Bei der zieloffenen Gruppentherapie gibt es keinen festen Ablauf, sondern es wird auf aktuelle Anliegen der Patienten eingegangen. Doch was muss man beachten, damit eine solche Intervention gelingt? Dr. Michael Marwitz gibt hier einen kurzen Einblick in die anliegenbezogene verhaltenstherapeutische Gruppentherapie (AVG).
In Kliniken ist es häufig notwendig, Patienten mit unterschiedlichen Störungen und Problemen gemeinsam gruppentherapeutisch zu behandeln. Statt störungs- oder problemspezifischen Gruppenangeboten (z.B. zur Sozialen Phobie oder Stressbewältigung) kann in diesen Fällen eine zieloffene Gruppentherapie durchgeführt werden. Diese ermöglicht auch jederzeit den Einstieg von neuen Teilnehmern, wenn jemand die Gruppe verlässt (z.B. weil er entlassen wird). Ein didaktischer Aufbau der Sitzungen ist in solchen halboffenen Gruppen natürlich nicht möglich. Stattdessen folgen sie dem "Ein-Sitzungs-Konzept": Jede Sitzung steht für sich, und eine aktiv Teilnahme setzt kein Vorwissen bezüglich der vorangegangenen Sitzungen voraus. Dies erfordert thematische Flexibilität bzw. Zieloffenheit und eine Orientierung an den individuellen, störungs- und problemrelevanten Anliegen, die die Gruppenmitglieder beschäftigen.
Aus diesem Grund erscheint mir der Begriff der anliegenbezogenen verhaltenstherapeutischen Gruppentherapie (AVG) am besten geeignet, dieses Gruppenformat zu beschreiben. Ein zentrales Merkmal der AVG besteht darin, dass jede Sitzung mit einer sogenannten Orientierungsrunde beginnt. Jeder Teilnehmer kann darüber berichten, was ihn beschäftigt, und ein konkretes Anliegen äußern, das er gerne in der Sitzung bearbeiten würde. Pro Sitzung können etwa ein bis zwei Themen behandelt werden. Werden mehr Anliegen genannt, ist eine Auswahl notwendig. Außerdem schließt jede Sitzung mit einer Abschlussrunde, in der die Teilnehmer der Gruppe mitteilen können, wie sie die Sitzung erlebt haben und was sie für sich mitnehmen.
Verglichen mit manualisierten Gruppentherapien weist die AVG einen geringeren Strukturierungsgrad auf und stellt deshalb für den Gruppenleiter auch eine größere Herausforderung dar. In der Regel weiß er zu Beginn der Gruppensitzung nicht, welcher Patient welches Anliegen einbringen wird und welche Methode er einsetzen wird, um dieses zu bearbeiten. Mit anderen Worten: Abgesehen von der Orientierungs- und Abschlussrunde, die den Rahmen der Sitzungen bilden, ist der Inhalt, der Ablauf und der Ausgang der Sitzung offen.
Die Gruppe als Auffangnetz
Grundsätzlich ist eine produktive Bearbeitung individueller Anliegen überhaupt nur dann möglich, wenn innerhalb der Gruppe ein kohäsives Klima gegeben ist, das durch Vertrauen, Bereitschaft zur Selbstöffnung, Respekt und Wertschätzung gekennzeichnet ist. Um ein solches Klima zu schaffen, sollte der Therapeut in den ersten Sitzungen oder beim Wechsel von Gruppenmitgliedern strukturierte Aktivitäten (Kennenlern- und Auflockerungsspiele, Kleingruppenarbeiten) einplanen. Kohäsive Gruppen bilden eine Art "Auffangnetz", das es den Gruppenmitgliedern ermöglicht, das Risiko, eigene Anliegen in die Gruppe einzubringen, einzugehen. Dies setzt jedoch eine ausreichende Zeit gemeinsamer Gruppenarbeit voraus, so dass für die AVG mindestens 12 bis 15 Sitzungen à 90 oder 100 Minuten eingeplant werden sollten. Steht diese Zeit nicht zur Verfügung, sind manualisierte Gruppenformate meist effektiver.
Anliegen bearbeiten und Probleme lösen
Bei der Bearbeitung individueller Anliegen sollte ein hinreichendes Maß an Problemaktualisierung im Sinne Grawes gegeben sein. Anliegen können dann konstruktiv thematisiert werden, wenn sie für den Betroffenen
relevant und zentral sind,
eine angemessene "emotionale Ladung" aufweisen und
verständlich formuliert sind.
Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, das Anliegen gemeinsam mit der Gruppe in eine bearbeitbare Problemstellung zu überführen. Diese ist durch einen aversiven Ist-Zustand und einen erwünschten Soll-Zustand definiert. Dabei sind die Mittel, diesen zu erreichen, dem Patienten zunächst meist nicht bekannt oder die vorhandenen reichen nicht aus. Probleme im Kontext psychischer Störungen erweisen sich meist als komplex, so dass der komplette Problemlöseprozess nicht in einer Gruppensitzung durchlaufen werden kann. Viel häufiger gilt es schrittweise,
den Ist-Zustand herauszuarbeiten,
realistische und erreichbare Ziele zu definieren und
die Mittel zu erarbeiten, um diese zu erreichen.
Während das Ergebnisziel in der Lösung des Problems liegt, besteht das Sitzungsziel darin, sich dem Ergebnisziel soweit anzunähern, wie es in einer Gruppensitzung möglich ist. So könnte ein Gruppenmitglied mit seiner Lebenssituation unzufrieden sein, ohne den Ursprung dieser Unzufriedenheit angeben zu können. In diesem Fall könnte ein Sitzungsziel darin bestehen, eine genauere Vorstellung davon zu entwickeln, worin diese Unzufriedenheit besteht und wodurch sie bedingt wird (= Ist-Zustand). Gelingt dies, lässt sich wahrscheinlich auch ein Ziel-Zustand ableiten, der beispielsweise im Rahmen einer Hausaufgabe definiert werden kann.
Klärung oder Problembewältigung?
In den meisten Fällen legt die Erarbeitung des Ist- oder des Soll-Zustandes ein klärungsorientiertes Vorgehen nahe, bei dem emotionsaktivierende Techniken zum Einsatz kommen, wie
diagnostisches Rollenspiel,
Arbeit mit dem leeren Stuhl oder
Aufstellungen (Gruppenmitglieder als Stellvertreter für Bezugspersonen oder Selbstanteile).
Wenn dagegen vor allem die geeigneten Mittel fehlen, den Soll-Zustand zu erreichen, erweisen sich Techniken der aktiven Problembewältigung als zielführend, wie
Rollenspiele,
Verhaltensproben,
kognitive Umstrukturierung oder
Verhaltensanalysen.
Grundsätzlich sollte sich der Therapeut zunächst einmal überlegen, welches Vorgehen er in der Einzeltherapie wählen würde und dieses dann zusammen mit den Gruppenmitgliedern realisieren. Bei einer Verhaltensanalyse kann er die Gruppe z.B. dazu anleiten, diese mit ihm zusammen in Form einer gemeinsamen Exploration mit Feedback durchzuführen. Alternativ können Gruppenmitglieder auch als Stellvertreter die Variablen eines SORK-Schemas darstellen, um so die Erlebnisorientierung zu erhöhen.
Die Gruppendynamik nutzen
Die Aufgabe des Therapeuten ist es, dem Thema einen Rahmen und dem Prozess eine Richtung zu geben. Auf diese Weise kann er die Gruppendynamik nutzen, um eine konstruktive Anliegenbearbeitung zu gewährleisten.
Bringt eine Patientin beispielsweise einen Konflikt mit ihrem Partner als Anliegen in die Gruppe ein (= "das Thema"), so hängt die entstehende Gruppendynamik auch davon ab, welche Intervention (= "der Rahmen") der Therapeut für die Bearbeitung auswählt. So kann er die Fokuspatientin etwa dazu anleiten, ein kurzes Rollenspiel durchzuführen, in dem sie selbst die Rolle ihres Mannes übernimmt. Alternativ kann er sie auch dazu anregen, sich vorzustellen, ihr Mann säße ihr auf einem (leeren) Stuhl gegenüber, um ihm dann ganz offen und direkt mitzuteilen, was sie an ihm stört. Im ersten Fall wird die Gruppe (auch) für die Sichtweise des Partners sensibilisiert, wohingegen im letzteren vor allem das Erleben der Fokuspatientin Raum einnimmt. Im ersten Fall könnte in der Gruppe der Gedanke entstehen, dass es stets zwei Beteiligte für einen Streit braucht, wohingegen im letzteren Fall eher eine Solidarisierung mit der Fokuspatientin erfolgt.
Grundsätzlich sollte sich die Auswahl der Intervention deshalb nicht nur am Anliegen orientieren, sondern auch die Gegenpole Akzeptanz und Veränderung in Abhängigkeit von der Therapiephase und der Position des Fokuspatienten in der Gruppe ausbalancieren. Je nachdem wird die entstehende Dynamik dann als Unterstützung durch die Gruppe oder als Gruppendruck erlebt. Wählt der Therapeut die Intervention gut aus, kann die Anwesenheit der anderen Gruppenmitglieder so eine starke positive Wirkung entfalten.hm
Dr. Michael Marwitz
Dr. Michael Marwitz ist Leiter Therapie des Fachzentrums Psychosomatik in der Schön Klinik Roseneck.
Seit 2001 ist er Supervisor und Dozent an verschiedenen Verhaltenstherapieinstituten.
Seine Arbeitsschwerpunkte sind Gruppentherapien und die Behandlung von Persönlichkeitsstörungen.