DeutschKlinik und Therapie

Borderline in der Familie

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für ihr soziales Umfeld eine große Herausforderung. Angehörige werden selten in die Therapie mit eingebunden, obwohl dies wichtig und erfolgsversprechend wäre. Mit den DBT-Familienskills werden nun individuelle und beziehungsbasierte Fertigkeiten für Angehörige und für Menschen mit einer Borderline-Störung bereit gestellt. Wir haben mit den Autor*innen Claudia Trasselli, Anne Kristin von Auer und Hans Gunia über die Besonderheiten und Vorteile dieses Programms gesprochen.

Familie mit Borderline-Störung im Gespräch mit Therapeutin

Was sind typische Belastungen von Angehörigen von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS)?

Angehörige sind oft mit suizidalem, selbstverletzendem, hochemotionalem und impulsivem Verhalten von Betroffenen konfrontiert. Da sie selten über ein ausreichendes Wissen über die Erkrankung verfügen und auch nicht über adäquate Bewältigungsstrategien, fühlen sie sich dem Verhalten dann hilflos ausgeliefert. In Paarbeziehungen führt das manchmal zu on-off-Beziehungen, bei denen sich Paare trennen, wieder zusammenkommen, sich wieder trennen usw. In Familien können die Zerwürfnisse zu langanhaltenden Kontaktabbrüchen und/oder zu einer Zermürbung der Beziehungen führen. Eltern von Kindern mit BPS-Symptomen berichten von einer ständigen Angst um die Kinder und einem durchgängig anhaltenden Alarmzustand. Sie sind besonders durch schwere Selbstverletzungen und die Suizidalität ihrer Kinder massiv in Sorge und kaum in der Lage, sich um sich selbst zu kümmern und sich zu regulieren. Alles zusammen führt zu einer starken psychischen Belastung, was letztlich die Wahrscheinlichkeit erhöht, selbst psychisch zu erkranken.

Was bewirken diese Belastungen in den familiären Beziehungen?

Angehörige sind in vielfältiger Weise an dysfunktionalem Verhalten der Betroffenen beteiligt. Manchmal fungiert das Verhalten von Angehörigen, wenn etwa Vorwürfe gemacht werden oder Kritik geäußert wird, als Auslöser für selbstverletzendes Verhalten auf Seiten der Betroffenen. Manchmal wird das Verhalten von Betroffenen ungewollt verstärkt, wenn sich Familienmitglieder etwa besonders dann den Betroffenen zuwenden, wenn diese sich vorher selbst verletzt haben.

Die Belastungen führen oft aber auch zu chronischen Konflikten. Die Beteiligten fühlen sich allesamt unverstanden und den Spannungen hilflos ausgeliefert. Da Bewältigungsmöglichkeiten fehlen, kommt es nicht selten zu Konfliktspiralen, Eskalationen, Kontaktabbrüchen, Trennungen und Scheidungen.

Können Sie die Familienskills kurz beschreiben?

Bei den Familienskills geht es darum, Wissen über die Erkrankung zu erlangen (Psychoedukation), achtsam in der Beziehung zu sein, Gefühle adäquat zu erkennen und ausdrücken zu lernen, dabei auf einen günstigen Zeitpunkt und eine günstige Situation zu achten. Familienmitglieder lernen, starken Ärger und Wut vorbeiziehen zu lassen. Weiterhin geht es darum, Skills kennenzulernen, die geeignet sind, Eskalationen durch Nichtbewerten zu verhindern bzw. zu stoppen und einen Ausstieg aus Konflikten zu ermöglichen. Validierung bedeutet, der anderen Person gegenüber eine ankerkennende, wertschätzende und respektvolle Haltung einzunehmen und in Handlungen und Worten auszudrücken, dass man die Gefühle, Gedanken oder das Verhalten der anderen Person verstehen kann. Durch Validierung und Selbstvalidierung lernen die Teilnehmenden besser mit sich und ihrem Familienmitglied umzugehen. Es entsteht mehr Nähe und Verständnis, Gefühle können besänftigt und Konflikte besser überstanden werden. Durch doppelte Kettenanalysen soll die einzelne Person die Perspektive anderer Familienmitglieder erkennen und Konfliktspiralen durch geeignete Skills stoppen lernen. Last not least lernen Familienmitglieder Problemlösestrategien und Strategien, Beziehungen wieder zu reparieren und durch gemeinsame Aktivtäten wiederzubeleben. Der Einsatz all dieser Skills hat auch einen günstigen Einfluss auf die psychische Gesundheit der Borderline-Betroffenen.

Welche Vorteile haben die DBT-Familienskills gegenüber anderen Methoden der Einbeziehung von Angehörigen?

DBT-Familienskills beinhalten sowohl die Bereitstellung von Wissen über die Erkrankung als auch die Vermittlung adäquater Bewältigungsstrategien. Diese Skills können sowohl von den Betroffenen als auch von den Angehörigen genutzt werden. Sowohl das Wissen über die Regulationsmöglichkeiten als auch die erworbenen Handlungskompetenzen verringern die Belastung der Beteiligten und erhöhen somit das Wohlbefinden in der Familie. Vorteil der DBT-Familienskills ist, dass diese Skills speziell auf Borderline-Betroffene und ihre Angehörigen abgestimmt sind und sich hervorragend mit der DBT-Einzeltherapie verzahnen lassen.

Wie werden die DBT-Familienskills vermittelt, geschieht dies eher in Einzel- oder Gruppensettings?

Die Vermittlung von DBT-Familienskills kann sowohl in Elterngruppen, Angehörigengruppen, gemischten Familiengruppen, Paargruppen als auch in Einzelsitzungen vermittelt werden.

In einem Kapitel beschreiben Sie „Tango Argentino in der DBT“ – was steckt hinter dieser Idee?

In der DBT-Familientherapie ist es uns wichtig, den Familien Achtsamkeit in der Beziehung als Basis für die anderen Skills zu vermitteln. Der Tango Argentino eignet sich aus vielerlei Hinsicht, Achtsamkeit zu erleben. Zum einen ist der Tango Argentino ein Tanz, der per se sehr viele Aspekte von Achtsamkeit beinhaltet. Achtsames Gehen in der Musik, im Rhythmus und im Raum gehören genauso dazu wie die achtsame Wahrnehmung des Gegenübers. Es ist immer wieder spannend, zu erleben, dass die Teilnehmenden bei Tangoübungen nicht nur selbst spüren, ob sie mit ihrer Aufmerksamkeit bei sich selbst, bei dem Gegenüber oder in der Beziehung sind, sondern dass dies auch von außen wahrnehmbar ist.

Wie würden Sie Ihre eigenen Erfahrungen mit den DBT-Familienskills beschreiben, gibt es Dinge, die Sie besonders beeindruckt haben?

Hans Gunia:
Ich bin ein Fan von gemischten Familiengruppen. In diesem Setting profitieren Betroffene sehr von fremden Angehörigen und Angehörige sehr von Betroffenen, die nicht der eigenen Familie angehören. Die ‚Geschichte‘ drängt sich in diesem Setting nicht so in den Vordergrund. Besonders beindruckt mich immer wieder, wie kompetent Betroffene mit DBT-Erfahrung in Familiengruppen auftreten und wie sie sich gegenseitig unterstützen und validieren. Sehr beeindruckt hat mich auch, dass in Online-Familiengruppen selbst junge 10jährige Angehörige sehr gute Fragen stellen und sich aktiv beteiligen.

Kristin von Auer:
In Elterngruppen beeindruckt mich, wie anfangs sehr skeptische Eltern mit der Zeit immer „weicher“ und vertrauensvoller werden und offen über ihre Ängste und Sorgen sprechen. Oft sind die Verläufe der Gruppensitzungen sehr berührend. Die Eltern selbst berichten, wie entlastend es für sie ist, sich mit anderen Eltern verbunden zu fühlen und wie sich Schuldgefühle dadurch verringern, dass andere Eltern von ähnlichen Schwierigkeiten berichten.

Claudia Trasselli:
Die Angehörigen sind oft sozial zurückgezogen oder völlig von Freunden oder Familie isoliert und überzeugt, dass niemand in der gleichen Situation wie sie ist. Durch das Teilen ihrer Erfahrungen in der Gruppe erleben sie häufig zum ersten Mal, dass sie nicht allein sind. Die Stärke, die sie in der Gruppe voneinander bekommen, durch das Wissen, nicht allein mit der Situation zu sein, ist eine große Kraft. Ich freue mich jedes Mal, wenn die Angehörigen im Verlauf der Gruppe Veränderungen in ihren Bewertungen, ihrem Umgang mit Gefühlen, ihrer Beziehung und Lebensqualität wahrnehmen, weil sie Familienskills zu Hause einsetzen. Angehörige, die skillsbasiert handeln, sind unsere Verbündeten in der Therapie und können den Therapieerfolg ihrer Familienmitglieder unterstützen. Darum beindruckt mich besonders, wenn nicht nur die Angehörigen, sondern auch unsere Patientinnen in der Einzeltherapie über Veränderungen im Verhalten ihrer Angehörigen berichten, sie sich besser verstanden fühlen und mehr miteinander reden. Auch wenn es weiterhin Streit gibt, erholen sich beide Seiten schneller davon, weil Betroffene und Angehörige Skills einsetzen.

Dipl.-Psych. Claudia Trasselli

Dipl.-Psych. Claudia Trasselli, geb. 1971, 1996-2003 Studium der Psychologie in Heidelberg. 2003-2004 Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg. 2004-2011 Klinische Psychologin am Psychiatrischen Zentrum Nordbaden, Abteilung Forensische Psychiatrie und Psychotherapie. 2009 Approbation Psychologische Psychotherapeutin, Schwerpunkt Verhaltenstherapie. 2011-2012 Psychologische Psychotherapeutin in der Sigma Therapie GmbH. 2013-2014 Fallführende Psychologin, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Klinik für Forensische Psychiatrie. 2014 Psychologische Psychotherapeutin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin. 2017 ltd. Psychologin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, Institut für Psychiatrische und Psychosomatische Psychotherapie Hochschulambulanz des Adoleszentenzentrums. 2019 Zertifizierte Therapeutin für Dialektisch-Behaviorale Therapie .2021 ltd. Psychologin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin und Adoleszentenzentrum.

Dr. Anne Kristin von Auer

Dr. Anne Kristin von Auer, geb. 1971. 1990–1992 Studium der Psychologie in Düsseldorf, 1993-1996 Studium der Psychologie in Trier. Ab 1996 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum für Psychobiologie und Psychosomatik der Universität Trier. 1999 Promotion. 1996 – 2003 Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin am Eifeler-Verhaltenstherapie-Institut in Daun. 1999-2003 Anstellung als Diplom-Psychologin in der kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung des Mutterhauses der Borromäerinnen in Trier. 2003-2012 Anstellung als Diplom-Psychologin in der Vorwerker Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik in Lübeck, seit 2008 leitende Psychologin. Von 2012-2018 tätig in eigener Praxis in Hamburg Rahlstedt. Seit 2019 angestellt als leitende Psychologin in der Vorwerker Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik in Lübeck. Schwerpunkt: Dialektisch-Behaviorale-Therapie für Adoleszente (DBT-A). DBT-A-Therapeutin, -Trainerin und -Supervisorin.

Hans Gunia

Hans Gunia, geb. 1956. 1979–1987 Studium der Psychologie in Darmstadt. 1988-2014 Anstellung als Klinischer Psychologe im PKH Riedstadt. Ebenfalls seit 1988 Niederlassung in eigener Praxis als Verhaltenstherapeut in Darmstadt. Lehrtherapeut und Supervisor in Verhaltenstherapie und Dialektisch Behavioraler Therapie (DBT). Lehraufträge zu den Themen Dialektisch Behaviorale Therapie, Verhaltenstherapie bei Psychosen und Kognitive Verhaltenstherapie. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen zu den Themen: Verhaltenstherapie bei Psychosen, Dialektisch Behaviorale Therapie, Mehrfamiliengruppen in der Behandlung von Psychosen und Borderline Persönlichkeitsstörungen, Tango in der Verhaltenstherapie. Präsident der deutsch-argentinischen Gesellschaft für Verhaltenstherapie.

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Was sagt der Dorsch zu:

Borderline-Störung (= B.) [engl. borderline (personality) disorder; borderline Grenzlinie], [KLI], obgleich Freud (schon 1925 die Bez. Borderline (Borderline-Pat.) für die «Grenzfälle», d. h. die «zw. den Neurosen und den Psychosen» stehenden Krankheitsbilder aufgegriffen hat, kommt nach vielfältigen Begriffen wie Als-ob-Persönlichkeiten, Identitätsstörungen, narzisstische Neurosen u. a. die Bez. B. erst neuerdings zur Anerkennung als Krankheitsbild sui generis (O. Kernberg, Christa Rohde-Dachser). In der ICD-Klassifikation ist die B. erst ab der 9. Revision aufgenommen. Grob gefasst handelt es sich um eine Persönlichkeitsstörung, ...