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Autismusdiagnostik bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung

Noch immer gelingt es nicht, mit bildgebenden oder labordiagnostischen Methoden einen Autismusverdacht zu sichern. Dennoch ist es insbesondere bei Menschen mit geistiger Behinderung notwendig, durch eine umfassende körperliche und neurologische Untersuchung und ggf. ergänzender Verfahren (EEG, cMRT, genetische Diagnostik) klinisch u. U. ähnlich imponierende Störungsbilder wie z. B. eine Gehörlosigkeit oder einen bestimmten genetischen Verhaltensphänotypen (z. B. Fragiles X Syndrom; Rett Syndrom) auszuschließen. Generell wächst die diagnostische Herausforderung mit dem Schweregrad der geistigen Behinderung.

Entsprechend den aktuellen diagnostischen Kriterien DSM-5 und ICD-10 ist Autismus eine phänomenologische Summationsdiagnose, die anhand des aktuellen klinischen Befunds und Verlaufs gestellt wird. Durch die Anwendung standardisierter Untersuchungsinstrumente kann der diagnostische Prozess strukturiert und ein Stück weit objektiviert werden. Die Anwendung dieser psychodiagnostischen Verfahren kann den Kliniker in der richtigen diagnostischen Einschätzung unterstützen. Unabhängig von allen konkreten Testergebnissen erfolgt die endgültige diagnostische Einordnung am Ende klinisch. Innerhalb von interdisziplinären Fallkonferenzen können alle vorliegenden Längs- und Querschnittsinformationen zusammengetragen und diskutiert und eine Konsensusdiagnose gestellt werden. Diese Diagnostik ist nur in einer Phase körperlicher und seelischer Gesundheit sinnvoll, da zusätzliche Erkrankungen das Bild deutlich beeinträchtigen und dadurch die Einordnung erschweren können. Abbildung 1 fasst die beteiligten Professionen und in einer Fallkonferenz diskutierten Informationen zusammen.

Der diagnostische Prozess kann in eine Screeningphase und eine Phase zur Diagnosesicherung untergliedert werden.

Diagnostische Fallkonferenz

Screening

Zum Screening stehen mittlerweile spezifische Verfahren für Erwachsene mit geistiger Behinderung und Autismusverdacht zur Verfügung: Der Diagnostische Beobachtungsbogen für Autismus-Spektrum-Störungen - Revidiert (DiBAS-R) kann als erstes Instrument nahen Bezugspersonen ausgehändigt werden. Es handelt sich dabei um einen 19 Items umfassenden 4-stufigen Fragebogen, der ohne spezifische Fachkenntnis zu Autismus ausgefüllt werden kann. Ergänzend kann vom behandelnden Arzt oder Psychologen im Rahmen einer Visitensituation die ICD-10 basierte Autismus-Checkliste (ACL) ausgefüllt werden. Beide Screeningverfahren sind mit einem geringen zeitlichen Aufwand von ca. 10 Minuten auszufüllen und auszuwerten. Die Skala zur Erfassung der Autismusspektrumstörung bei Minderbegabten (SEAS-M) ist ein etwas aufwändigeres Screeninginstrument. Dabei werden professionelle Bezugsbetreuer durch ein semistrukturiertes Interview von einer psychologischen Fachkraft befragt. Diese Skala ist in ihrer Originalsprache umfassend psychometrisch untersucht und validiert worden.

Diagnosesicherung

Nach Erhebung der Screeninginstrumente werden innerhalb einer ersten multiprofessionellen Fallkonferenz alle verfügbaren aktuellen und anamnestischen Daten zusammengetragen. In dieser Fallkonferenz sollte festgelegt werden, welche weiterreichenden Untersuchungen nötig sind, um die Diagnose zu sichern bzw. auszuschließen. Umfassende, standardisierten Verfahren wie das Autism Diagnostic Interview-Revised (ADI-R) und  der Autism Diagnostic Observation Schedule (ADOS) sind mittlerweile auch für Erwachsene mit Intelligenzminderung validiert worden und können hier entsprechend den Empfehlungen der NICE-Leitlinien eingesetzt werden.

Videoanalyse: Verhalten in gewohntem Umfeld analysieren

Darüber hinaus ist eine Videoanalyse sehr zu empfehlen, um einen Einblick in die Verhaltensweisen des Betroffenen im gewohnten Lebensumfeld mit vertrauten Menschen und Dingen zu bekommen. Dabei werden Bezugspersonen gebeten, den Probanden in unterschiedlichsten Lebenssituationen z.B. beim Essen, in Gruppensituationen, in der Freizeit, beim Arbeiten oder auch bei hauswirtschaftlichen Tätigkeiten zu filmen. Anhand einer Mikroanalyse des Filmmaterials durch die mit dem Störungsbild vertrauten Experten können wertvolle Hinweise im Hinblick auf die Autismusdiagnose gewonnen werden. Eine Weiterentwicklung des ADOS speziell für Erwachsene mit Intelligenzminderung, der Adapted-ADOS (AADOS) und ein auf musikalischer Interaktion basierendes, dem ADOS ähnliches Verfahren, die MUSAD (MUsik basierte Skala zur Autismus Diagnostik) befinden sich aktuell in der Validierung. Die Erfassung des kognitiven Leistungsprofils und des emotionalen Entwicklungsstands (SEO) sowie die Erhebung des Entwicklungs- und Verhaltensprofils (PEP-R; AAPEP ) liefern darüber hinaus wertvolle Informationen zur Gesamteinschätzung und können den diagnostischen Prozess unterstützen. Neben den Eltern können alte Arztbriefe, Zeugnisse oder Entwicklungsberichte wichtige Informationen zur frühkindlichen Entwicklung bieten. Abbildung 2 faßt den Ablauf des diagnostischen Prozesses zusammen.

Abb. 2: Diagnostisches Procedere

Die in der Fallkonferenz erarbeiteten Ergebnisse sollten z.B. im Rahmen von Helferkonferenzen den Betroffenen und ihren Familien und Betreuenden mitgeteilt werden, um das Behandlungs- und Umgangskonzept entsprechend den individuellen Ergebnissen anzupassen und ggf. ein Autismus-freundliches Umfeld zu gestalten. Sollten schwere Verhaltensauffälligkeiten oder gar psychische Erkrankungen auf dem Boden einer unerkannten Autismus-Spektrum-Störung entstanden sein, kann die Diagnostik dazu beitragen, dass aus psychisch kranken Menschen mit Autismus gesunde Menschen mit Autismus werden.

Tanja Sappok

Priv.-Doz. Dr. med. Tanja Sappok leitet als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Neurologie und Nervenheilkunde das Berliner Behandlungszentrum für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung am Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge.

Im Sommer 2014 habilitierte sie an der Charité über Autismusdiagnostik bei Erwachsenen mit Intelligenzminderung. Ein weiterer wissenschaftlicher Schwerpunkt ist der emotionale Entwicklungsansatz (SEO) und dessen Bedeutung für das Erleben und Verhalten von Personen mit geistiger Behinderung. Im Rahmen des Networks of Europeans on Emotional Development (NEED) entwickelte sie die Skala der emotionalen Entwicklung – Diagnostik (SEED; Hogrefe 2018). Sie lehrt an der medizinischen Fakultät der Charité im Fach Psychiatrie und publiziert diverse wissenschaftliche Fachbeiträge. Sie ist Autorin mehrere Fachbücher. Hogrefe ist von ihr unter anderem Das Alter der Gefühle erschienen.

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