Pflege den Stehversuch, Körperpflege findet im Bett statt…“ Welche Konsequenzen folgen nun daraus? Muss sich das Verhalten von Herrn D. ändern – „er soll doch endlich aufstehen!“ –  oder können wir pflegerisch unsere Interventionen an das Verhalten von Herrn D. anpassen? Ist der aktivierende Zugang in dieser Situation der Richtige oder wäre eine Reaktivierung angebracht? Zumal in diesem Beispiel die Pflegeperson mit einer Übernahme der Körperpflege im Sinne einer Versorgung reagiert. Lehr (2007) verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Pflege grundsätzlich die Aktivitäten einer betreuten Person fördern und nicht übernehmen soll, solange noch Ressourcen dafür zur Verfügung stehen.

Einer der deutschsprachigen Pioniere ist aus meiner Sicht Professor Erwin Böhm, der die „versorgende“ Pflege besonders kritisch betrachtete und diese einer unreflektierten Übernahme der Erfüllung der Grundbedürfnisse gleichstellte. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Reaktivierung gelenkt, zumal die Pflege, nicht zuletzt der demographischen Entwicklung geschuldet, häufig mit Menschen mit kognitiven Defiziten und dementiellen Entwicklungen konfrontiert ist. Im Unterschied zur Aktivierung benötigt es in der reaktivierenden Pflege individuelle Anreize und Trainingsprogramme zur Förderung vermeintlich verlorener Fähigkeiten des Alltags (Böhm, 2004; Böhnisch, 2018). Am Beispiel von Herrn D. würde sich als Schlüsselreiz zur Reaktivierung der Ausspruch: „Im Bett sterben die Leit“ anbieten.

Oder ein anderes allgemeineres Beispiel: Eine ältere Dame mit diagnostizierter Alzheimerdemenz und beginnenden Sprachzerfall liegt im Krankenhaus in ihrem Bett und schaut ins „Leere“. Aus den Erzählungen der Tochter geht hervor, dass Musik einen hohen Stellenwert in ihrem Leben einnahm. Auch hier gibt es einfache Möglichkeiten zur Reaktivierung, wie z. B. vorsingen oder Musik abspielen… Gerade Menschen mit Demenz benötigen Motivationsarbeit, insbesondere im Sinne der Reaktivierung gemäß ihrer biografischen Prägungen.

Transitional Care ist ein vielversprechendes Konzept und in der Praxis bewährt – was sind für Sie die großen Vorteile, warum lohnt sich Übergangspflege?

Um den Auswirkungen unserer demografischen Entwicklung, den Anstieg von Menschen mit Demenz und Abhängigkeiten, gepaart mit Versorgungsengpässen durch den Mangel an Pflegekräften, konstruktiv entgegenzutreten, zeigt gerade dieser besondere Pflegeansatz seine Relevanz auf. Zumal die Methoden, im Sinne der Hilfe zu Selbsthilfe und dem systemischen Ansatz, sich auch entlastend auf unsere angespannte Versorgungs- und Pflegesituation auswirken können. Somit kann die Übergangspflege als ein Lösungsansatz der aktuellen Situation gesehen werden.

Einen weiteren Vorteil sehe ich in der sinnstiftenden Arbeit einer Übergangspflege. Ich persönlich habe die zwanzig Jahre, in denen ich dieser Tätigkeit nachgegangen bin, als sehr wertvoll empfunden, nicht zuletzt durch den Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe. Als Expert*innen für ihr eigenes Leben sind Lösungen für aktuelle Lebensschwierigkeiten vor allem bei den Betroffenen selbst und deren System zu finden. Häufig sind diese jedoch im Verborgenen und bedürfen Unterstützung und geeignete Rahmenbedingungen zur Entfaltung. Vor allem ist es diese Begleitung zur einer (wieder-) gelingenden Lebensbewältigung, die sich lohnenswert auf die Arbeitszufriedenheit einer Pflegeperson auswirken kann.

Insbesondere sehe ich die Übergangspflege als wertvollen Ansatz in der Betreuung von Menschen mit Demenz. Durch die beschriebenen Trainings zur Reaktivierung im Rahmen der Biografiearbeit, bleiben sie länger aktiv und selbstbestimmt. Ebenso können die meist stark belasteten Zu- und Angehörigen durch den systemischen Ansatz unterstützt und entlastet werden. Gerade die Arbeit mit Menschen mit Demenz und deren Lebensgeschichten, nimmt für mich einen ganz besonderen und lehrreichen Stellenwert ein. Sobald sich ein Verstehen der häufig herausfordernden Verhaltensweisen einstellt, bedarf es oft weniger Worte zur Regulierung des Verhaltens, wobei die Interaktion vorwiegend über eine emotionale Ebene stattfindet. Der Ausspruch einer schwer dementen Dame wird mir dabei immer im Gedächtnis bleiben. Am Ende meines häuslichen Besuchs verabschiedete sie mich mit den Worten: „Heute haben sich unsere Seelen berührt“!

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Literaturnachweis

Böhm, E. (2004). Psychobiografisches Pflegemodell nach Böhm, Band I (3. Aufl.). Wilhelm Maudrich.

Böhnisch, L. (2018). Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung (8. erweitere Aufl.). Beltz Juventa.

Heckhausen, J. & Heckhausen, H. (2018). Motivation und Handeln (5. überarbeitete und erweiterte Aufl.). Springer.

Lehr, U. (2007). Psychologie des Alterns (11. vollständig überarbeitete Aufl.). Quelle & Meyer.

Meleis, A. I. (2010). Transitions theory: Middle range and situation specific theories in nursing research and practice. Springer.

Sprenger, R. K. (2014). Mythos Motivation. Wege aus der Sackgasse (20. aktualisierte Aufl.). Campus.

 

Claudia Bernhard-Kessler

Claudia Bernhard-Kessler, ANP und Erziehungswissenschaftlerin, geboren 1972, lebt mit ihrer Familie in Salzburg. Seit ihrem 19. Lebensjahr ist sie im Gesundheitswesen tätig, überwiegend im Krankenhaussetting. Ihrer Ausbildung zum gehobenen Dienst in der Gesundheits- und Krankenpflege folgten zwei Hochschulabschlüsse im Fachbereich Erziehungswissenschaft und zuletzt in der Pflegewissenschaft. 20 Jahre war sie in der Übergangspflege tätig und entwickelte diese weiter. Der Wunsch, diesen besonderen Pflegeansatz im Rahmen eines Ressourcenparadigmas weiterzugeben, mündete in ein Buchprojekt mit dem Schwerpunkt „Hilfe zur Selbsthilfe“.

Foto: www.fotohofer.at

Empfehlung des Verlags

Übergangspflege - Transitional Care
Übergangspflege - Transitional Care

Pflegetheoretische Begründungen und pflegepraktische Umsetzungen

von Claudia Bernhard-Kessler