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Ungeheuer wütend – wie man seine Wut zähmen kann

Im Bilderbuch „Ungeheuer wütend“ wird die Geschichte einer kleinen Prinzessin und ihres Drachens erzählt, der seine Wut nicht bezähmen kann. Am Ende lernt er – und die Leser*innen der Geschichte – wie man mit seinen Wutausbrüchen umgehen und seine Gefühle regulieren kann. Das von René Amthor wunderbar illustrierte Buch ist für Kinder zwischen 5 und 9 Jahren und ihre Bezugspersonen geeignet. Wir haben mit der Autorin Nora Völker-Munro über positive und negative Seiten von Wut gesprochen und warum es wichtig ist, Gefühlen einen Raum zu geben.

Wie entsteht eigentlich Wut, ist das bei allen Menschen gleich oder gibt es Unterschiede? Es scheint ja so, dass einige Menschen – und offenbar auch Drachen – leichter wütend werden?

Ganz allgemein werden wir immer dann wütend, wenn etwas nicht so ist, wie es aus unserer Sicht sein sollte. Jemand verhält sich uns gegenüber respektlos, wir kommen in einem Computerspiel nicht weiter oder der Autofahrer vor uns schneidet uns den Weg ab. Wenn wir wütend sind und dem Grund für unseren Ärger auf die Spur kommen wollen, dann können wir uns fragen: Was hätte ich mir in dieser Situation stattdessen gewünscht? Unsere Wut weist uns darauf hin, dass ein Grundbedürfnis oder ein Wunsch in der jeweiligen Situation nicht erfüllt oder bedroht wurde.

Es gibt große Unterschiede wie gut Kinder, aber auch Erwachsene, mit solchen Frustrations- und Stresssituationen umgehen können. Zum einen liegt das an unserem Temperament - die Forschung zeigt, dass schon Säuglinge unterschiedlich stark auf Irritationen reagieren – zum anderen an unserer Lerngeschichte und an der Frage, wie gut wir die Fähigkeit zur Emotionsregulation bereits gelernt haben. Mit Blick auf ein Kind können wir uns also fragen: Wie wurde es bisher durch einen Wutausbruch begleitet? Inwieweit gelingt es den Eltern selbst ihre Wut zu regulieren? Und hat das Kind bereits Strategien gefunden, um sich selbst zu beruhigen? Kann es die Wut benennen und andern mitteilen was ihm so wichtig gewesen wäre? Wir sehen: Es ist gar nicht so leicht! Auch der Drache im Buch hat hier einen weiten Weg vor sich: Er kann nicht verlieren, er ärgert sich, dass er nicht in der königlichen Kutsche mitfahren darf, er kann es nicht ertragen, dass seine liebste Freundin, die Prinzessin ungerecht behandelt wird und ist außer sich, dass es statt seinem Lieblings-Apfelkuchen Pflaumenkuchen gibt.

Beim Buch „Huch, die Angst ist da!“ hat man schon gelernt, dass Gefühle positive und negative Seiten haben können. Wie ist das bei der Wut? Wann ist sie eher problematisch?

Problematisch wird die Wut, wir impulsiv reagieren, dann zeigt sie sich von ihrer zerstörerischen Seite. Gerade bei der Wut geraten wir leicht in den „Kampf-Modus“: Wenn wir unseren Impulsen freien Lauf lassen, schlagen, treten, schubsen oder beißen wir womöglich und verletzten dabei andere, uns selbst oder beschädigen unsere Umgebung. Es ist normal, dass kleinere Kinder ihre Impulse noch weniger gut steuern können, mit der Zeit erwarten wir von ihnen aber immer mehr. Wenn ein älteres Kind noch immer Mühe mit Wutausbrüchen hat, sind seine Bezugspersonen oft sehr gefordert. Nicht selten entsteht ein Teufelskreislauf: Wir bestrafen die Grenzverletzungen mit Abwertung, Privilegienentzug oder sozialem Ausschluss - dabei fühlt sich das Kind unverstanden und ungerecht behandelt. In der Folge wird es sich entweder geschlagen geben oder es wird weiterkämpfen – beides hilft ihm letztendlich jedoch nicht dabei, die Fähigkeit der Emotionsregulation zu lernen. Unserem Drachen im Buch geht es genauso: Alles, was das Königspaar versucht, um die Drachenwut in den Griff zu bekommen, verschlimmert die Situation. Bis es eines Tages im Thronsaal eskaliert, der Drache eine Wache ins Bein beißt und er in der Folge in den Wald verbannt wird. Doch auch diese schlimme Strafe hilft nicht, um die Drachenwut zu besiegen …

Und warum kann Wut auch positiv sein?

Wut hat eine wichtige Aufgabe: Sie warnt uns, hilft uns für uns einzustehen und uns zu schützen. Wenn wir den Kontakt zu unserer Wut verlieren, dann bemerken wir nicht rechtzeitig, wenn andere unsere Grenzen verletzen, sagen „ja“, wenn wir eigentlich „nein“ meinen oder machen gute Miene zum bösen Spiel. Die positive Seite der Wut ist also, dass sie wie eine Art „Warnsystem“ dienen kann: „Achtung! Hier passiert etwas mit dem du nicht einverstanden bist - etwas das deine Werte verletzt!“ oder „Vorsicht! Du hast gerade keine Kraft noch xy zu tun - achte auf deine Bedürfnisse!". Ein wütender Gesichtsausdruck hilft uns darüber hinaus unser Anliegen zu kommunizieren. Forscher konnten zeigen, dass jede einzelne Komponente des Wutausdrucks (Lippen zusammenpressen, Stirnrunzeln, Nasenflügel aufblähen) uns in den Augen anderer Menschen stärker und größer erscheinen lässt. Unser Gesicht sagt damit: „Pass bloß auf, ich bin stärker als du!“.

Es wird davon ausgegangen, dass es dabei nicht nur darum geht bedrohlich zu wirken, sondern auch Verhandlungsmacht zu gewinnen. Damit gelingt es uns besser: Nein zu sagen, faire Konditionen für uns auszuhandeln, uns durchzusetzen und unsere Grenzen zu setzen und zu wahren. Auch am Ende des Buchs kommt die positive Kraft der Wut zum Vorschein: Dem Drachen und der Prinzessin gelingt es gemeinsam, mit einem angsteinflößenden Drachenflug, die Eindringlinge von der Burg zu vertreiben!

Meistens lernt man ja eher, seine Wut zu unterdrücken, nicht zu zeigen, wenn man eigentlich schon fast explodieren möchte. Ist das ein guter Weg?

Da Wut gefährlich werden kann, versuchen wir sie lieber abzustellen – so als gebe es einen Wasserhahn für Gefühle, der sich einfach zudrehen lässt. Wie die Frage aber schon vermuten lässt: So einfach ist es leider nicht! Die Forschung zeigt, dass die Amygdala – unsere „Alarmanlage“ im Gehirn – weiterhin Alarm schlägt, auch wenn wir versuchen die Wut zu unterdrücken. Nach außen hin wirken wir zwar ruhig, aber im Inneren brodelt es weiter. Dies kann dazu führen, dass wir nach einer Weile dennoch explodieren – und jetzt aber richtig! – oder wir uns ganz elend fühlen, weil wir keine Möglichkeit gefunden haben unsere Wut so zu regulieren, dass wir unser Anliegen hätten konstruktiv mitteilen können. Auch der Drache muss das schmerzlich erfahren: Nachdem er der Prinzessin versehentlich in der Wut sogar die Haare verkohlt hat, verspricht er ihr nie mehr wütend zu werden. Einen Tag lang versucht er die Wut zu unterdrücken – so sehr, dass er Zahnschmerzen bekommt, Flammen furzt, seine Schuppen ganz heiß werden und ihm die Lava aus der Nase läuft. Am Abend kann er vor lauter Wut im Bauch nicht einschlafen …

Es fällt Eltern und anderen Bezugspersonen eher schwer, Wut konstruktiv zu begleiten. Bei einem kindlichen Wutausbruch reagieren sie oft eher wie gelähmt oder versuchen mit aller Macht, den Ausbruch zu unterdrücken. Wie könnte ein besserer Weg aussehen?

Wenn wir wollen, dass unsere Kinder einen gesunden Umgang mit Gefühlen lernen, dann ist es zuallererst einmal wichtig, dass wir Raum für Gefühle schaffen. Das gilt natürlich nicht nur für die Gefühle unserer Kinder, sondern auch für unsere eigenen Gefühle. Kann ich die ganze bunte Welt der Gefühle annehmen, ja ihr vielleicht sogar mit einer Haltung der Offenheit und Neugierde begegnen? Was empfinde ich im Körper, wenn ich traurig, glücklich oder wütend bin? Kann ich – eine Weile – damit sein?

Gerade bei der Wut fällt es vielen Eltern schwer einen gesunden Zugang zu finden, weil wir in unserer eigenen Kindheit oft weder Begleitung noch gute Vorbilder für den Umgang mit Wut hatten: Wir wurden mit diesem überwältigenden Gefühl allein gelassen, dafür beschämt, bestraft oder sogar selbst Opfer von Grenzverletzungen. All diese Erfahrungen können bei einem Wutausbruch von unseren eigenen Kindern wieder zum Vorschein kommen und dazu führen, dass wir uns ohnmächtig fühlen und in der Folge Grenzverletzungen zulassen oder selbst verursachen.

Deswegen ist es gerade bei der Wut besonders wichtig zuerst einmal gut mit sich selbst in Kontakt zu sein. Spüre ich, wenn mein Anspannungsniveau steigt? Und falls ja, habe ich selbst Strategien, um mich wieder zu beruhigen? Kann ich benennen was in mir vorgeht? Und vor allem: Bin ich bereit mich auf den Weg zu machen und an diesen Situationen zu wachsen?

Indem wir den Fokus auch auf uns richten, können wir selbst zum Modell für Emotionsregulation werden und dieser erste Schritt hat meist mehr Gewicht als unsere Worte. Oft sind Kinder bei einem Wutausbruch sowieso nicht mehr mit Worten erreichbar. In diesem Fall bleibt uns sowieso nichts anderes übrig, als gemeinsam abzuwarten bis der Sturm vorüber ist, dafür zu sorgen, dass es möglichst wenige „Sturmschäden“ gibt und danach – falls nötig – gemeinsam aufzuräumen.
Die Metapher zeigt noch einmal, wie anspruchsvoll es sein kann, sich nicht von einer Sturmböe mitreißen zu lassen und wie wichtig es auch ist, dass wir unsere Kinder bei Unwetter nicht allein lassen. Auch der Drache im Buch darf fühlen, dass es gut tut mit der Wut nicht allein zu sein. Es beruhigt uns, wenn wir uns verstanden fühlen, wenn wir unsere Wut benennen können, und wir uns der Wut nicht hilflos ausgeliefert fühlen. Der Drache entdeckt hier für sich unter anderem das bewusste, lange Ausatmen. Was könnte es für uns und unsere Kinder sein? In einem „sturmfreien“ Moment kann man hier im Buch noch weitere Ideen finden, was bei ungeheuer großer Wut helfen kann.

Können Sie sich daran erinnern, wann Sie das letzte Mal richtig wütend waren und worüber? Was kann helfen, wenn man sich selbst beruhigen will?

Das letzte Mal als ich wütend war, haben wir in den Sommerferien bei Bekannten übernachtet und mein Sohn hat am Morgen beim Zähneputzen und Anziehen überhaupt nicht mitgemacht. Am Abend zuvor hatte ich noch stolz über meine Arbeit und meine Resilienisch-Elternkurse erzählt und am Morgen wäre ich dann am liebsten im Boden versunken. Statt ins Badezimmer zu kommen, hüpfte mein Sohn auf einem großen Ball durchs Zimmer, statt sich anzuziehen, versteckte er sich hinter der Couch und als er dann endlich angezogen war, wollte er nicht ins Auto einsteigen – zum Glück war nur der Familienvater zu Hause, aber es war trotzdem peinlich genug!

Was mir in dem Moment geholfen hat? Als ich bemerkt habe, dass die Wut in mir größer wurde, bin ich ins Zimmer nebenan gegangen. Es hilft mir in solchen Situationen tief durchzuatmen, mich daran zu erinnern, dass Druck Gegendruck erzeugt und darauf zu vertrauen, dass wir auch heute einen Weg finden werden, das Haus – in letzter Zeit öfter mal ein anderes – zu verlassen. Und in dem Moment ging mir ein Licht auf: Wir waren schon seit ein paar Wochen am Reisen und wir waren wahrscheinlich beide schon etwas müde von den vielen neuen Eindrücken und den vielen Menschen, die uns ständig umgaben.

Ich weiß nicht mehr genau, wie oft ich an diesem Morgen noch hin und her gelaufen bin und versucht habe in den Bauch zu atmen, aber irgendwann war es dann geschafft! Gerade bei der Wut hilft mir eine kurze Unterbrechung, dass ich mir selbst versichere darauf zurückzukommen, sobald ich wieder ruhiger bin und immer wieder auch einen verständnisvollen Blick auf mich und meine Kinder zu werfen.
 


Herzlichen Dank für das Gespräch!
 

Nora Völker-Munro

Nora Völker-Munro ist Psychologin, Resilienztrainerin und systemische Familienberaterin. In der von ihr gegründeten Resilienz-Schule gibt sie ihr Fachwissen und ihre Erfahrungen an Kinder, Eltern und Fachpersonen weiter. Wissen für alle, die sich selbst und (ihre) Kinder stärken wollen.
Mit der Resilienz-Schule hat sie ihr Herzensprojekt ins Leben gerufen: Einen Ort, an dem alle wachsen, lernen und ihre Resilienz- und Beziehungsfähigkeit entdecken und entfalten können.
In ihrem Kursangebot findet sich das gleichnamige Seminar „Ungeheuer wütend“, das Eltern und Fachpersonen begleitend zum Buch Wissen und Strategien zur Emotionsregulation mit an die Hand geben soll.

Mehr zu ihrer Arbeit: www.resilienz-schule.com

Mehr Infos zum Buch

Ungeheuer wütend von Stefanie Rietzler, Nora Völker-Munro, Fabian Grolimund

 

 

 

 

Webinarempfehlung

Fortbildung "Ungeheuer Wütend" (durchgeführt durch Resilienz-Schule)

In diesem Webinar bekommen Sie einen vertieften Einblick in das Thema Emotionsregulation – insbesondere in den Umgang mit Wut.

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