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Wie man bipolare Störungen wirksam behandelt

Die Neuauflage des Bandes “Bipolare Störungen” aus der Reihe “Fortschritte der Psychotherapie” präsentiert den aktuellen Wissenstand über die Erkrankung und z.B. die Diagnosekriterien aus der ICD-11. Wir haben mit Autor Prof. Dr. Martin Hautzinger unter anderem über die neuen Entwicklungen, die Probleme bei der Diagnostik und das bewährte kognitiv-verhaltenstherapeutische Modulprogramm gesprochen, das gerade in der Rückfallprophylaxe sehr erfolgreich ist.

Bipolare Störung dargestellt durch mehrere Köpfe in einem Kopf Bild: Shutterstock / Black Salmon

Wie zeigt sich eine bipolare Störung, wie lässt sie sich etwa gegen eine De-pression (eine unipolare Depression) abgrenzen?

Affektive Störungen lassen sich in unipolar verlaufende Depressionen und manisch-depressive, sog. bipolare Störungen unterteilen. Der Hauptunterschied zwischen unipolaren und bipolaren Störungen ist die Abwesenheit bzw. das Vorliegen von Phasen maniformer Symptomatik. Obwohl manche Patienten mit bipolaren Störungen ausschließlich Manien erleben, dominieren depressive Episoden im Verlauf bipolarer Störungen.

Bei bipolaren Störungen ist die erste Krankheitsepisode nur in 50 % der Fälle maniform und erlaubt somit eine unmittelbare Diagnose einer bipolaren Störung. Wenn die erste Episode eine Depression ist, kann es sich um eine einzelne depressive Phase, um den Beginn einer rezidivierenden unipolaren Depression oder um die Erstmanifestation einer bipolar affektiven Störung handeln.

Oft wird berichtet, dass sog. „atypische depressive Symptome“ für bipolare Störungen im Rahmen einer depressiven Episode typisch seien. Dazu zählen u. a. vermehrter Appetit, vermehrter Schlaf (Hypersominie), motorische Verlangsamung (Verhaltenshemmung), emotionale Reagibilität (Reizbarkeit) und interpersonelle Sensitivität (Empfindlichkeit). Außerdem wird immer wieder hervorgehoben, dass Depression im Rahmen bipolarer Verläufe von der Empfindung her abrupter beginnen, während Depressionen im Rahmen einer unipolaren Störung sich langsamer entwickelt und allmählich intensivieren. Im Krankheitsverlauf besteht ein hohes, gegenüber der Allgemeinbevölkerung 50fach erhöhtes Suizidrisiko.

Wodurch werden bipolare Störungen ausgelöst, wie ist hier der aktuelle Forschungsstand?

Eine bipolare Störung hat eine hohe (80%) genetische Belastung. Viel höher als bei unipolar verlaufenden Depressionen. Soziale und soziodemographische Variablen (etwa Geschlecht, Zivilstand, Schicht, Urbanität usw.) nehmen wenig Einfluss auf das Erkrankungsrisiko. Einschränkungen vor allem in der circadianen Rhythmik (Schlaf-Wach-Regulation), handlungsbezogenen Intelligenz, der Motorik, der Aufmerksamkeit, des Lernens, des Gedächtnisses, der emotionalen Informationsverarbeitung, der visuell-räumlichen und der exekutiven Funktionen korrespondieren mit den neurobiologisch relevanten Strukturen bei bipolaren Störungen. Übereinstimmend lässt sich folgern, dass mit bipolaren Störungen Funktionsstörungen (Überaktivierung) in ventral-limbischen (Amygdala), temporalen und dorsalen Strukturen korrespondieren. Dies deckt sich mit Befunden bei Jugendlichen mit einer (remittierten) bipolaren Störung bei positiver Familienanamnese. Dort findet sich eine bedeutsame Überaktivität des orbitofrontalen Kortex, des anterior cingulären Kortex, des Striatum, der Inselregion und des Nucleus caudatus. Es bleibt bis heute unklar, ob diese Veränderungen Ursachen oder Folgen der Erkrankung sind, stellen jedoch bezüglich einer Wiedererkrankung Risikofaktoren dar. 

Es konnte gezeigt werden, dass belastende Lebensereignisse (z.B. Arbeitsplatzverlust), die zu einer Störung des sozialen Rhythmus führten, das Risiko für die Auslösung manischer Episoden erhöhten. Eine Störung des sozialen, circadianen Lebensrhythmus erwies sich dabei als der entscheidende Stressor für die Auslösung einer (erneuten) Episode. Es ist folglich für vulnerable bzw. bereits erkrankte Personen relevant, eine gewisse Alltags- und soziale Struktur zu schaffen bzw. aufrechtzuerhalten und auf einen stabilen Schlaf-Wach-Rhythmus zu achten. Ab einer Schwelle bzw. einem bestimmten Schweregrad der Symptomatik entwickelt sich dann eine Eigendynamik, die weitgehend unabhängig von äußeren Bedingungen abläuft.

Ab welchem Alter treten bipolare Störungen in der Regel auf?

Nach einer Übersicht an fast 4 500 erkrankten Personen ergibt sich ein durchschnittliches Ersterkrankungsalter für bipolare Störungen von 22 Jahren. Die Mehrheit der Patient*innen hat ihre erste affektive Episode im Rahmen von Bipolar-I- und Bipolar-II-Störungen sogar im Alter zwischen 15 und 19 Jahren. Grund dafür ist, dass nicht mehr länger der erste Krankenhausaufenthalt als Indikator für das Ersterkrankungsalter angesehen wird, sondern Krankheitssymptome und damit der Beginn der Erkrankung einige Jahre vor der erstmaligen Hospitalisierung feststellbar sind. Die Diagnosestellung erfolgt meist erst 6 Jahre nach Krankheitsbeginn.

Was hat sich in der ICD-11 gegenüber der ICD-10 bezüglich der Diagnosekriterien geändert?

Das ICD-11 unterscheidet nun zwischen Bipolar I (6A60) und Bipolar II (6A61) als eigenständige Diagnosen. Bei ICD-10 gibt es keine eigenständige Bipolar II Diagnose. Ferner bietet ICD-11 zahlreiche Untergruppen, etwa manische Episode mit bzw. ohne psychotische Symptome, Schwergradbeurteilung, gemischte Episoden sowie Remissionsgrad Beurteilung (teil-, vollremittiert). Die im ICD-10 noch mögliche reine «manische Episode» als Diagnose gibt es nicht mehr, sondern wird gleich als Bipolar I Störung diagnostiziert. Die Zyklothyme Störung (6A62) ist nun explizit definiert und als eigene Diagnose aufgeführt. Das ist eine deutliche Annäherung an das amerikanische DSM-5-System.

Wie sollte bei der therapiebezogenen Diagnostik vorgegangen werden, was hat sich in der Praxis bewährt?

Als erster Schritt bei Verdacht auf bipolare Störung hat sich die Hypomanie Checkliste (HCL) bewährt. Als zweiter Schritt sollte ein strukturiertes klinisches Interview zur Beurteilung depressiver und maniformer Episoden entsprechend ICD-11 durchgeführt werden, um zu einer zuverlässigen diagnostischen Entscheidung sowie zur Erfassung komorbider Auffälligkeiten zu kommen. Der Schweregrad depressiver bzw. manischer Episoden sollte in einem dritten Schritt mittels Selbst- (z.B. BDI, MSS) und Fremdbeurteilungsinstrumenten (YMRS, BRMS, BRMAS, QIDS) beurteilt werden. Diese Instrumente können dann auch zur Evaluation der Behandlung im Verlauf eingesetzt werden.

Diese drei Schritte der Diagnostik wird durch einen vierten, therapiebezogenen Schritt ergänzt, einer funktionalen Problem- und Verhaltensanalyse. Diese stützt sich vor allem auf Verlaufsbeobachtungen in Form eines durch Patienten täglich zu führendes Stimmungs- und Aktivitätstagebuchs. Diese Selbstbeobachtungen werden gemeinsam ausgewertet, um so Stimmungsveränderungen mit Ereignissen, Verhalten, Denkmuster, sozialem Lebensrhythmus, Schlaf, Drogenkonsum in Verbindung zu bringen. Dies erlaubt dann Therapieziele zu definieren und Interventionen zu planen bzw. zu begründen.
 

Wie lassen sich bipolare Störungen behandeln, inwiefern ist eine psychothe-rapeutische Behandlung notwendig?

Es lassen sich 3 Phasen der Behandlung unterscheiden: Akutbehandlung (Symptomreduktion), Stabilisierungsphase (Symptomfreiheit erhalten, Wiederauftreten von Symptomen verhindern) und Rezidivprophylaxe (Vorbeugung neuer Episoden). 

Ein wesentliches Element in der Akutbehandlung und Rezidivprophylaxe ist die Pharmakotherapie mittels stimmungsstabilisierenden Medikamenten wie z.B. Lithium, Quetiapin oder Lamotrigin. Die Medikamente zeigt positive Effekte auf den Verlauf, aber langfristig muss dennoch mit dem Wiederauftreten von affektiven Episoden gerechnet werden. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit zusätzlicher Therapieoptionen, um einen angemessenen Umgang mit dieser phasisch verlaufenden Erkrankung zu erlernen. Elemente ergänzender Therapien sind: Psychoedukation, Selbstbeobachtung, Korrektur von Erwartungen und Maßstäben, Selbstmanagement von Stimmungsschwankungen und Frühwarnzeichen, Stressmanagement, Aktivitätsmanagement, Normalisierung von Schlaf-Wach- und sozialem Lebensrhythmus, Förderung von Medikamentencompliance.

Im Zentrum des Buches steht ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Programm, das aus mehreren Modulen besteht. Könnten Sie dies kurz beschreiben?

KVT umfasst Psychoedukation, Selbstbeobachtung und Erkennen von Frühwarnzeichen, Verhaltensänderungen und kognitive Umstrukturierung, Erwerb von sozialen, kommunikativen und problemlösenden Fertigkeiten. Balance und Stabilität, Regelmäßigkeit in der Lebensführung stehen im Zentrum jeder Psychotherapie bipolarer Störungen. Psychotherapie startet im remittierten Zustand, begleitet jedoch Patienten durch Krisen, depressive und (hypo-)manische Episoden, sie wird durch vorübergehende stationäre Behandlung nur unterbrochen, nicht beendet. 

Modul 1 fördert das Krankheitsverständnis und die Therapiemotivation anhand der Krankengeschichte (Life chart) und Selbstbeobachtungen (Tagebuch) von Alltagsaktivitäten, Ereignissen, Stimmungsverläufen. 

Modul 2 fokusiert auf persönliche Frühwarnzeichen und Risikofaktoren anhand der Selbstbeobachtungen und den bisherigen Krankheitsepisoden. Dabei geht es immer auch um die Frage, was ist «normal» und was sind bereits Auffälligkeiten bzw. erste Symptome einer Depression oder einer Manie.

Modul 3 trägt zur Normalisierung und Stabilisierung der Lebensführung, des Schlaf-Wach-Rhythmus sowie der Stressreduktion bei. Mittels Tages- bzw. Wochenprotokollen werden Regelmäßigkeit der Alltagsstruktur, Entlastung und Planung von Tätigkeiten verwirklicht.

Modul 4 beschäftigt sich mit depressiven und manischen Denkmustern. Dysfunktionale Informationsverarbeitungen, Verarbeitungen, Einstellungen, Erwartungen werden identifiziert, protokolliert und korrigiert. Hilfreich dabei ist das Spaltenprotokoll automatischer Gedanken und Realitätstesten.

Modul 5 trainiert Achtsamkeit, soziale Kompetenzen und Problemlösestrategien, um neue Fertigkeiten zu erwerben, die bei der Rückfallprophylaxe hilfreich sind.

Modul 6 erarbeitet mit den Betroffenen einen abgestuften Notfallplan und ein Krisenmanagement bei drohenden bzw. bereits beginnenden affektiven Episoden. 

Die Selbstbeobachtung spielt eine zentrale Rolle, dazu kann ein Stimmungstagebuch geführt werden, was kann ein solches Instrument bewirken?

Selbstbeobachtung und das Erkennen von Symptomen helfen langfristig das Auftreten neuer, voll ausgeprägter depressiver bzw. manischer Episoden zu verhindern. Dazu ist es wichtig, zu lernen, erste Warnsymptome rechtzeitig wahrzunehmen, was ein frühzeitiges Eingreifen und Gegensteuerung ermöglichen. Dies kann dazu führen, dass z. B. Klinikaufenthalte verhindert werden. Um dies zu erreichen, ist es für Patient*innen und die Familie von Bedeutung, die Anzeichen und Symptome der bipolaren Episoden zu erkennen und sich deren bewusst zu sein. Der erste Schritt ist, das Wahrnehmen und Benennen; der zweite Schritt ist die regelmäßige Beobachtung von Schlüsselsymptomen, wie Rückzug, Schlafstörungen, Verhaltensexzesse, dysfunktionale Denkweisen usw. Ein Stimmungstagebuch (als App elektronisch oder in Papierform) sollte über den ganzen Tag (Stunde für Stunde) und über einen längeren Zeitraum geführt werden. In den Therapiesitzungen werden die Protokolle besprochen und zuvor eingeübte neue Verhaltensweisen (aus Modulen 3 bis 5) als Gegensteuerungskompetenzen eingeführt.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Martin Hautzinger

Prof. Dr. Martin Hautzinger, geb. 1950. 1971-1976 Studium der Psychologie in Bochum und Berlin. 1976-1984 Wissenschaftlicher Mitarbeiter/Assistent am Institut für Psychologie der Freien Universität Berlin. 1980 Promotion. 1981-1983 Gastwissenschaftler an der University of Oregon, Eugene. 1984-1990 Wissenschaftlicher Assistent und Hochschuldozent an der Fachgruppe Psychologie der Universität Konstanz. 1987 Habilitation. 1990-1996 Professor für Klinische Psychologie an der Johann-Gutenberg-Universität Mainz. 1996-2019 Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Seit 2019 Seniorprofessor an der Universität in Tübingen.

Was sagt der Dorsch zu:

bipolare Störungen [engl. bipolar disorders; lat. bi- zwei-, gr. πολος (polos) Achsenpunkt], [KLI], zählen zu den schwerwiegendsten psychischen Störungen mit vgl.weise hoher Mortalität, gravierenden Begleit- und Folgebelastungen, komplexen Therapieerfordernissen und ungünstiger Prognose. Sie umfassen eine Reihe von Diagnosen aus dem affektiven Formenkreis, deren zentrales Charakteristikum im chronisch-rezidivierenden Verlauf mit wechselnden manischen bzw. hypomanen und depressiven sowie gemischten Episoden oder Zuständen besteht, die wiederum von beschwerdefreien (euthymen) Intervallen unterschiedlicher Länge unterbrochen werden. …
 

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