Umgang mit Testnormen von Schultests in Corona-Zeiten
In Corona-Zeiten sind Schulen immer wieder von Schließungen betroffen. Die Herausgeber*innen der Reihe Hogrefe Schultests erläutern, welche Erkenntnisse derzeit zu den Auswirkungen auf schulische Leistungen vorliegen und geben Hinweise zum Umgang mit Testnormen von Schultests.
Die Unterrichtsausfälle durch pandemiebedingte Schulschließungen im vergangenen Jahr werfen eine Reihe von Fragen auf. Öffentlich diskutiert werden dabei vor allem Fragen rund um die Möglichkeiten des Unterrichts auf Distanz. Aber auch viele Fachkräfte, die mit der individuellen Diagnostik schulischer Leistungen beauftragt sind, fragen sich, ob eigentlich die Testnormen der etablierten Schultests derzeit für die Bewertung individueller Leistungs- und Kompetenzniveaus geeignet sind. Sind die Schätzungen von Kompetenzniveaus und vieler psychosozialer Merkmale auf der Basis der vorliegenden Normen eigentlich fair? Ist nicht mit niedrigeren Werten der „Corona-Kohorte“ durch die deutlich ungünstigere Beschulung im Vergleich zu der Beschulungssituation bei der Testnormierung zu rechnen?
Datenlage zu Auswirkungen der Schulschließungen auf Schulleistungen
Diese Bedenken sind gut nachvollziehbar. Der Verdacht, dass die Schulschließungen insbesondere bei Grundschulkindern zu Einbußen im Erwerb der basalen Fertigkeiten im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen führen, wurde bereits im Frühjahr 2020 von vielen Experten geäußert. Mittlerweile liegen Analysen zu Daten aus der Schweiz, aus Belgien und aus den Niederlanden vor, die suggerieren, dass die durchschnittlichen Schulleistungen (gemessen an standardisierten Schulleistungstests) im Grundschulalter durch die Pandemie abgesunken sind. In der Sekundarstufe lässt sich das mit den derzeit eher bescheidenen Datensätzen nicht eindeutig belegen. Allerdings darf man sich diese Leistungseinbußen nicht so vorstellen, dass sich einfach bei konstanter Verteilung der Leistungen der Mittelwert nach unten verschoben hat. Stattdessen gibt es etwa in den niederländischen Daten Hinweise darauf, dass die pandemiebedingten Leistungseinbußen besonders deutlich bei Kindern aus eher bildungsfernen Familien ausfallen. Auch gibt es Hinweise darauf, dass Grundschulkinder, die schon vor der Pandemie Schwächen beim Erwerb von Schriftsprache und Mathematik zeigten, durch die Schulschließungen weiter „abgehängt“ wurden.
Schlussfolgerungen für die Nutzung von Testnormen
Was bedeutet das für die Nutzung der Testnormen? Grundsätzlich sind sie so wie bisher die besten Schätzer für die erreichten Kompetenzniveaus der Schüler*innen. Werden die Normen für Platzierungsentscheidungen genutzt (also etwa zur Frage, ob ein Kind von der Regelschule auf eine Förderschule wechseln sollte), sollte man sich darüber im Klaren sein, dass die Nutzung der Normen möglicherweise eine Unterschätzung des potenziellen Kompetenzniveaus des Kindes im Vergleich mit den Kindern der eigenen Kohorte mit sich bringt. Hier sollte geprüft werden, ob die Entscheidung auch gerechtfertigt bleibt, wenn man Normdaten verwendet, die sich auf die Leistungen beziehen, die ein halbes Jahr früher erwartet wurden. Im Zusammenhang mit der Feststellung, ob eine Lernstörung oder „Umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten“ im Sinne der ICD-10 vorliegt, ist zu bedenken, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass festgestellte Leistungsdefizite durch mangelnde Beschulung im letzten und im laufenden Schuljahr zustande gekommen sein können. Wird jedoch die Diagnostik im Zusammenhang mit der Präzisierung des Förderbedarfs von Schüler*innen durchgeführt, ist die Verwendung der verfügbaren Normen sinnvoll, um bestehende Leistungsdefizite aufzudecken und passende Fördermaßnahmen einzuleiten.
Prof. Dr. Marcus Hasselhorn
Prof. Dr. Marcus Hasselhorn, geb. 1957. 1977–1983 Studium der Psychologie in Göttingen und Heidelberg. 1983-1985 Promotionsstipendiat am Max-Planck-Institut für Psychologische Forschung in München (Arbeitsbereich: Prof. Dr. Franz Weinert). 1986 Promotion. 1985-1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Georg-August Universität Göttingen. 1992-1993 Vertretungsprofessur für Entwicklungspsychologie an der Universität Koblenz-Landau. 1993 Habilitation. 1993-1997 Professor für Entwicklungspsychologie an der Technischen Universität Dresden. 1997-2007 Professor für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie an der der Georg-August Universität Göttingen. Seit 2007 Professor für Psychologie mit dem Schwerpunkt Bildung und Entwicklung an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor der Abteilung Bildung und Entwicklung am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Frühe Bildung, pädagogisch-psychologische Diagnostik, Lernstörungen.
Prof. Dr. Claudia Mähler
Prof. Dr. Claudia Mähler. Seit 2008 Professorin für Pädagogische Psychologie und Diagnostik an der Universität Hildesheim. Leitung der Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche KiM - Kind im Mittelpunkt.
Prof. Dr. Tobias Richter
Prof. Dr. Tobias Richter. Seit 2016 Professor für Pädagogische Psychologie an der Universität Würzburg.
Prof. Dr. Ulrich Trautwein
Prof. Dr. Ulrich Trautwein. Seit 2008 Universitätsprofessor für Empirische Bildungsforschung an der Universität Tübingen.
Lernen Sie in diesem Seminar die Ergebnisse standardisierter Verfahren aus dem Kinder- und Jugendbereich richtig zu interpretieren und zu kommunizieren.
In diesem Seminar werden aktuelle Forschungsergebnisse zur „Lese- und Rechtschreibschwäche“ diskutiert und Kriterien vorgestellt, die es erlauben diagnostische Instrumente nach verschiedenen Gesichtspunkten zu beurteilen.