Die meisten Schlagzeilen über die COPSY-Studie thematisieren, dass fast jedes dritte Kind während der Pandemie psychische Auffälligkeiten zeigt. Ist das aus Ihrer Sicht tatsächlich das herausragende Ergebnis, d.h. ist diese Zahl so überraschend?
Nein, die Zahl ist nicht überraschend. Schon vor der Pandemie waren es um die 20%. Zugleich muss man ja auch immer einschränkend sagen, dass hier nur von Symptomen, nicht von Störungen gesprochen wird. Das heißt, dass Fragebögen eingesetzt wurden, die zum Teil recht kurz auf Belastung screenen. Damit hat man einen ersten Eindruck über Belastung, aber noch nicht über behandlungsbedürftige Störungen.
Lässt sich absehen, wie viele der Kinder, die jetzt unter psychischen Problem leiden, später tatsächlich therapeutische Hilfe benötigen?
Das ist tatsächlich sehr schwer vorhersagbar. Eine Situation wie die aktuelle gab es ja noch nie. Man kann sich auf die Katastrophenforschung beziehen (z.B. nach Tsunamis, Erdbeben, Bürgerkriegen etc.), die zeigt, dass Belastung nicht nur akut relevant ist. Auch psychische Störungen haben eine Art von Inkubationszeit. So zeigen einige Studien aus diesem Bereich einen Anstieg von psychischen Störungen erst nach 6 Monaten oder sogar 2 Jahren. Auf der anderen Seite beziehen sich diese Studien oft auf andere Kulturen, Gesellschaften und Lebensumstände, sodass die Ergebnisse keinesfalls 1:1 übertragbar sind.
Wenn man sich auf ein Diathese-Stress-Modell bezieht, ist der akute und auch längerfristige Anstieg von psychischen Problemen nachvollziehbar. COVID-19 und die begleitenden Restriktionen bedeuten Belastung, also Stress. Zugleich werden in diesem Modell aber auch Ressourcen einbezogen. Das heißt, selbst wenn COVID-19 und die begleitenden Maßnahmen für alle den gleichen Stress bedeuten würden (was schon nicht gilt), hätte jeder oder jede andere Ressourcen. Genau das gleiche gilt natürlich, wenn COVID-19 als Stressor irgendwann wegfällt. Ich würde somit damit rechnen, dass sich bei vielen Kindern und Jugendlichen, die aktuell belastet sind, die Symptomatik auch wieder gibt (Stress lässt nach und Ressourcen werden wieder frei). Problematisch ist aber, dass eine in Prozentzahlen kleine, aber in absoluten Zahlen recht große Gruppe übrigbleiben wird, die psychotherapeutisch versorgt werden muss. Wenn man bedenkt, dass schon vor der Pandemie Therapieplätze rar waren, ist das natürlich problematisch.
Inwieweit hat die psychische Befindlichkeit der Eltern einen Einfluss auf die Kinder? Die Eltern gaben jetzt in der zweiten Befragung selbst eine höhere Belastung an – könnte sich dies auch auf die Ergebnisse bei den Kindern niedergeschlagen haben?
Es gibt Befunde auch aus der Zeit vor Corona, dass sich Belastung in Familien akkumuliert, d.h. anhäuft. So sind Eltern von ängstlichen Kindern oft auch ängstlich. Genauso sind Kinder von ängstlichen Eltern auch oft ängstlich. Das ist aber natürlich kein zwingender Zusammenhang, da man eine Vielzahl anderer Faktoren (wie zuvor beschrieben die Ressourcen) berücksichtigen muss. D.h., vielleicht gleicht das andere Elternteil gut aus oder es gibt eine tolle Schule oder ähnliches. Wir werden also in der Gruppe vielleicht Zusammenhänge finden – wobei mir aktuell noch keine Studien bekannt sind, was aber mit einem breiten Range einhergehen wird.
Das Gesundheitsverhalten der Kinder hat sich während der Pandemie signifikant verschlechtert, so sind vor allem Bewegungsmangel und erhöhter Medienkonsum zu beobachten. Inwieweit haben diese körperlichen Faktoren Einfluss auf das psychische Wohlbefinden?
Körperliche und psychische Prozesse hängen eng miteinander zusammen. In der Behandlung von depressiven Störungen wird beispielsweise ganz bewusst Bewegung eingesetzt und hilft zur Stimmungsaufhellung. Auch dieser Zusammenhang ist aber nicht zwingend und in beide Richtungen gegeben. Das heißt, man wird nicht sofort depressiv, wenn man sich zu wenig bewegt.
Beim erhöhten Medienkonsum muss man differenzierter schauen: Dieser ist natürlich nicht optimal, aber durch die Umstände natürlich fast zwingend. Unterricht und Kontakte – alles findet online statt. Hier sollte man zum einen unterscheiden, was online gemacht wird: Kontakt und Informationssuche oder Abtauchen in eine andere Realität. Auch das zweite ist eine Zeit lang absolut in Ordnung. Schwierig wird es, wenn reale Kontakte darunter leiden. Genauso wird es natürlich rein zeitlich schwierig, sich draußen zu bewegen, wenn man 14 Stunden pro Tag in Medien verbringt.
Sie haben selbst ein Online-Hilfsprogramm für Eltern und Kinder/Jugendliche entwickelt, welche Angebote können hier gemacht werden und welche werden bisher am ehesten in Anspruch genommen?
Das Hilfsprogramm richtet sich nicht nur an Kinder und Eltern, sondern auch an Erwachsene allgemein. In diesem wird in einem ersten Schritt digital und automatisiert Unterstützung angeboten. Der Chatbot Aury ist geschult in lösungsorientierter Beratung, aber auch in der Vermittlung von Informationen basierend auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen Prinzipien. Aury informiert zum Beispiel zu Schlafstörungen, Ängsten, Sorgen und Konflikten und leitet zu Übungen an. Wenn das nicht ausreicht, steht im zweiten Schritt ein aktuell digitales Gruppenprogramm zur Verfügung, das in wenigen Sitzungen den Austausch mit anderen Betroffenen, aber auch einem*r realen Psychotherapeut*in liefert. In diesem vertiefen wir die Inhalte aus Aury. Aury selbst steht nur Jugendlichen und Erwachsenen zur Verfügung, wobei wir aber davon ausgehen, dass auch jüngere Kinder davon profitieren, wenn ihre Eltern teilnehmen. Wie es in diesem Stepped Care Ansatz auch angedacht ist, nehmen an Aury viele Menschen teil, am Gruppenprogramm dann einige weniger.
(Anm: Die Anmeldung zum Programm ist momentan nicht mehr möglich)
In der öffentlichen Diskussion ging es sehr oft nur um die schulischen Leistungen, die sich durch die Schulschließungen verschlechtern könnten. Spielt die Schule nicht eine mindestens ebenso große Rolle, wenn es um soziale Kontakte geht?
Auf jeden Fall. Bislang wird dies oft übersehen, auch wenn z.B. nur von Schüler*innen und nicht von Kindern und Jugendlichen gesprochen wird. Allein, wenn man Kinder und Jugendliche fragt, was sie an der Schule mögen oder was ihnen wichtig ist, werden sie selten „Mathe“ oder „Englisch“ hören, sondern eher „meine Freunde“, „die Pausen“ etc. Dabei geht es natürlich nicht nur um Spaß. In der Schule geschieht auch soziales Lernen, das heißt, ein Sich-Einfinden in eine Gruppe, Aushandeln von Regeln, Einstehen für die eigene Person etc.
Welche Hilfsangebote könnten Kindern und Jugendlichen jetzt konkret gemacht werden, um die Folgen der Pandemie zu lindern und auch künftig die Resilienz zu stärken?
Wir brauchen niedrigschwellige psychosoziale Angebote, den Einbezug von Kindern und Jugendlichen selbst in die Überlegungen sowie unbedingt eine mehr Förderung von Prävention bis hin zu einem Ausbau von Psychotherapieplätzen. So wurde es auch in einem auch von mir unterzeichneten Offenen Brief an die Bundesregierung gefordert: Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen muss geschützt werden!
Ein vom bvvp (Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten e.V.) initiiertes Bündnis von zahlreichen Verbänden hat teils übereinstimmende 5 Kernforderungen formuliert: Kinder brauchen mehr / Jugend braucht mehr.
Zum Aufbau von Resilienz in Zukunft sollte man generell diesen Blick aufbauen und nicht verlieren: Wie können Kinder und Jugendliche (und auch Erwachsene) nicht nur wirtschaftlich und schulisch erfolgreich sein, sondern persönlich? Was braucht man eigentlich, um zufrieden im Leben zu sein? Wie sehen wir als Gesellschaft Familien und wie unterstützen wir sie? Es braucht hier durchaus auch mehr Forschung und dann aber auch eine Translation dieser Befunde in die Politik und Gesellschaft.
Herzlichen Dank für das Gespräch!