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Trauernde Kinder und Jugendliche psychologisch begleiten

Franziska Bobillier ist Autorin des Fachbuchs „Trauernde Kinder und Jugendliche psychologisch begleiten“. Im Buch gibt sie konkrete Handlungsempfehlungen für die psychologische Trauerbegleitung von Kindern, Jugendlichen, Familien und deren Bezugspersonen. Wir haben mit ihr über das Buch und ihre Arbeit mit trauernden Kindern gesprochen.

Trauer Kind und Mutter Trauer bei Kindern Trost

Frau Bobillier, wie sind Sie zum Thema trauernde Kinder und Jugendliche gekommen, warum haben Sie dieses Fachbuch geschrieben?

Als ich das erste Mal mit dem Thema Tod und Trauer in der Praxis zu tun hatte, fiel mir überhaupt erst auf, dass dieses Thema in meiner gesamten Weiterbildung wie bei vielen anderen Psycholog*innen nie vorkam. Somit begann ich zu recherchieren und fand kein Fachbuch für Kinder- und Jugendpsycholog*innen, das Theorie und Praxis in dieser Form spezifisch für Kinder- und Jugendpsycholog*innen verbindet. Und je mehr ich recherchierte, Fachpersonen interviewte und zahlreiche Weiterbildungen besuchte, desto umfassender wurde mein Manuskript. Und dann fragte mich mein Mann eines Abends „Warum schickst du das Manuskript nicht mal an ein paar Verlage?“

Das Buch, schreiben Sie, soll helfen, „dem Unaussprechlichen eine Sprache zu schenken“ – warum ist es so schwierig, über Trauer und Tod zu sprechen?

Dies ist eine sehr wichtige Frage, zu der ich etwas ausholen möchte. Kurzgefasst: weil wir Erwachsenen es uns selbst schwermachen.

Wenn der Tod in die Kernfamilie kommt, ist das eine einschneidende und potenziell traumatisierende Erfahrung für die ganze Familie, jedoch v.a. für Kinder und Jugendliche. Es ist eine Erfahrung, die v. a.  Erwachsene sprachlos macht, sie möchten die Kinder schützen, sie möchten nichts falsch machen und dann müssen sie auch noch ihre eigene Trauer und Betroffenheit aushalten. Die Sprachlosigkeit funktioniert hier wie ein Vakuum in der Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern/ Jugendlichen: Vielen Erwachsenen und auch Fachpersonen fehlt eine angemessene Sprache hinsichtlich Sterben, Tod und Trauer. Ich beobachte hier oft eine riesige Unsicherheit, denn: Alles was uns sprachlos macht, macht uns auch hilflos. Erwachsene versuchen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Sozialisation bzw. Lerngeschichte, in der Sterben, Tod und Trauer noch heute oft tabuisiert wurde und wird, dieses Sprachvakuum bestmöglich zu befüllen:

Erstens: Viele Erwachsene wissen nicht, wie sie Kindern z.B. den Tod erklären können (von Suizid gar nicht zu sprechen) oder enthalten Kindern Informationen oder sogar die Teilnahme an Ritualen vor, auch aus Angst, sie andernfalls zusätzlich zu belasten. Dabei wird auch die Begrifflichkeit rund um den Tod weichgespült („der Papa ist sanft eingeschlafen“), damit es weniger schlimm erscheint. Diese unklare blumige Sprache macht es für das Kind aber nur diffuser und beängstigender („Wacht die Mama dann aus dem Mittagschlaf wieder auf?“).

Zweitens wird das Vakuum scheinbar befüllt mit nicht hilfreichen Floskeln, die „man“ dann sagt. Um zu trösten, um etwas Nettes oder Intelligentes zu sagen („Jetzt wo der Papa tot ist, bist du der Mann im Haus!“). Das ist eigentlich immer gut gemeint, aber gut gemeint ist nicht immer gut. Wir denken, dass wir solche Worte an das trauernde Kind richten, um es zu trösten, aber eigentlich tun wir dies, weil wir Erwachsenen unsere eigene Hilflosigkeit nicht aushalten können. Deswegen greifen wir in unserer Hilf- und Sprachlosigkeit auf Floskeln zurück, die wir in unserer eigenen Lebensgeschichte erlernt haben, einfach weil wir nicht wissen, was wir anstelle dessen tun oder sagen könnten.

Drittens wird dieses Vakuum durch das Tabuisieren aufrechterhalten: So kann ein Teufelskreis des reziproken Schützens entstehen: Erwachsene wollen das Kind schützen, indem sie den Tod möglichst wenig thematisieren. Kinder haben ein sehr feines Gespür und lernen sehr schnell, was Tabu ist. In der Folge sprechen sie selbst den Tod auch nicht an, um die erwachsene Person vor deren Traurigkeit zu schützen und die Erwachsenen denken sich (oft sehr erleichtert): „Gut, wenn das Kind nicht fragt, werde ich es nicht zusätzlich belasten und Tod und Trauer thematisieren.“

All diese Punkte weisen darauf hin, dass wenn wir eine Sprache für etwas haben, wird dieses etwas somit fassbarer, begreifbarer, wir haben einen Begriff von dem, was geschieht und somit erhöht dies unsere Handlungsfähigkeit. Deswegen war mir sehr wichtig, mithilfe des Fachbuchs eine angemessene Sprache anzubieten, die es Erwachsenen ermöglicht, trauernde Kinder und Jugendliche beim Erlernen eines gesunden Umgangs mit Tod und Trauer zu unterstützen. Denn diese brauchen mehr als alles Ehrlichkeit, offene Gesprächsangebote und unser Vertrauen in sie, dass sie das schaffen können.

Trauern Kinder anders? Ab wann können Kinder begreifen, was der Tod bedeutet?

Aus der Perspektive der Erwachsenen wirkt Kindertrauer oft viel sprunghafter: Sie springen in eine „Trauerpfütze“ hinein, und ehe man es sich’s versieht auch wieder hinaus, was vollkommen normal ist und eine natürliche Trauerbewältigung darstellt. Dies wird von Erwachsenen aber oft fehlinterpretiert, da es ihrem eigenen Bild davon, wie ein Kind zu trauern hat, widerspricht. Plieth (2001) beschreibt die Entwicklung des kindlichen Todeskonzepts anhand der vier Aspekte Nonfunktionalität (Stillstand der Körperfunktionen), Endgültigkeit (Tod ist irreversibel), Allgemeingültigkeit (alle Lebewesen müssen einmal sterben) und Kausalität (Todesursache ist biologisch), die in dieser Reihenfolge nach und nach vom Kind verstanden werden. Mit etwa 12 Jahren begreifen die meisten Kinder alle vier Aspekte. Viele gehen davon aus, dass kleine Kinder den Tod nicht verstehen. Auch wenn sie es kognitiv noch nicht begreifen, bedeutet das nicht, dass sie nicht einen Verlust betrauern! Das kindliche Verständnis vom Tod kann dadurch gefördert werden, in dem wir sie in eine Welt der Begrifflichkeit rund um den Tod genauso natürlich hineinwachsen lassen, wie bei anderen Themen auch.

In der ICD-11 wurde der Begriff der „anhaltenden Trauerstörung“ aufgenommen, im DSM-5 spricht man von „anhaltender komplexer Trauerreaktion“ – kann Trauer pathologisch werden?

Ich persönlich nehme hier eine kritische Haltung ein, da grundsätzlich niemand einem vorschreiben kann, wie und wie lange man zu trauern hat und was hier „normal“ ist, vor allem nicht bei Kindern und Jugendlichen. Außerdem beruhen die Daten, die der Diagnose zugrunde liegen, hauptsächlich auf Studien mit älteren und verwitweten Trauernden. Es ist für mich daher fraglich, inwiefern dies auf den Referenzrahmen „Kinder und Jugendliche“ ausgedehnt werden kann. Eine Diagnose per se ist nur ein Etikett und für mich nur relevant, wenn sie eine hilfreiche Funktion hat, wie z.B. eine Behandlungskostenübernahme durch die gesetzliche Krankenkasse. Gleichzeitig erhoffe ich mir, dass die Aufnahme der Diagnose in DSM-5 und ICD-11 dazu führt, dass das Thema in der psychologischen Forschung, fachlichen Ausbildung und in der Praxis mehr Beachtung findet, vor allem hinsichtlich trauernder Kinder und Jugendlicher bzw. überlebender Geschwister, die heute oft treffend und nicht umsonst auch „die vergessenen Trauernden“ genannt werden.

Ein Thema im Buch ist Suizid – leider besonders aktuell, weil auch die Zahlen im Verlauf der Corona-Pandemie deutlich angestiegen sind. Welche Rolle spielt Suizidalität bei trauernden Kindern und Jugendlichen?

Suizidalität bei trauernden Kindern und Jugendlichen ist ein wichtiges Thema. 2017 war Suizid in der Schweiz ab dem Alter von etwa 15 Jahren bis zum Alter von 34 Jahren die häufigste Todesursache (BFS). Wenn sich Geschwister suizidieren, weisen überlebende Schwestern (respektive Brüder) ein dreimal (respektive zweimal) höheres Risiko auf, ebenfalls an einem Suizid zu sterben. Die Kinder- und Jugendpsychiatrien in der Schweiz verzeichnen seit Beginn der Coronapandemie bis zu etwa eine Verdopplung der Einweisungsanzahl infolge von Suizidversuchen bei Jugendlichen, wobei die Gründe für die Suizidversuche sich per se nicht verändert haben. Jedoch hat die Pandemie die Risikofaktoren verstärkt (meist Traurigkeit, Einsamkeit und Zukunftsängste). Suizidgedanken kommen häufig vor, und besonders oft im Trauerfall: Häufig wünschen sich betroffene Kinder und Jugendliche, im Tod mit der Verstorbenen Person wieder vereint zu sein. Es ist hier zentral, dass Kinder und Jugendliche mit Fachpersonen lernen, ihre Suizidalität zu managen. Hilfreich ist auch die Erfahrung, dass ihre Trauer sie vielleicht ihr Leben lang begleitet, aber dass ihr Leben dennoch lebenswert ist und dass sie auch wieder glücklich sein dürfen.

Sie haben ein Handbuch für die Praxis geschrieben, dabei spielt das „Duale Prozessmodell der Trauerbewältigung“ (DPM) nach Stroebe und Schut eine große Rolle. Welche Vorteile hat das Modell?

Es geht bei dem Modell nicht darum, Trauerphänomene zu beschreiben, sondern aufzuzeigen, wie Menschen ihre Trauer bewältigen. Früher waren Phasenmodelle etablierter, jedoch finden sich viele Trauernde nicht darin wieder. Das DPM beschreibt die Trauerbewältigung als einen dynamischen Regulationsprozess zwischen verlustorientierten (z.B.: früher habe ich mit Mama den Tannenbaum geschmückt) und wiederherstellungsorientierten (wie gestalten wir diese Weihnachtstradition neu?) Alltagserfahrungen, zwischen denen die trauernde Person oszilliert. Vorteile des Modells sind, dass auch traumatische Trauerprozesse erklärt werden können (fehlendes Oszillieren), sowie Unterschiede in der Art zu trauern bei Männern und Frauen und vor allem ist es auch in der Arbeit mit trauernden Kindern und Jugendlichen sehr gut anwendbar, unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischen Fachwissens. Kindertrauer ist oft viel dynamischer und sprunghafter, d.h., sie oszillieren schneller als Erwachsene zwischen verlust- und wiederherstellungsorientierten Alltagserfahrungen. In meinem Buch dient das DPM als Gerüst für die Zusammenstellung von knapp vierzig Interventionen, die in der psychologischen Begleitung mit trauernden Kindern und Jugendlichen individuell angepasst werden können. Das Modell schenkt Trauernden also eine nachvollziehbare Landkarte ihrer eigenen Trauerbewältigung, gleichzeitig wird es durch seine Flexibilität in der Handhabung auch trauernden Kindern und Jugendlichen gerecht, was den Trumpf dieses Modells für mich ausmacht.

Wer kann das Handbuch nutzen?

In erster Linie ist es für Kinder- und Jugendpsycholog*innen bzw. -therapeut*innen gedacht, jedoch ist es für alle interessant, die mit trauernden Kindern und Jugendlichen zu tun haben, d.h. Fachpersonen aus der Medizin, Seelsorge und Kirche, Sozialarbeit, Schule und betroffene Eltern und andere Erwachsene, die im Kontakt mit trauernden Kindern und Jugendlichen sind. Da Kindergarten und Schule einen wichtigen Teil der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen darstellen, war mir auch wichtig, schulpsychologische Aspekte miteinzubinden.

Ein wichtiges Thema ist Selbstfürsorge in der Trauerbegleitung. Was hilft Ihnen selbst, um Kraft zu schöpfen und die eigenen Ressourcen zu bewahren?

Das ist oft gar nicht so einfach. Mir hilft die Meditation „Mitgefühl mit Gleichmut“ von Neff & Germer. Meine Kinder zwingen mich immer wieder (auf schöne Art), im Hier und Jetzt zu leben und das Leben zu genießen. Mein Mann ist Philosoph und Bioethiker, gerade bei belastenden Situationen zeigt er mir in Gesprächen immer wieder philosophische Perspektiven auf, die mich nicht nur bereichern, sondern mir auch Boden unter den Füssen schenken. Im Alltag hilft es mir ansonsten, sehr auf meine Grundbedürfnisse Schlaf, Essen und auf Arbeitspausen zu achten. In sehr schwierigen Zeiten hilft es mir, dem miterlebten Leid, etwas Positives, Nährendes nur für mich selbst entgegenzusetzen, indem ich mich aktiv Schönem zuwende: Dann gehe ich umso mehr in Kunstausstellungen, genieße ein gutes Parfum, mache selbst Musik oder höre Bachs Goldbergvariationen.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Franziska Bobillier

Franziska Bobillier ist Psychologin M. Sc. und Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychologie FSP in der Schweiz. Sie ist zudem diplomierte Erziehungsberaterin – Schulpsychologin sowie angehende Fachpsychologin für Psychotherapie FSP (M.A.S. Kognitive Verhaltenstherapie mit Schwerpunkt Kinder und Jugendliche). Aktuell ist die Autorin an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Ambulatorium in Biel/Bienne-Seeland tätig.