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Bildung – Zukunftsthema unserer Gesellschaft

Die Bildungspsychologie beschäftigt sich aus psychologischer Perspektive mit Bildungsprozessen über die gesamte Lebensspanne. Das Lehrbuch „Bildungspsychologie“ erscheint nun in einer substanziell überarbeiteten Version. Wir haben zu diesem Anlass mit den Herausgeber*innen über die Neufassung des Buchs und die Entwicklung der Bildungspsychologie gesprochen.

Die erste Auflage des Lehrbuchs ist 2010 erschienen. Was sind die wichtigsten Neuerungen der aktuellen Auflage, was hat sich in den rund 12 Jahren geändert?

Die Resonanz auf das 2010 erschienene Lehrbuch sowie die Rezeption waren so positiv, dass wir uns entschieden haben, erneut ein Lehrbuch zur „Bildungspsychologie“ herauszugeben. Bei der Neuausgabe handelt es sich um eine substanziell überarbeitete Version, die weit über die Aktualisierung der Literatur hinausgeht. Gleichgeblieben ist der Aufbau der Kapitel: Zuerst wird ein allgemeiner Überblick gegeben, der den Stand der Wissenschaft zusammenfasst. Danach werden zentrale Theorien, Modelle und empirische Befunde dargestellt, die die praktische Bedeutsamkeit des Themas beleuchten, sowie ein Ausblick auf künftige Herausforderungen und Aufgaben für die Bildungspsychologie gegeben. Abschließend werden die zentralen Aussagen des Beitrags zusammengefasst und Reflexionsfragen formuliert. Diese beiden Aspekte sind neu und sollen den Einsatz des Buchs in der Lehre unterstützen. Ein weiterer zentraler Unterschied zum 2010 erschienen Buch ist, dass Illustrationen und Beispiele in die Kapitel bereits integriert sind und nicht in extra Kapiteln vorgestellt werden, wodurch das Buch auch deutlich kompakter geworden ist.

Das Lehrbuch ist in drei Teile gegliedert, könnten Sie kurz umreißen, welche diese sind und welche Inhalte dort zu finden sind?

Eine Besonderheit des Buches besteht in seinem systematischen Aufbau, der dem Strukturmodell der Bildungspsychologie entspricht. In diesem Modell sind die Themenfelder der Bildungspsychologie entlang von drei Dimensionen strukturiert, die den thematischen Rahmen des Faches abstecken. Die Dimensionen umfassen die verschiedenen Phasen einer individuellen (I) Bildungskarriere, welche die gesamte Lebensspanne vom Säuglings- und Kleinkindalter bis zum höheren Erwachsenenalter inkludiert und damit Lebenslanges Lernen ins Zentrum stellt, die (II) Aufgabenbereiche der Bildungspsychologie sowie die (III) Handlungsebenen, auf denen diese Aufgaben zu leisten sind: Makroebene (Ebene der bildungspolitisch relevanten Gesamtsysteme), Mesoebene (Ebene der Institutionen), Mikroebene (Ebene der individuellen Bedingungen).

Wie kann psychologisches Handeln im Feld der Bildung eingeordnet werden?

Die Dimension „Aufgabenbereiche“ des Strukturmodells der Bildungspsychologie differenziert psychologisches Handeln im Feld der Bildung. Die fünf Aufgabenbereiche der Bildungspsychologie umfassen die Tätigkeitsfelder Forschung, Beratung, Prävention, Intervention sowie Bildungsmonitoring und Evaluation. Diese Aufgabenbereiche sind gleichberechtigte Tätigkeitsfelder und repräsentieren gemeinsam das inhaltliche Aufgabenspektrum der Bildungspsychologie und damit psychologisches Handeln im Feld der Bildung.

Wer kann das Lehrbuch nutzen, ist es auch außerhalb des Studiums der Bildungspsychologie anwendbar?

Das Buch wendet sich an Wissenschaftler*innen, die im Bildungsbereich forschen, an Lehrende und Studierende der Psychologie bzw. verwandter Studienrichtungen, an Lehramtsstudierende aller Richtungen, an praktisch tätige Psychologen*innen und Lehrkräfte sowie weitere Personen, die in Bildungseinrichtungen arbeiten oder sich allgemein mit psychologischen Aspekten des Bildungsgeschehens auseinandersetzen wollen.

„Lebenslanges Lernen“ ist ein wichtiges Stichwort, aber wie kann Bildung im Alter aussehen und gefördert werden?

Wie im Lehrbuch ausgeführt wird, stehen altersabhängige Veränderungen auf psychologischer Ebene (Kognition, Motivation, sozio-emotionale Fähigkeiten) der Beteiligung älterer Menschen an Bildungsaktivitäten wenig im Wege. Dies legt nahe, dass auch im höheren Erwachsenenalter erfolgreich gelernt werden kann. Um solche Erfolge zu unterstützen, gilt es Bildungsangebote an altersabhängige Veränderungen in der Verarbeitungskapazität und -geschwindigkeit anzupassen. Hinzu kommt, dass der Erwerb von neuem Wissen und neuen Fertigkeiten im Alter anstrengender wird und daher stärker von der Lernmotivation abhängig ist. Entsprechend wichtig ist es, den motivationalen Voraussetzungen und der Lebenssituation älterer Menschen in der Gestaltung von Bildungsangeboten gerecht zu werden. So sind Lernformen wichtig, die eine aktive und die eigene Erfahrung nutzende Aneignung von Lerninhalten ermöglichen, eine positive Wahrnehmung der eigenen Kompetenz fördern und auf persönlich bedeutsame Ziele ausgerichtet sind. Eine Einteilung der Kursangebote nach altersspezifischen Zielgruppen ist dabei jedoch eher nicht hilfreich. Vielmehr besteht die Gefahr, dass Angebote nur für Ältere zu Ladenhütern werden.

Die Pandemie hat Defizite im Bereich der Digitalisierung aufgezeigt, aber auch beim „selbstregulierten Lernen“, was sollte sich hier ändern?

Das Lehrbuch greift Digitalisierung sowie insbesondere selbstreguliertes Lernen (SRL) an vielen Stellen auf. SRL stellt eine wichtige Voraussetzung für Lebenslanges Lernen bis ins höhere Erwachsenenalter dar, im Speziellen auch für den Erwerb von digitalen Kompetenzen. Die Schule sollte den Grundstein dafür legen. Wie sich jedoch nicht zuletzt in der Pandemie gezeigt hat, gelingt dies nicht ausreichend. Es gilt daher SRL als Prozess systematisch in alle Unterrichtsfächer zu integrieren und ausreichend Lerngelegenheiten zur Förderung der entsprechenden Voraussetzungen (wie z.B. Selbstwirksamkeit) und Kompetenzen (z.B. Einsatz von Lernstrategien, Aufrechterhaltung der Lernmotivation) zu schaffen.

Welche Rolle spielt die Vernetzung mit anderen Disziplinen?

Mit ihrem Aufbau liefert die Bildungspsychologie eine tragfähige, verständliche und praktisch verwendbare Rahmenstruktur zur Verortung bildungspsychologischen Handelns, welche mittlerweile auch für andere Disziplinen im Bildungsbereich, z.B. die Erziehungswissenschaften, diskutiert wird. Wir gehen davon aus, dass das Strukturmodell es explizit gestattet, Schnittstellen mit anderen Disziplinen, wie z.B. mit der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, sowie Felder interdisziplinärer und multidisziplinärer Aktivitäten systematisch zu identifizieren und darzustellen und damit auch die Vernetzung mit anderen Disziplinen explizit zu fördern.

Bildung ist gesellschaftlich hochrelevant, was kann Bildungspsychologie bewirken und werden Ihre Vertreter*innen genügend in den Diskurs eingebunden?

Bildung ist aus unserer Sicht eines der wichtigsten Zukunftsthemen unserer Gesellschaft. Denn Investitionen in Bildung haben positive Effekte auf so gut wie alle anderen Politikfelder. Personen mit höherer Bildung leben länger und gesünder, sind seltener arbeitslos, gehen später in Rente, verdienen mehr, sind Demokratie- und Klima bewusster, etc. Jedoch dauert es i.A. sehr lange, bis Maßnahmen im Bildungsbereich ihre Wirkungen zeigen – zumeist mehrere Legislaturperioden. Als Konsequenz engagieren sich Politiker*innen nicht so gerne im Bildungsbereich, da sie bildungspolitische Erfolge nur schwer für sich selbst „verbuchen“ können. Jedoch werden sowohl wir als auch Kolleg*innen von uns immer häufiger sowohl von Medien als auch der Politik in Diskurse eingebunden und um Einschätzungen gebeten. Wir sind daher optimistisch, durch unsere Empfehlungen zu mehr evidenzbasierten Entscheidungen im Bildungsbereich beitragen zu können.

Wo sehen Sie die größten Erfolge der Bildungspsychologie in den letzten Jahren?

Die Konzeption der Bildungspsychologie hat bei ihrer ersten Vorstellung in der deutschsprachigen Psychologie-Community eine intensive Diskussion mit durchaus heterogenen Kommentaren und Reaktionen ausgelöst. Diesen Diskurs haben wir bewusst forciert und aktiv geführt. Sehr positive Kommentare kamen von Anfang an aus der Praxis, wo der Terminus „Bildungspsychologie“ mittlerweile als selbstverständlich akzeptiert ist, sowie von Vertreter*innen benachbarter Disziplinen. In der Zwischenzeit ist die Bildungspsychologie offensichtlich bereits „akzeptiert“. Dies belegen u.a. neue Professuren für Bildungspsychologie im deutschsprachigen Raum. Zusätzlich hat die Bildungspsychologie als „Bildung-Psychology“ auch ihre Aufnahme in angloamerikanische Journals gefunden. Einen Meilenstein für die Visibilität der Bildungspsychologie in der englischsprachigen Scientific Community stellt sicher die Herausgabe des Special Issues „Bildung-Psychology: Theory and practice of use inspired basic research“ im European Journal of Developmental Psychology dar, das auch als Buch veröffentlich wurde.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Portrait von Christiane Spiel.

Univ-Prof. Dr. Dr. Christiane Spiel

Univ.-Prof. Dr. Dr. Christiane Spiel. Studium der Mathematik, Geschichte und Psychologie in Wien. 1980–1989 Universitätsassistentin am Institut für Psychologie der Universität Wien. 1989–1992 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. 1992–1995 Assistenzprofessorin am Institut für Psychologie der Universität Wien. 1995 Habilitation. 1995–2000 Gastprofessur am Institut für Psychologie der Universität Graz. 2000–2018 Professorin für Bildungspsychologie und Evaluation an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Seit 2018 emeritierte Professorin für Bildungspsychologie und Evaluation an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien.

Foto © Gerhard Smolke

 

Univ.-Prof. Dr. Thomas Götz

Univ.-Prof. Dr. Thomas Götz. Studium der Musik und Psychologie in Regensburg und München. 2002–2006 Wissenschaftlicher Assistent und ab 2005 Privatdozent am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie, Diagnostik und Evaluation der LMU München. 2002 Promotion. 2005 Habilitation. 2007–2019 Professor für Empirische Bildungsforschung an der Universität Konstanz und der Pädagogischen Hochschule Thurgau (Schweiz). Seit 2011 Adjunct Professor an der McGill University in Montreal (Kanada) und seit 2019 Professor für Bildungspsychologie und gesellschaftliche Veränderungen an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien.

Prof. PD Dr. Petra Wagner

Prof. (FH) PD Dr. Petra Wagner. Studium der Psychologie in Wien. 1994–2000 Tätigkeit als Schulpsychologin in Niederösterreich. 2000–2006 Universitätsassistentin im Arbeitsbereich Bildungspsychologie und Evaluation der Universität Wien. 2003 Promotion. 2009 Habilitation. Seit 2006 Professorin für Psychologie an der Fakultät für Medizintechnik und Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Oberösterreich.

Assoz. Prof. Dr. Marko Lüftenegger

Assoz. Prof. Dr. Marko Lüftenegger. Studium der Psychologie in Salzburg, Lissabon und Wien. 2012 Promotion. 2013–2017 Universitätsassistent am Institut für Angewandte Psychologie der Universität Wien. 2019 Habilitation. 2017-2021 Assistenzprofessor am Zentrum für Lehrer*innenbildung und der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. 2019 Habilitation. Seit 2021 Assoziierter Professor für Entwicklungs- und Bildungspsychologie des Schulalters am Zentrum für Lehrer*innenbildung und der Fakultät für Psychologie der Universität Wien.
Foto © interfoto

Portrait von Barbara Schober.

Univ.-Prof. Dr. Barbara Schober

Univ.-Prof. Dr. Barbara Schober. Studium der Psychologie in Bamberg. 1994–1996 Psychologisch-technische Assistentin an der Psychiatrischen Klinik der LMU München. 1997–2001 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Psychologische Diagnostik und Evaluation der LMU München. 2001 Promotion. 2001–2007 Universitätsassistentin im Arbeitsbereich Bildungspsychologie und Evaluation der Universität Wien. 2007 Habilitation. Seit 2011 Professorin für Psychologische Bildungs- und Transferforschung an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien.

Empfehlung des Verlags

Bildungspsychologie
Bildungspsychologie

Ein Lehrbuch

herausgegeben von Christiane Spiel, Thomas Götz, Petra Wagner, Marko Lüftenegger, Barbara Schober

 

 

 

 

Das sagt der Dorsch zu:

Bildungspsychologie (= B.) [engl. educational psychology], [PÄD], beschäftigt sich aus psychol. Perspektive mit allen Bildungsprozessen, die zur Entwicklung von Bildungskomponenten (wünschenswerte Persönlichkeitsausprägungen (Persönlichkeitsmerkmal) aus gesellschaftlich-normativer Perspektive) beitragen, sowie mit den Bedingungen, Aktivitäten und Maßnahmen (wie z. B. Instruktion durch Lehrpersonen, Wissensvermittlung durch Medien), die diese Prozesse gemäß psychol. Theorien und Modelle beeinflussen können (z. B. initiieren, aufrechterhalten, unterstützen, optimieren; Spiel et al., 2008). Das Konzept der B. fußt auf einem integrativen Rahmenmodell (= Strukturmodell der B.), das es ermöglicht, psychol. Handeln in dem breiten Feld von Erziehen (Erziehung), Lernen (Lernen) und Bilden systematisch einzuordnen. ...

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