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Corona-Krise: Einblick in den Pflegealltag

Sabine Millius, unsere Interviewpartnerin, ist Pflegefachfrau BScN/ MAS Palliative Care. Sie arbeitet als Dozentin für Palliative Care und als Projektmitarbeiterin am Institut Neumünster im Bereich soziale Einsamkeit. Zudem arbeitet sie Teilzeit als Pflegefachfrau bei der Spitex in Zollikerberg.

Frau Millius, welche Sorgen und Ängste dominieren bei den älteren Personen zurzeit?
Das was viele ältere Menschen aus meiner Sicht zurzeit beschäftigt, sind der Abbruch der sozialen Kontakte, der fehlende Besuch und die Unterstützung durch Angehörige, die von einem Tag auf den anderen weggefallen ist. So können Angehörige zum Beispiel nicht mehr für die älteren Menschen die Wäsche machen. Viele sagen, dass sie so etwas noch nie in ihrem langen Leben erlebt haben, trotz dem Krieg. Einige wenige berichten aber, dass der Krieg noch schwieriger war, denn damals hatten sie nicht mal genug zum Essen. Das hängt also auch von der Lebensgeschichte ab, wie die Situation erlebt wird.

„Alle möchten mehr Klarheit darüber, wie es weitergehen wird“

Was beschäftigt die Menschen außerdem?
Etwas, was die meisten Menschen auch sehr beschäftigt, ist die Dauer des Ausnahmezustandes. Alle möchten gerne mehr Klarheit darüber, wie es weitergehen wird. Der Kontrollverlust spielt hier eine grosse Rolle. Einige machen sich auch Sorgen um ihre Geschwister im Altersheim, wie es denen wohl ergehen würde bei einer möglichen Infektion mit COVID-19.
Die meisten sind sehr froh, dass die Spitex-Mitarbeitenden vorbeikommen und sie mit uns über die Situation sprechen können. Andere wiederum haben Angst vor einer Ansteckung durch das Spitex-Personal, sodass sie ihre Betreuung oder Pflege reduzieren, was natürlich wiederum negative Konsequenzen für ihre Gesundheit haben kann.

Gibt es aus positive Auswirkungen der Corona-Krise?
Ja, es gibt auch positives, das wir in unserem Pflegealltag erleben. So durfte ich miterleben, wie ein Enkel, der sonst nie anruft, bei seiner Grossmutter anrief, um zu fragen, wie es ihr gehe. Die intergenerationale Solidarität nimmt in dieser Situation vielleicht etwas zu.

Wie reagieren Sie als Pflegende auf diese Sorgen? Gibt es in der Kommunikation mit den älteren Menschen deutlich spürbare Veränderungen?
Mein Eindruck ist, dass ein erhöhtes Redebedürfnis vorhanden ist. An die Spitex wird viel herangetragen, gerade Dinge, die man mit Angehörigen vielleicht nicht am Telefon besprechen kann. Nun geht es darum, Trost zu spenden, ein offenes Ohr für die Sorgen zu haben, da zu sein, gerade auch, wenn Angehörige das zurzeit nicht in der üblichen Form können.

Welchen Herausforderungen begegnen Sie in dieser schwierigen Situation in Ihrem Pflegealltag?
Wir benötigen sicherlich mehr Konzentration im Pflegealltag, bedingt durch die Verhaltensregeln und Hygienemassnahmen. Es sind viele kleine Dinge, die zusammenkommen und bei denen man sehr aufmerksam sein muss. Zum Beispiel muss man jetzt nach einem Mitarbeiterwechsel das Fahrzeug zuerst gut desinfizieren, bevor man losfährt, es braucht auch mehr Austausch und Absprachen im Team.

„Was macht man mit einem Alkoholiker, der früher selbst seinen Alkohol einkaufen ging“

Corona beeinflusst Ihre Arbeit aber auch in anderen Bereichen. Was genau hat sich noch verändert?
Wir müssen auch mehr Hilfe im Alltag leisten, zum Beispiel vermehrt für Kunden einkaufen, Medikamente in der Apotheke holen oder ähnliches. Teilweise sind auch Suchtproblematiken im Spiel. Was macht man zum Beispiel bei einem Alkoholiker, der früher selbst seinen Alkohol einkaufen ging? Organisieren wir nun den nötigen Bedarf für ihn oder ist dies nicht vertretbar? Solche Dinge müssen im Team entschieden werden.

Welche Auswirkungen haben die Massnahmen des Bundesrates auf Ihren Pflegealltag? Benötigen Sie für gewisse Aufgaben deutlich mehr Ressourcen?
Praktische Herausforderung birgt das Tragen von Masken. Im Alter gibt es viele Menschen, die unter Schwerhörigkeit leiden und für die die Mimik sowie das Ablesen von den Lippen wichtig ist für die Kommunikation. Dabei kann es sehr herausfordernd für sie und auch für uns sein, gut miteinander kommunizieren zu können. Wir müssen also deutlich lauter und langsamer sprechen.

Schutzmasken können Menschen mit Demenz verängstigen

Ein weiteres Problem betrifft Menschen, die eine demenzielle Erkrankung haben, für sie kann das Tragen einer Schutzmaske beängstigend und verstörend sein.
Neben dieser Auswirkung müssen wir grundsätzlich etwas mehr Zeit einplanen, die Planung des Tagesablaufs und die Einsatzplanung sind verändert, wir haben einen erhöhten Materialverbrauch und müssen manches übernehmen, was vorher Angehörige übernommen haben.
Einige Angehörige, die sich sorgen, möchten wegen des Besuchsverbots Bewohner*innen aus dem Altersheim nehmen, damit diese dort nicht völlig vereinsamen und sie zuhause pflegen. Auch machen sie sich sorgen, dass diese Personen alleine sterben müssen.
Zudem spüren wir, dass Personen, die eine Behandlung im Spital hatten, deutlich früher entlassen werden, damit möglichst viele Betten frei sind. Dadurch entsteht für uns mehr Arbeit.

„Ambulant vor stationär wird in der Krise wirklich gelebt“

Ich habe den Eindruck, der bereits seit vielen Jahren propagierte Grundsatz „ambulant vor stationär“ wird erst jetzt, in dieser Krise, wirklich gelebt. Ausserdem fällt mir auf: bevor jemand ins Spital kommt, wird dieser Spitalaufenthalt sehr genau abgewogen. Ist es wirklich nötig, entspricht es wirklich dem Willen des Patienten? Wird die Lebensqualität dadurch wirklich gesteigert? Wir diskutieren viel stärker als früher, ob eine solche Massnahme Sinn macht, zusammen mit der älteren Person selbst, aber auch mit den Angehörigen. Das ist eine Entwicklung, die eigentlich sehr im Sinne der Palliative Care ist. Da ist es wichtig immer genau nachzufragen. Was sind die Bedürfnisse der älteren Menschen und ihren Angehörigen, was wird unter „gutem Sterben“ verstanden und welche Möglichkeiten haben wir genau?

Guter Teamspirit: „Wir schaffen das“

Wie ist die Stimmung im Pflegeteam und wie reagieren Sie auf diese besonders herausfordernde Situation?
Die Stimmung ist eigentlich sehr gut und geht in die Richtung „wir schaffen das“. Wir erleben einen grossen Teamspirit, viel Zusammenhalt, aber auch eine gewisse Unsicherheit. Man ist sich bewusst, dass man eine grosse Verantwortung hat. Alle Patienten sind Hochrisikogruppen, die Pflegenden selbst haben zuhause ihre Herausforderungen wie z.B. Kinderbetreuung zuhause trotz Schulschliessungen, man setzt sich selber dem Risiko einer Erkrankung aus usw. Trotzdem gibt es einen starken Zusammenhalt und eine positive Grundhaltung.
Was Anlass zu Diskussionen im Team gibt ist der Umstand, dass die letzten 10, 15 Jahre ständig gespart wurde bei der Pflege und wir fragen uns wie es nachher weitergeht. Wird es endlich mehr Wertschätzung für die Pflege geben, wird es nachher für die Politik klarer, was die Bedeutung der Pflege ist?

Personal nicht nur vor COVID-19 schützen, sondern auch vor Burn-out

Welche Empfehlungen geben Sie Pflegenden, Mitarbeiter*innen und Angehörigen für solche und ähnliche Krisensituationen mit?
Wir müssen sicher schauen, dass wir das Pflegepersonal gesund behalten können, gesund nicht nur im Sinne von einer Nicht-Ansteckung durch COVID-19, sondern auch, dass die Belastung für das Personal nicht zu gross wird und wir Burn-outs verhindern können. Gesundheit ist immer mehrdimensional und beinhaltet soziale, psychische und körperliche Aspekte.

Frau Millius, vielen Dank für das Gespräch und den Einblick in den Pflegealltag in Zeiten der Corona-Krise.

Das Gespräch mit Sabine Millius führte Andrea Grünenfelder.

Sabine Millius

Sabine Millius ist Projektmitarbeiterin beim Institut Neumünster. Zudem arbeitet sie freischaffend als Dozentin für Palliative Care. In der Pflegepraxis arbeitet sie Teilzeit als Pflegefachfrau bei der Spitex.

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