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Wie man Kindern mit Lese-Rechtschreib-Störung oder Rechenstörung Mut machen kann

In der erfolgreichen Reihe „Psychologische Kinderbücher“ sind „Joe und der große rote Stift“ zum Thema Lese-Rechtschreib-Störung und „Elio hat sich verzählt“ zum Thema Rechenschwäche erschienen. Beide Bände haben einen Bilderbuchteil sowie weiterführende Informationen, Tipps und Vorschläge für Übungen. Wir haben mit dem Herausgeber Prof. Dr. Malte Schwinger über die Störungen und ihre Folgen für betroffene Kinder und ihre Familien gesprochen. 

Wie verbreitet sind die Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) und die Rechenstörung und welche Ursachen haben sie?

Die genaue Prävalenz von Lernstörungen ist in der Forschung schwer zu bestimmen, da die Definitionen und Messmethoden variieren. Grob geschätzt sind etwa 5–10 % der Schüler*innen betroffen. Diese Zahl ergibt sich aus der Diagnosepraxis: Man konzentriert sich zunächst auf die schwächsten 10 % in Bereichen wie Lesen, Schreiben und/oder Rechnen. Ein Kind muss in mindestens einem dieser Bereiche deutliche Schwierigkeiten zeigen, und es dürfen keine alternativen Erklärungen vorliegen – etwa starke Seh- oder Hörstörungen, die das Lernen beeinträchtigen könnten. Solche Fälle werden bei der Diagnose ausgeschlossen.

Letztlich bleiben etwa 5 % der Schüler*innen übrig, die spezifische Schwierigkeiten in einem oder mehreren dieser Bereiche haben, wobei es auch kombinierte Störungen gibt. Ein weiteres Kriterium ist, dass keine Intelligenzminderung vorliegen sollte. Der ursprünglich definierte Abstand zwischen Intelligenz und schulischer Leistung, der in Diagnosemanualen weiterhin enthalten ist, wird in der Forschung jedoch als wenig sinnvoll angesehen. Dies erschwert die Bestimmung der tatsächlichen Prävalenz zusätzlich.

Betrachtet man alle Formen von Lernstörungen – also Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, Dyskalkulie und deren Kombination – könnten insgesamt etwa 20–25 % der Schüler*innen betroffen sein. Je strenger man jedoch die Kriterien fasst, etwa durch Berücksichtigung der Intelligenz oder der Schwere der Störung, desto kleiner wird diese Zahl. Es ist außerdem wichtig zu beachten, dass die Störungen unterschiedlich schwer ausgeprägt sein können.

Die wesentliche Ursache für eine Lese-/Rechtschreibstörung liegt in der fehlerhaften Verarbeitung von Lauten, man spricht hier von phonologischer Informationsverarbeitung, die nicht gut gelingt. Das hierfür zuständige Modul im Gehirn ist bei betroffenen Kindern und Jugendlichen weniger gut ausgeprägt. Man kann sagen, es funktioniert eingeschränkt – nicht vollständig, aber eben mit Schwierigkeiten. Diese Kinder haben Probleme, Buchstaben in Laute umzuwandeln und umgekehrt. Das Erlernen von Lesen und Schreiben basiert ja genau auf dieser Fähigkeit. Wenn die Lautverarbeitung im Gehirn nicht richtig funktioniert, führt das zu weiteren Problemen.

Bei der Dyskalkulie verhält es sich ähnlich. Hier liegt das Problem in der Wahrnehmung von Mengen. Menschen verfügen über ein angeborenes Modul, das uns hilft, Mengen grob abzuschätzen. Zum Beispiel können wir in einem Fußballstadion intuitiv sagen, dass auf einer Tribüne etwa 1000 Menschen sitzen. Ein Mensch mit Dyskalkulie kann das nicht – für ihn könnten es 10, 100 oder 100.000 sein, ohne klare Vorstellung. Das Grundproblem ist die fehlerhafte Zuordnung von Mengen zu Zahlen und deren Bedeutung. Wenn diese grundlegende Fähigkeit fehlt, fällt es schwer, Rechnen zu lernen und mathematische Operationen zu verstehen.

D.h. wir haben bei beiden Störungen ein grundlegendes Informationsverarbeitungsdefizit, was zur Störung führt und auch dafür sorgt, dass es nicht von allein weggeht. Die Grundlage bleibt dauerhaft erhalten, so dass wir gerade bei älteren Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, die z.B. unerkannte Dyskalkulie haben große Alltagsschwierigkeiten sehen, also z.B. mit Finanzen umzugehen, mit Maßen und Gewichten umzugehen, ganz basale Dinge funktionieren dann nicht, weil diese Grundlage fehlt. 

Die beiden Bände „Elio hat sich verzählt“ und „Joe und der große rote Stift“ sind liebevoll illustriert und wenden sich (auch) direkt an die betroffenen Kinder. Wie wichtig ist diese kindgerechte Herangehensweise?

Das hat mehrere Vorteile, nicht nur für die Kinder und Jugendlichen, sondern auch für die betroffenen Eltern, denn Bilder und Geschichten haben den Vorteil, dass sie Informationen leichter transportieren können. So ist gewährleistet, dass bei den Familien auch die richtige Assoziation geweckt wird. Transportiert werden soll, dass es eine Teilleistungsproblematik ist, dass die Kinder nicht dumm sind. Es gibt ein konkretes Problem und das Problem muss gesehen und begleitet werden. Kinder können sich durch die Geschichte und die Bilder sehr gut wiedererkennen und sehen, dass sie nicht allein sind. Das ist unglaublich wertvoll für die Diagnostik und die Behandlung, man kann sagen, es ist teilweise schon der Behandlungserfolg selbst. Denn es geht ja darum, einordnen zu können und zu verstehen: Ich bin nicht dumm. Und ich bin auch in anderen Bereichen durchaus leistungsfähig, ich brauche hier einfach gezielt Hilfe, damit ich meine Kompetenzen besser entwickeln kann.

Sie haben eben schon erwähnt, dass es wichtig ist es für die betroffenen Kinder zu erfahren, dass sie nicht allein sind mit ihren Problemen. Dies wird in beiden Bänden thematisiert.

Kinder mit Lernstörungen sind zwar in der Minderheit, aber es ist entscheidend, dass sie verstehen, dass sie keine Schuld an ihrer Situation tragen. Sie sind auf die Unterstützung von Erwachsenen angewiesen, und es ist wichtig, dass andere davon wissen, um angemessen reagieren zu können. Es gibt keinen Grund, sich dafür zu schämen, denn die Störung ist nichts, wofür man Verantwortung trägt. Stattdessen sollte man offen damit umgehen können.

Von den Kindern kann und sollte man jedoch erwarten, dass sie verantwortungsbewusst und engagiert mit ihrer Situation umgehen und ihr Bestes geben. Wenn sie von Erwachsenen richtig begleitet werden – sei es in der Therapie oder im Alltag –, profitieren alle Beteiligten davon. Es entstehen immer wieder Missverständnisse, etwa bei Gesprächen über Nachteilsausgleiche mit Schulpsycholog*innen z.B. In Schulen wird das manchmal falsch interpretiert, indem man etwa sagt: „Okay, das Kind hat LRS, dann zählen wir die Fehler einfach nicht.“ Das ist jedoch nicht der richtige Ansatz.

Stattdessen brauchen diese Kinder Verständnis für ihre Schwierigkeiten und konkrete Unterstützung, zum Beispiel durch zusätzliche Korrekturen oder gezielte Übungen. Ziel ist es, dass sie lernen, mit ihrer Einschränkung umzugehen, statt sie zu ignorieren. Auf diese Weise können sie trotz ihrer Herausforderungen Fortschritte machen.

Wann manifestiert sich eine Rechenstörung oder LRS in der Regel und wann sollte man mit Maßnahmen beginnen? Sollte immer eine Diagnose eingeholt werden?

Das ist ein zentraler Punkt. Die Ursachen, über die wir eben gesprochen haben, sind genetisch angelegt, es gibt auch eine familiäre Häufung, ebenso eine große Komorbidität zu ADHS. Lesen, Schreiben, Rechnen wird natürlich erst mit Schuleintritt relevant, besonders aufmerksame Erzieher*innen im Kindergarten merken vielleicht vorher, dass ein Kind Schwierigkeiten hat. Sobald die Schule beginnt, gilt im Grunde: je eher, desto besser. Lehrkräfte verfügen heute in der Regel über ein breites Wissen zu diesen Störungen und je eher hier ein Verdacht aufkommt, desto besser. Idealerweise bekommt die Lehrkraft dies im 1. oder 2. Schuljahr mit – je stärker das Problem, desto wahrscheinlicher ist dies natürlich. In solchen Fällen sollte frühzeitig Kontakt zu Psycholog*innen oder anderen Fachkräften gesucht werden. Zwar würde man noch keine vollständige Diagnostik nach den ersten drei Monaten in der ersten Klasse durchführen, aber es kann sinnvoll sein, die Situation im Auge zu behalten und in etwa sechs Monaten erneut zu überprüfen. Zu diesem Zeitpunkt könnten Testungen durchgeführt werden, um eine Diagnose zu stellen – oder eben nicht. Dabei stellt sich immer die Frage: Hilft es dem Kind, eine Diagnose zu haben? Wenn ein Kind einen hohen Förderbedarf hat, kann eine Diagnose sinnvoll sein, da sie Klarheit für alle Beteiligten schafft. In Grenzfällen, in denen das Kind in einem unterstützenden Umfeld ist – sei es familiär oder schulisch – und keine zusätzlichen Maßnahmen erforderlich sind, kann es sinnvoll sein, auf eine Diagnose zu verzichten. Insbesondere dann, wenn zu erwarten ist, dass sich das Kind in den kommenden Jahren emotional stabilisiert. Eine Diagnose sollte schließlich nicht zu unnötigen Stigmatisierungen führen.

Im Zweifelsfall würde man jedoch eher eine Diagnose stellen, um sicherzustellen, dass das Kind die notwendige Unterstützung erhält, anstatt darauf zu verzichten und mögliche Hilfen zu verpassen.

Sollten Eltern mit ihren Kindern dann offen über die Diagnose sprechen?

Bei der Diagnostik wird das Kind getestet und es wird auch darüber gesprochen, warum es da ist, das Kind bekommt also schon eine Idee, was da passiert. Es wäre wenig sinnvoll, eine Förderung zu beginnen, ohne offen über die Diagnose zu sprechen. Nach der Testung findet das Rückmeldegespräch in der Regel zunächst nur mit den Eltern statt. Dabei wird erklärt, wie sie das Thema am besten mit ihrem Kind besprechen können. Alternativ kann das Kind direkt in das Gespräch einbezogen werden. Entscheidend ist, dass die vermittelten Botschaften klar und positiv sind: Es handelt sich um eine Teilleistungsstörung, nicht um ein allgemeines Intelligenzdefizit. Das Kind soll verstehen, dass es nichts falsch gemacht hat und dass es etwas dagegen tun kann – und vor allem, dass es nicht allein ist. Es wird Unterstützung geben, und alle arbeiten gemeinsam an einer Lösung.

Das ist oft auch ein schöner Moment für den behandelnden Psychologen/die behandelnde Psychologin, weil man eine gewisse Erleichterung auf allen Seiten sieht. Es gibt einen Plan, man kann etwas tun!

Inwieweit haben beide Störungsbilder Auswirkungen auf die Leistungen in anderen Schulfächern?

In der Regel erwartet man bei einem Kind, das zur Diagnostik kommt – beispielsweise am Ende der ersten Klasse –, dass es spezifische Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben zeigt, wenn es um LRS geht, während es in anderen Fächern besser zurechtkommt. Kommt ein Kind jedoch erst am Ende der dritten oder vierten Klasse zur Diagnostik und hat deutliche Probleme, ohne dass zuvor jemand das Thema LRS angesprochen hat, zeigt sich oft ein typischer Verlauf: Die Kinder fangen an zu grübeln, warum sie bestimmte Dinge nicht gut können. Dann kommt noch dazu, dass Lesen und Schreiben generalisiert wird, auch in anderen Fächern benötigt wird. Das führt dazu, dass die Kinder ihre Misserfolge generell auf sich beziehen und beginnen, eine fehlende Lernmotivation für alle Fächer zu entwickeln. Wenn beispielsweise ein Kind gegen Ende der vierten Klasse vorgestellt wird und die Eltern berichten, dass es in allen Fächern schlecht ist, sollte ein*e Diagnostiker*in nicht vorschnell schlussfolgern, dass es keine LRS sein kann. Vielmehr ist es wichtig, die gesamte Entwicklung des Kindes zu betrachten. Es besteht die Gefahr, dass ein verpasster Diagnosezeitpunkt dazu führt, dass das Kind falsch eingeordnet wird, etwa in Richtung eines Förderschwerpunkts „Lernen“. 

Die Frage, wie ein Kind in anderen Schulfächern abschneidet, ist also immer abhängig vom Zeitpunkt der Beobachtung. Das ist wieder ein Argument dafür, möglichst frühzeitig darauf zu achten und ggf. einzugreifen.

Sowohl Joe als auch Elio haben die Befürchtung, „dumm“ zu sein, ist das typisch für Kinder mit einer LRS oder einer Rechenstörung? Was kann gegen mangelndes Selbstwertgefühl, Angst und Stress getan werden?

Es geht dabei um zwei Punkte, um das Fähigkeitsselbstkonzept und die Selbstwirksamkeit, das Ziel ist, diese zu steigern, indem wir sagen: Du kannst auch da besser werden und dazu lernen, wir müssen nur den richtigen Punkt treffen, an dem wir beide dann quasi wieder loslaufen. Die Schritte, die in der Schule gemacht werden, sind in der Regel zu groß für die Kinder, sie kommen nicht mit. Sie können nicht mithalten, und je länger das der Fall ist, desto mehr geraten sie ins Hintertreffen, bis sie schließlich ganz abgehängt sind. Fördermaßnahmen setzen idealerweise genau dort an, wo das Kind zuletzt keine Fehler gemacht hat – an der sogenannten Nullfehlergrenze. Von diesem Punkt aus wird kleinschrittig gearbeitet. Dadurch steigt die Kompetenz des Kindes nach und nach, und sein Selbstvertrauen sowie die Erfolgserwartung werden stabilisiert.

Der zweite Punkt ist, dass Kinder nicht von einem einzelnen Problem auf alle Lebensbereiche schließen sollten. Es ist wichtig zu verhindern, dass ein Kind denkt: Ich bin für alles zu blöd. Das passiert, wie erwähnt, weil dann z.B. auch in anderen Fächern Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben abgerufen werden, wenn keiner mit dem Kind darüber gesprochen hat, dass es genau dort Probleme hat, wird es die Schwierigkeiten generalisieren.  Kinder in der Grundschule sind noch keine ausgeprägten Selbstreflektierer. Besonders im Hinblick auf ihre Fähigkeiten neigen sie dazu, zu glauben, dass sie alles können. Das Gefühl, in einem Bereich überhaupt nicht gut zu sein, ist für Grundschulkinder untypisch, kann aber schnell entstehen und sich verfestigen. Diese Generalisierung muss durchbrochen werden, indem man dem Kind Erfolge in anderen Bereichen zeigt – sei es in Kunst, Sport, Musik oder Ähnlichem. Dabei ist es zunächst zweitrangig, welcher Bereich im Vordergrund steht. Gleichzeitig sollte dem Kind vermittelt werden, dass es unabhängig von seinen Fähigkeiten wertvoll ist – als Mensch und Person. Oft neigen Kinder dazu, Teilleistungsprobleme in eine umfassende Selbstbewertung zu integrieren. Dies ist jedoch nicht sinnvoll. Man sollte klarstellen: Es gibt in diesem einen Bereich Probleme, aber alles andere läuft super. So wird es auch in den beiden Büchern vorgestellt, diese Trennung ist wichtig: Es gibt verschiedene Bereiche und in dem einen hast du Probleme, die wir gemeinsam angehen. Komplizierter muss man es auch nicht machen, das verstehen die Kinder ganz gut.

Wie können Eltern, andere Angehörige oder Lehrkräfte die Bücher nutzen?

Das Schöne an den Büchern ist ja, dass sie sehr grundsätzlich und niederschwellig gehalten sind, Erwachsene können die Bücher komplett lesen, können mit dem Kind gemeinsam die Geschichte lesen und dann allein die restlichen Teile. Hier kann man schauen, ob es etwas gibt, was man gemeinsam mit dem Kind tun kann. Man könnte sich z.B. in der Familie austauschen – etwa mit den Großeltern – wer was mit dem Kind macht. Die Tipps und Tricks, die hier jeweils im hinteren Teil des Buches vorkommen, sind hilfreich und sollten genutzt werden. Man sollte nicht übers Ziel hinausschießen, aber man kann eigentlich nicht viel falsch machen, wenn man die Grundlogik verstanden hat, die wird durch die Geschichten auch sehr gut transportiert. 

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

 

Die Illustrationen stammen aus “Elio hat sich verzählt” (Illustrationen von Elena Najdoska) und “Joe und der große rote Stift” (Illustrationen von Elisa Iacono).

 

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