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Wie man mit Neuro-Palliative Care Lebensqualität erhalten kann

Von Dr. med. Christoph Gerhard.

Palliativversorgung neurologisch Erkrankter ist besonders herausfordernd. Betroffene haben typischerweise ausgeprägte Einschränkungen der Beweglichkeit (Lähmungen etc.) und/oder ausgeprägte kommunikative, sprachliche oder kognitive Veränderungen. Daher stellen sich wichtige Bereiche der Palliativversorgung wie Symptomerfassung, Autonomie, Lebensqualität, Vorsorgeplanung und Entscheidungsfindung ganz andersartig dar. Es ist wichtig, im einfühlsamen Dialog die andersartige Kommunikation zu entschlüsseln und gezielt nach nicht sprachlichen oder sprachlich veränderten Willensäußerungen und Autonomieresten zu suchen. Zentral ist es, welche Lebensqualität die Betroffenen erleben.

neuro-palliative-care Pflegewissenschaft Pflegepraxis Palliativversorgung alter Mensch mit Blumen Pflegerin berührt Hand Bild: shutterstock

Neurologische Erkrankungen sind häufig und in sehr vielen Fällen unheilbar. Besonders gut kann man sich das an den vielen Menschen mit schweren und zum Teil tödlichen Schlaganfällen vorstellen. Schlaganfälle sind die dritthäufigste Todesursache in Deutschland nach Herz- und Tumorerkrankungen. Ca. 361000 Menschen erleiden pro Jahr einen Schlaganfall, ca. 6,8% sterben in den ersten 30 Tagen, 9,4 % in den ersten drei Monaten und 17 % im ersten Jahr, 45% innerhalb der ersten fünf Jahre (Büdingen 2023 zitiert nach Gerhard 2024). Auch andere häufige neurologische Erkrankungen wie z.B. Parkinson, Multiple Sklerose, Demenz sind letztlich unheilbar. Aber auch viele Betroffene in palliativer Begleitung, die an keiner neurologischen Erkrankung leiden sind von neurologischen Symptomen betroffen. So ist z.B. das Delir eines der vier häufigsten Symptome am Lebensende. Neuro-Palliative Care ist daher keineswegs nur ein besonderer Bereich der Palliative Care, spezialisiert auf Menschen mit neurologischen Erkrankungen, sondern notwendiger integraler Bestandteil jeglicher Palliativversorgung.

Von herausragender Bedeutung ist die Herangehensweise an die betroffenen Menschen. Die klassische Neurologie analysiert die Defizite der Betroffenen, um möglichst gut Lokalisation und Ursache der Ausfälle herausarbeiten zu können. Dies ist zwingend erforderlich, um zu einer klaren Diagnose und zielgerichteten Therapie zu gelangen. In der Palliative Care ist dagegen eine an Ressourcen orientierte Sichtweise angemessener, die verbliebene individuelle Fähigkeiten und deren Sinnstiftung in den Vordergrund stellt. 

Autonomie und Lebensqualität

Menschen mit neurologisch Symptomen oder Erkrankungen wird häufig aufgrund ihrer kognitiven und sprachlichen Ausfälle Autonomie abgesprochen. Nach Ansicht des Autors ist hier allerdings Autonomie etwas, nach dem gezielt gesucht werden muss. Diese Suche ist manchmal schwierig, wenn aus den kaum verständlichen sprachlichen Äußerungen oder Gesten oder sogar nur einer Änderung der Atemfrequenz Autonomiereste heraus gearbeitet werden müssen. Dieser so erfasste „natürliche Wille“ ergänzt den mutmaßlichen und vorausverfügten Willen. 

Schmerz- und Symptomerfassung

Bei vielen Menschen mit neurologischer Erkrankung ist eine Schmerz- und Symptomerfassung mit üblichen Skalen problemlos möglich. Wenn dies nicht gelingt, muss erst analysiert werden, worin die Barriere besteht. Hat der Betroffene das Wort Schmerz vergessen und kennt er nur noch Begriffe wie: „tut weh“ oder „Aua“, wie es häufig bei fortgeschrittener Alzheimer Demenz passiert? Besteht eine Sprachstörung und wie ist diese geartet? Falls versucht wird, Schmerz anhand von mimischen Ausdrucksbewegungen abzuschätzen, so ist zu bedenken, dass diese bei vielen neurologischen Erkrankungen verändert sein können. So leiden beispielsweise Menschen mit Morbus Parkinson mitunter an reduzierten oder nicht vorhandenen mimischen Ausdrucksbewegungen, haben aber trotzdem Schmerzen, auch wenn sie nicht das Gesicht verziehen. Für Menschen mit Demenz, die mit einfachen Schmerzskalen nicht mehr zurechtkommen, gibt es zahlreiche Schmerzeinschätzungsinstrumente, die das Ausdrucksverhalten analysieren und bewerten (z.B. BESD). Für andere neurologisch schwer Betroffene z.B. im Koma oder ähnlichen Situationen wurde die Zurich Obervational Pain Assesment (ZOPA) Skala entwickelt.

Besonderheiten in der Schmerztherapie

Neurologisch Erkrankte in palliativen Situationen haben häufig somatisch nozizeptive Schmerzen durch Fehlbelastungen des Bewegungsapparats im Rahmen ihrer körperlichen Einschränkungen (Lähmungen, Koordinationsstörungen, Sensibilitätsstörungen etc.) oder Muskeltonuserhöhungen (Spastik oder Rigor). Seltener kommt es zu neuropathischen Schmerzen. Bei zentral neuropathischen Schmerzen sind meist anatomisch typische Strukturen wie z.B. eine Körperhälfte oder z.B. ein querschnittsförmiger Bereich von den Schmerzen betroffen. Neuropathische Schmerzen haben einen typischen Charakter (brennende Dauerschmerzen oder neuralgiform einschießende Sekundenschmerzen).

Häufige Schmerzursachen in der Neuro-Palliative Care:
Somatischer Nozizeptorschmerz:
•             Fehlbelastung des Bewegungsapparats durch Lähmungen, Koordinationsstörungen etc.
•             Schmerzhafte Muskeltonuserhöhung (Spastik/Rigor)
Neuropathischer Schmerz:
•             Schädigung von Schmerzarealen im Gehirn und Rückenmark oder durch Läsion peripherer Nerven

Die für Tumorpatienten gewonnenen und teilweise gut etablierten Prinzipien der Schmerz- und Symptombehandlung (siehe S3 Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nichtheilbaren Krebserkrankung, zitiert nach Gerhard 2024) können in leichter Abwandlung grundsätzlich auch für Nichttumorpatienten genutzt werden (Gerhard 2024). Es sind zahlreiche Besonderheiten zu beachten. Bei Nichttumorschmerz ist die therapeutische Breite zwischen Unter- und Überdosierung für Opioide oft wesentlich geringer ist als für Tumorschmerz. Sedierende oder kognitive Nebenwirkungen können sich bei ohnehin schon diesbezüglich belasteten Patienten besonders gravierend auswirken. Bestimmte Schmerzarten wie Kopfschmerzen sind nicht besonders Opioid sensibel und lassen sich besser mit Analgetika der Stufe 1 des WHO-Schemas (z.B. Metamizol) behandeln. Manche Schmerzen z.B. durch Spastik oder durch Überbeanspruchung des Bewegungsapparats treten nur bei Belastung auf (Incident pain). Eine Dauermedikation mittels Opioiden hat dann oft den Nachteil, dass Schmerzspitzen nicht ausreichend abgefangen werden bei gleichzeitig Überdosierungserscheinungen in schmerzfreien Intervallen. Schnell wirksame Fentanyl Nasensprays können hier eine wertvolle Alternative darstellen, auch wenn sie noch einen off-label use darstellen, wie so viele Therapieprinzipien in der Palliativmedizin. 

Neuropathische Schmerzen sprechen nahezu nicht auf Analgetika der Stufe 1 des WHO Stufenschemas an. Sie sollten, falls sie sich in neuralgiformen, Sekunden dauernden Attacken äußern, mittels Antikonvulsiva (Carbamazepin, Oxcarbazepin, Gabapentin, Pregabalin) behandelt werden und, falls sie sich als brennender Dauerschmerz äußern, mittels Opioiden, noradrenerger Antidepressiva (Amitritylin, MirtazapinNortriptylin, Venlaflaxin) oder Gabapentin bzw. Pregabalin. Kombinationen aus Opioiden mit Koanalgetika typischen Wirkungen (Tramadol, Levomethadon, Tapentadol) sind manchmal zur Behandlung neuropathischer Schmerzen vorteilhaft, um eine Polymedikation zu vermeiden.

Besonderheiten in der Symptombehandlung

Bei der Symptombehandlung besteht die Frage im Vordergrund, was das Symptom für den Betroffenen selbst bedeutet. So kann ein Betroffener mit ausgeprägter Spastik diese auch als nützlich empfinden, weil sie ihn befähigt, auf seinen gelähmten Beinen zu stehen. 

Gerade in Endstadien leiden neurologisch Betroffene besonders häufig an terminalem Lungenrasseln, da sie aufgrund von Lähmungen das Sekret nicht mehr abhusten können.  Hier ist die anticholinerge Therapie z.B. mit (Butyl-) Scopolamin (Buscopan®) bei gleichzeitiger Flüssigkeitsrestriktion erfolgreich. Das gewohnheitsmäßige, unkritische Absaugen ist aus palliativer Sicht ungünstig, weil sehr belastend, die Lebensqualität einschränkend und nicht sehr effektiv, da durch den Reiz des Absaugens eine neuerliche Sekretproduktion begünstigt wird. 

Bei der Behandlung der Luftnot fortgeschritten neurologisch kranker Menschen sind Opioide sehr erfolgreich, da in der Regel eine Hyperkapnie durch die reduzierte Atemarbeit vorliegt. Opioide „ökonomisieren“ bei sachgerechter Anwendung die Atmung und führen erst bei einer sehr ausgeprägten Überdosierung zu einer Atemdepression. Sauerstoff trocknet dagegen die Mund- und Nasenschleimhäute aus, führt zu Durstgefühlen und wirkt nicht auf die Luftnot. Übelkeit und Erbrechen können bei neurologisch Erkrankten auch durch erhöhten Hirndruck verursacht sein (z.B. bei Hirntumor, Hirnmetastasen, raumforderndem Schlaganfall). Deshalb steht dann die Therapie des Hirndrucks z.B. mit Steroiden im Vordergrund.

Kommunikation

Eine besondere Herausforderung stellen die kognitiven und sprachlichen Einschränkungen oder Bewusstseinsstörungen vieler neurologisch erkrankter Palliativpatienten dar. Bei Alzheimerdemenz ist z.B. die Intellektualität reduziert, dafür aber meist eine ausdrucksstarke Emotionalität vorhanden. Validation kann dann einen wertschätzenden Dialog einzugehen, der die emotionalen Fähigkeiten anspricht. Bei Bewusstseinsstörung ist eine Kommunikation über Berührungen häufig möglich. Durch Basale Stimulation kann man auch im Koma oder Wachkoma einen körpernahen Dialog aufbauen. Neuro-Palliative Care bedarf daher differenzierter Herangehensweisen, um trotz der Veränderungen in einen Dialog mit den betroffenen Menschen zu treten.

Vorsorgeplanung und ethische Entscheidung

Vorsorgeplanung bietet gerade für neurologisch Erkrankte die Möglichkeit, trotz drohender kognitiver Einschränkungen Autonomie zu erhalten. Vorsorgeplanung bedeutet zuallererst, den Dialog über zukünftige Situationen zu führen. Aus diesem Dialog mit An- und Zugehörigen, behandelnden Ärzten, Pflegenden und anderen Gesundheitsberufen können eine Patientenverfügung bzw. eine Vorsorgevollmacht oder sogar eine differenziertere ACP-Dokumentation entstehen. Wichtig ist, dass wirklich die individuellen Haltungen, Wünsche und Lebenseinstellungen klar werden, was derzeit bei Standardpatientenverfügungen meist kaum der Fall ist. 

Da neurologisch erkrankte Menschen durch kognitive, sprachliche oder Bewusstseinsstörungen oft nicht über sich entscheiden können, ist häufig eine stellvertretende Entscheidung erforderlich. Wichtig ist es, dass auch aktuelle körpersprachliche Willensäußerungen, die dem sogenannten natürlichen Willen entsprechen, in einem Gesamtkonzept berücksichtigt werden. Es geht darum alle von den Betroffenen erhältlichen Informationen zu einem Ganzen zusammenzufügen.

An- und Zugehörige

Da fortgeschritten neurologisch Erkrankte meist über längere Zeit an erheblichen körperlichen Behinderungen und kognitiven Einschränkungen leiden, unterliegen Angehörige vielfältigsten Belastungen. Sie sind oft selbst rund um die Uhr in die Pflege ihrer Nächsten eingebunden und haben dann keine Zeit mehr, ihre sozialen Kontakte aufrecht zu erhalten. Aufgrund der kognitiven Veränderungen haben sie in vielen Fällen ihren Angehörigen als kompetenten (Gesprächs- und Lebens-) Partner verloren und müssen für ihn nun stellvertretend entscheiden. Sie geraten deshalb leicht in ausgeprägtere Überforderungssituationen, Einsamkeit und Burnout. Daher bedürfen sie unserer besonderen Unterstützung und Betreuung. Erholungspausen müssen mit Ihnen gemeinsam geplant werden (z.B. freie Abende oder Kurzurlaube etc.). Hospizliche Begleitung kann Angehörige auf ihrem schwierigen Weg des Abschieds und der Trauer unterstützen. 

Versorgungsformen

Schwerpunkte der Neuro-Palliative Care dürften aufgrund der kognitiv-sprachlichen Veränderungen in der stellvertretenden Entscheidung, in der andersartigen Schmerz bzw. Symptomerfassung und -behandlung, in der andersartigen End-of life Care liegen. Auch ausgeprägte körperliche Einschränkungen bedürfen besonderer Herangehensweisen. Neuro-Palliative Care ist nicht nur am Lebensende sinnvoll, sondern kann frühzeitig je nach Bedürfnislage parallel zu anderen Interventionen beginnen. Diese Parallelität erfordert vernetztes Arbeiten zwischen den Akteuren und eine Weiterentwicklung von Strukturen der palliativen Mitbetreuung dort, wo die Betroffenen leben.

Dr. med. Christoph Gerhard

Dr. med. Christoph Gerhard. Arzt für Neurologie, Palliativmedizin und spezielle Schmerztherapie, Master und Trainer Palliative Care, Wissenschaftlicher Leiter der Niederrheinischen Akademie und der SAPV Niederrhein in Dinslaken, Hochschuldozent in Münster, Zürich und an der schweizerischen Hochschule für Gesundheit. Ehemaliger Chefarzt der Palliativmedizin am Katholischen Klinikum Oberhausen, Weiterbildungsbefugter für Palliativmedizin der Ärztekammer Nordrhein und Kursleiter der DGP.

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