DeutschKlinik und Therapie

Das Leiden am Tinnitus und die Psychotherapie

Obwohl Psychotherapeut*innen in der Regel das nötige Handwerkszeug für die Bewältigung eines Leidens am Tinnitus haben, sind sie in aller Regel nicht der erste Anlaufpunkt für Tinnitus-Patient*innen. Aus guten Gründen gehört eine ausreichende organische HNO-Diagnostik vor eine möglicherweise notwendige psychotherapeutische Behandlung. Dabei gilt es nicht nur, Tumore und andere seltene Ursachen auszuschließen, sondern vor allen Dingen Höreinschränkungen oder Hörschäden auszugleichen, sofern sie relevant für das Leiden am Tinnitus sind - und das sind sie oft.  Unglücklicherweise kommt es aber - auch aufgrund der eingeschränkten Ressourcen in einer HNO-Kassenarztpraxis – nicht so sehr, wie sich dies Patient*innen mit Tinnitus wünschen, zu einem ausreichenden Umgang mit dem Symptom Tinnitus. Dabei könnte der darin enthaltene aufklärende, stützende und psychoedukative Teil bei Patient*innen ohne relevante psychische Belastungen hilfreich sein, wie Studien aus englischsprachigen Ländern zeigen.

Begegnung in der Praxis, dem TRT Team oder Kliniken

Tinnitus-Patient*innen begegnen Psychotherapeut*innen meist erst in Kliniken, die auf Tinnitus spezialisiert sind oder auch Tinnitus im Programm anbieten oder in TRT (Tinnitus Retraining Therapie) Teams. Patient*innen, die von sich aus zum niedergelassenen Psychotherapeut*innen gehen, sind die Ausnahme, allerdings auch Psychotherapeut*innen, die gerne Tinnitus-Patient*innen in der niedergelassenen Praxis aufnehmen. Das liegt auch in der Natur der somatisierenden Erkrankung. Diese beinhaltet definitionsgemäß, dass die Patient*innen eben wenig Zugang für ihre körperlich empfundenen Symptome haben – können.

Wann könnte eine Psychotherapie indiziert sein?

Eine Psychotherapie kann hilfreich sein, wenn das Leiden am Tinnitus maßgeblich durch psychotherapeutisch behandelbare Faktoren aufrechterhalten oder gar bedingt wird. Das hört sich einfacher an als es ist, weil die zweite Voraussetzung: die Einigung auf psychotherapeutische Mittel im Konsens mit der Patientin, dem Patienten, in aller Regel erst erarbeitet werden muss.

Grundlage einer Psychotherapie ist eine biographische oder lerngeschichtliche Anamnese, die – dem Symptom Tribut zollend – auch einmal „indirekt“ über das Erleben der Symptomatik erhoben werden muss. Extrem hilfreich und aussagekräftig ist zur Erfassung der subjektiven Tinnitus-Belastung der Tinnitus Fragebogen (TF) von Goebel und Hiller (1998). Er ermöglicht auch in seiner inzwischen zur Verfügung stehenden Kurzform (Hiller und Goebel 2004) ein Screening für die Angst- und Depressionskomponente.

Ein Beispiel für eine Tinnitus bezogene Verhaltensanalyse bietet ein Arbeitsblatt von D` Amelio in dem Hogrefe Manual (2021). Parallel dazu kann es hilfreich sein, die durch die Patientin, den Patienten ausgelösten Gefühle, Gedanken und Fantasien wahrzunehmen und festzuhalten ohne die Patientin, den Patienten damit – zu früh – zu konfrontieren.

In dem Therapie-Manual von D´Amelio et al 2021 werden umfangreiche Materialien für die Diagnostik, therapeutische Begleitung sowie Unterstützung von Betroffenen mit Tinnitus, mit den „bewährten“ Strategien und Methoden der Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie und Hypnotherapie angeboten. Dementsprechend ist das Manual in drei Schwerpunkt-Kapitel aufgeteilt, geordnet und unterteilt nach den oben genannten psychotherapeutischen Schulen.

Um den spezifischen Anforderungen ganz unterschiedliche Bedürfnisse und Rahmenbedingungen gerecht zu werden, wurden die in jedem Kapitel aufgeführten Diagnostik- und Behandlungs-Module so konzipiert, dass sie in verschiedenen Settings (z.B. offene Gruppe; geschlossene Gruppe; fortlaufende Gruppe; singulärer Workshop; Seminarreihe; Einzelsetting; Gruppensetting) eingesetzt werden können.
Des Weiteren eignen sich die „Module für die Tinnitus-Behandlung“ auch zur monofokalen Bearbeitung von einzelnen Themen (z.B. Stressmanagement; Aufmerksamkeitslenkung; Trauerbewältigung; …), so dass diese auch gezielt in der Prävention einsetzbar sind.

Diese Tools ermöglichen den professionellen Anwender*innen somit nicht nur eine hohe Flexibilität in der Planung und Gestaltung seiner therapeutischen Intervention, sondern auch einen Blick über den „Tellerrand“ hinweg der therapeutischen Schulen, mit der Folge einer möglichen Erweiterung des eigenen Repertoires.

Zahlreiche im Buch enthaltene Arbeitsmaterialien können nach erfolgter Registrierung von der Hogrefe Website heruntergeladen werden.

Literatur:

1. Arbeitsgemeinschaft Deutschsprachiger Audiologen und Neurootologen (ADANO) Leitlinie Tinnitus: www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/017-064.html Stand: 2021
2. Roberto D´Amelio, Helmut Schaaf Detlef Kranz, Module für die Tinnitus-Behandlung Counseling, Psychoedukation und Psychotherapie Hogrefe, 2021. 300 S. Arbeitsmaterialien, nach Registrierung auch online. 39,95 Euro

3. Delb, W., D‘Amelio, R., Archonti, C. Schonecke, O. (2002) Tinnitus. Ein Manual zur Tinnitus-Retrainingtherapie. Göttingen: Hogrefe.
4. Goebel G, Hiller W (1998) Tinnitus-Fragebogen (TF). Ein Instrument zur Erfassung von Belastung und Schweregrad bei Tinnitus. Hogrefe, Göttingen Bern Toronto Seattle
5. Hallam RS, McKenna L, Shurlock L. Tinnitus impairs cognitive efficiency. Int J Audiol 2004; 43(4) 218-26
6. Hallam RS, Rachman S, Hinchcliffle R. Psychological aspects of tinnitus. In: Rachman S. (ed) Contributions to medical psychology. Oxford: Pergamon Press, 1984; 31–54
7. Hesse G (2015) Tinnitus. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme-Verlag, S. 240
8. Hiller, W, Goebel, G (2004) Rapid assessment of tinnitus-related psychological distress using the Mini-TQ International Journal of Audiology 43: 600-604
9. Kranz D (2017): Hypnotherapie bei Tinnitus. Ein Manual. Göttingen: Hogrefe-Verlag
10. Pilgramm M; Rychlik R., Lebisch H., Siedentop H., Goebel, G. Kirchoff D (1999) Tinnitus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine repräsentative epidemiologische Studie. HNO aktuell 7. 261-265
11. Schaaf, H, Eichenberg, Ch, Hesse, G (2010) Tinnitus und das Leiden am Tinnitus. Ein Plädoyer für eine störungsspezifische Betrachtungsweise und ein differenziertes Vorgehen anhand 287 ambulanter und 128 stationär behandelter Tinnitus Patienten.  Der Psychotherapeut.   55: 225 - 232
12. Schaaf, H (2015) Psychosomatik (des Leidens am Tinnitus). In Hesse, G (2015). Tinnitus. Stuttgart Thieme. 93-112
13. Schaaf, H., Seling, B. (2002). Not verschafft sich Gehör. HNO Nachrichten, 8 (4), 16-19.
14. D´Amelio, R., Schaaf, H., Kranz D (2021) Moduläre Tinnitus-Therapie. Ein schulenübergreifendes Manual. Hogrefe, Göttingen
15. Strotzka H. (Hg.): (1978) Psychotherapie, München: Urban & Schwarzenbeck, 2. Aufl., S. 4
16. Svitak, M., Rief, W. & Goebel, G. (2001). Kognitive Therapie des chronisch dekompensierten Tinnitus. Psychotherapeut, 46(5), 317-325
17. Weise C (2011): Tinnitus. Psychotherapeut 56: 61-78

Dr. Helmut Schaaf

Dr. med. Helmut Schaaf istLeitender Oberarzt der Tinnitus-Klinik Dr. Hesse im Krankenhaus Bad Arolsen. Seit 1994 arbeitet er als Oberarzt, Psychotherapie in Bad Arolsen. Er hat mehrere Bücher und wissenschaftliche Beiträge zu Tinnitus, Hyperakusis, Gleichgewicht und Schwindel und Morbus Menière geschrieben.       

Dipl. Psych. Roberto D'Amelio

Dipl. Psych. Roberto D’Amelio,  Psychologischer Psychotherapeut, seit 1994 an der Universität für Psychiatrie und Psychotherapie Homburg/Saar. Er ist Autor mehrerer Manuale und wissenschaftlicher Beiträge zu Tinnitus.

Dipl.-Psych. Detlef Kranz

Dipl. Psych. Detlef Kranz,. Approbierter Psychologischer Psychotherapeut (Verhaltenstherapeut/Klinische Hypnose M.E.G), Fachpsychologe der Medizin in eigener Praxis sowie Klinische Tätigkeit in der Tinnitus Klinik Dr. Hesse.